Im Mai 2019 wäre W.G. Sebald 75 Jahre geworden. Ein ebenso kenntnisreiches wie persönliches Portrait des Schriftstellers in dem das widersprüchliche, komplexe Phänomen Sebald von einem seiner besten Kenner in sieben Zugängen ausgeleuchtet wird. W.G. Sebald starb im Dezember 2001 bei einem Autounfall im Alter von nur 57 Jahren auf dem Gipfel seines Ruhms. Sein unmittelbar zuvor erschienener Roman »Austerlitz« machte den früh schon nach England emigrierten Schriftsteller zu international wichtigsten deutschen Autor. Mit Prosabänden wie »Die Ausgewanderten« und »Die Ringe des Saturn« hatte er in den 1990er Jahren vor allem die englischsprachige Welt begeistert. In Deutschland hingegen wurde Sebald oftmals kritisch gesehen, insbesondere aufgrund seiner literaturkritischen Interventionen und besonders wegen seiner provokativen Thesen zu »Luftkrieg und Literatur«. Uwe Schütte hat bei Sebald studiert und kann auf persönliche Gespräche und Erlebnisse zurückgreifen, um ein kenntnisreichesPortrait dieses schwer zu fassenden Schriftstellers zu zeichnen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2019Doppelt vertrieben
Uwe Schüttes Essays über W. G. Sebald
Erinnerungsprosa, Exilliteratur, Melancholiestudie - die kategorisierenden Beschreibungen zu W. G. Sebalds Werk sind zahlreich in dessen Deutungen, die sich in großen Zuspruch und tiefe Abneigung spalten. In Uwe Schüttes Buch "Annäherungen" ist von der "schwierigen Schönheit" der Literatur von Sebald die Rede. Schütte hat sieben Essays geschrieben, um sich dieser Schönheit und Sebald selbst fern von bewährten Herangehensweisen anzunähern. Wie beim Lesen Sebald'scher Bücher ist man gezwungen, den assoziativen Verknüpfungen des Autors zu folgen: Er setzt dessen literaturkritische Schriften, Interviews und Prosaschriften in Beziehung zu den biographischen Details.
"Im Verlauf seines Lebens hat Sebald gleichsam den zivilisatorischen Quantensprung von naturbestimmter Dorfkindheit zu hypermodernem Urbanismus durchmessen", schreibt Schütte im ersten Essay, "Heimat" betitelt. Er blickt darin auf Sebalds Weg von der bayrischen Provinz auf dessen englischen Lehrstuhl an der Universität in Norwich, wo sich der Schriftsteller aber nie ganz zu Hause fühlte. Diese "Heimatlosigkeit" teilte er mit Jacques Austerlitz aus seinem Roman "Austerlitz", der als jüdischer Flüchtling jeden Tag hatte begreifen müssen, "dass ich nicht mehr zu Hause war, sondern sehr weit auswärts".
Man sieht sich in Schüttes Buch mit einem Autor konfrontiert, der die Verheerungen des zwanzigsten Jahrhunderts in den Schicksalen der Protagonisten seiner Romane aufscheinen lässt und darin zugleich eigene weltanschauliche wie geschichtsphilosophische Positionen einfließen ließ. Schütte charakterisiert diese immer auch auf das Wesen der Menschheit verweisende Verknüpfungsarbeit, wenn er schreibt, "dass sich der Heimat-Begriff für Sebald keineswegs auf die regionale Herkunft und die gesellschaftliche Ebene beschränkte. Er weitete ihn auch stammesgeschichtlich aus, indem er die Natur als die eigentliche Heimat der Gattung Mensch betrachtete. Diese Heimat freilich haben wir durch den Zivilisationsprozess längst schon verloren, in einem Vorgriff quasi auf die Diskreditierung alles Heimatlichen im zwanzigsten Jahrhundert." Und weiter: "Doch die Spezies Mensch, so Sebald, scheint wie besessen von einer vor nichts Halt machenden Zerstörungssucht, die im Grunde schon durch eine naturgeschichtliche Unausweichlichkeit gekennzeichnet ist. Wir alle sind, insofern und in doppelter Hinsicht, Heimatvertriebene."
Die Autoren, die Sebald faszinierten, etwa die Österreicher Thomas Bernhard, Ernst Herbeck und Jean Améry oder der Schweizer Robert Walser, verbindet, dass sich hinter ihrer Literatur auch Kulturkritik verbirgt. Was Sebald selbst von ihnen unterscheidet, ist die Fülle an historischem Material, die er in seinen Texten verarbeitete. Er begab sich, so könnte man sagen, auf literarische Suche nach dem, was er theoretisch schon begriffen hatte. Als Sebald 1966 nach Manchester ging, um dort sein Germanistikstudium abzuschließen, hatte er die Kritische Theorie mit im Gepäck. Sie bildete das Fundament für Sebalds literarischen Anspruch, der ihm erlaubte, in seinen literaturkritischen Schriften und Reden gegen andere Schriftsteller zu polemisieren. Das Werk Alfred Anderschs zerlegte er wegen der passiv partizipierender Haltung des Schriftstellers in der NS-Zeit. In seiner Vorlesung "Luftkrieg und Literatur" warf er den deutschen Schriftstellern der Nachkriegszeit - mit wenigen Ausnahmen wie Alexander Kluge oder Hans Erich Nossack - vor, sie hätten die Augen vor den Zerstörungen des Krieges verschlossen.
Seinem angehenden Doktoranden Schütte hingegen empfahl Sebald, sich als Dissertationsthema einen Schriftsteller zu suchen, "den man verachte, dies nämlich gebe Energie, sich der lustvollen Demontage von dessen Werk zu widmen". Ein Ratschlag, den Schütte zwar nicht befolgt hat, den Sebald aber aus Erfahrung erteilt haben dürfte. In der eigenen Dissertation hatte er das Werk Alfred Döblins demontiert, den Sebald wegen dessen Konvertierung zum Katholizismus verachtete und dem er in Bezug auf dessen Roman "Berge, Meere und Giganten", den Döblin zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hatte, vorwarf, eine Form der Prophetie zu betreiben, die immer "eine Funktion der Blindheit gegenüber den tatsächlich vorkommenden Alternativen einer Zeit" sei.
Sebald schaute in die Geschichte und nicht nach vorne; er entwickelte eine "Naturgeschichte der Zerstörung", der ein erhellender literarischer Anspruch gegenübersteht, wie er sich in seinem Roman "Die Ringe des Saturn" entfaltet. Hier schlug er die Brücke zwischen den Weltkriegen und dem Anthropozän. Es sind im Besonderen die beiden Essays "Feuer" und "Bäume" in Schüttes Buch, die auch unbefangenen Lesern einen Zugang zur Person und zur literarischen Konzeption des Autors W. G. Sebald bieten dürften. Einfach indes ist sie nicht zu haben, die Schönheit, die dessen Werk in sich birgt.
NILS WESTERHAUS
Uwe Schütte: "Annäherungen". Sieben Essays zu W.G. Sebald.
Böhlau Verlag, Köln 2019. 275 S., geb., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Schüttes Essays über W. G. Sebald
Erinnerungsprosa, Exilliteratur, Melancholiestudie - die kategorisierenden Beschreibungen zu W. G. Sebalds Werk sind zahlreich in dessen Deutungen, die sich in großen Zuspruch und tiefe Abneigung spalten. In Uwe Schüttes Buch "Annäherungen" ist von der "schwierigen Schönheit" der Literatur von Sebald die Rede. Schütte hat sieben Essays geschrieben, um sich dieser Schönheit und Sebald selbst fern von bewährten Herangehensweisen anzunähern. Wie beim Lesen Sebald'scher Bücher ist man gezwungen, den assoziativen Verknüpfungen des Autors zu folgen: Er setzt dessen literaturkritische Schriften, Interviews und Prosaschriften in Beziehung zu den biographischen Details.
"Im Verlauf seines Lebens hat Sebald gleichsam den zivilisatorischen Quantensprung von naturbestimmter Dorfkindheit zu hypermodernem Urbanismus durchmessen", schreibt Schütte im ersten Essay, "Heimat" betitelt. Er blickt darin auf Sebalds Weg von der bayrischen Provinz auf dessen englischen Lehrstuhl an der Universität in Norwich, wo sich der Schriftsteller aber nie ganz zu Hause fühlte. Diese "Heimatlosigkeit" teilte er mit Jacques Austerlitz aus seinem Roman "Austerlitz", der als jüdischer Flüchtling jeden Tag hatte begreifen müssen, "dass ich nicht mehr zu Hause war, sondern sehr weit auswärts".
Man sieht sich in Schüttes Buch mit einem Autor konfrontiert, der die Verheerungen des zwanzigsten Jahrhunderts in den Schicksalen der Protagonisten seiner Romane aufscheinen lässt und darin zugleich eigene weltanschauliche wie geschichtsphilosophische Positionen einfließen ließ. Schütte charakterisiert diese immer auch auf das Wesen der Menschheit verweisende Verknüpfungsarbeit, wenn er schreibt, "dass sich der Heimat-Begriff für Sebald keineswegs auf die regionale Herkunft und die gesellschaftliche Ebene beschränkte. Er weitete ihn auch stammesgeschichtlich aus, indem er die Natur als die eigentliche Heimat der Gattung Mensch betrachtete. Diese Heimat freilich haben wir durch den Zivilisationsprozess längst schon verloren, in einem Vorgriff quasi auf die Diskreditierung alles Heimatlichen im zwanzigsten Jahrhundert." Und weiter: "Doch die Spezies Mensch, so Sebald, scheint wie besessen von einer vor nichts Halt machenden Zerstörungssucht, die im Grunde schon durch eine naturgeschichtliche Unausweichlichkeit gekennzeichnet ist. Wir alle sind, insofern und in doppelter Hinsicht, Heimatvertriebene."
Die Autoren, die Sebald faszinierten, etwa die Österreicher Thomas Bernhard, Ernst Herbeck und Jean Améry oder der Schweizer Robert Walser, verbindet, dass sich hinter ihrer Literatur auch Kulturkritik verbirgt. Was Sebald selbst von ihnen unterscheidet, ist die Fülle an historischem Material, die er in seinen Texten verarbeitete. Er begab sich, so könnte man sagen, auf literarische Suche nach dem, was er theoretisch schon begriffen hatte. Als Sebald 1966 nach Manchester ging, um dort sein Germanistikstudium abzuschließen, hatte er die Kritische Theorie mit im Gepäck. Sie bildete das Fundament für Sebalds literarischen Anspruch, der ihm erlaubte, in seinen literaturkritischen Schriften und Reden gegen andere Schriftsteller zu polemisieren. Das Werk Alfred Anderschs zerlegte er wegen der passiv partizipierender Haltung des Schriftstellers in der NS-Zeit. In seiner Vorlesung "Luftkrieg und Literatur" warf er den deutschen Schriftstellern der Nachkriegszeit - mit wenigen Ausnahmen wie Alexander Kluge oder Hans Erich Nossack - vor, sie hätten die Augen vor den Zerstörungen des Krieges verschlossen.
Seinem angehenden Doktoranden Schütte hingegen empfahl Sebald, sich als Dissertationsthema einen Schriftsteller zu suchen, "den man verachte, dies nämlich gebe Energie, sich der lustvollen Demontage von dessen Werk zu widmen". Ein Ratschlag, den Schütte zwar nicht befolgt hat, den Sebald aber aus Erfahrung erteilt haben dürfte. In der eigenen Dissertation hatte er das Werk Alfred Döblins demontiert, den Sebald wegen dessen Konvertierung zum Katholizismus verachtete und dem er in Bezug auf dessen Roman "Berge, Meere und Giganten", den Döblin zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hatte, vorwarf, eine Form der Prophetie zu betreiben, die immer "eine Funktion der Blindheit gegenüber den tatsächlich vorkommenden Alternativen einer Zeit" sei.
Sebald schaute in die Geschichte und nicht nach vorne; er entwickelte eine "Naturgeschichte der Zerstörung", der ein erhellender literarischer Anspruch gegenübersteht, wie er sich in seinem Roman "Die Ringe des Saturn" entfaltet. Hier schlug er die Brücke zwischen den Weltkriegen und dem Anthropozän. Es sind im Besonderen die beiden Essays "Feuer" und "Bäume" in Schüttes Buch, die auch unbefangenen Lesern einen Zugang zur Person und zur literarischen Konzeption des Autors W. G. Sebald bieten dürften. Einfach indes ist sie nicht zu haben, die Schönheit, die dessen Werk in sich birgt.
NILS WESTERHAUS
Uwe Schütte: "Annäherungen". Sieben Essays zu W.G. Sebald.
Böhlau Verlag, Köln 2019. 275 S., geb., 29,- [Euro].
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