Eine große europäisch-jüdische Familiensaga - eine schillernde Geschichte über Liebe und die befreiende Kraft der Hoffnung
Kopenhagen zwischen den Weltkriegen: Die politischen Entwicklungen der späten 1930er Jahre stehen unmittelbar bevor, doch noch ist die Wohnung der Koppelmans voller Trubel, Verwandter, Gespräche und Musik. Hannah, die jüngste der vier Geschwister, möchte eines Tages selbst Musikerin werden, wie ihre Brüder. Doch für sie, das einzige Mädchen, ist ein anderer Weg vorgesehen: Es ist an ihr, den Namen der Familie zu wahren und die Eltern nicht zu enttäuschen. Krieg, Flucht und die Trennung von ihrer großen Liebe Aksel verschlagen sie nach Paris in eine arrangierte Ehe. Weit weg von zu Hause erinnern nur die Musik und Aksels Briefe Hannah - eigentlich Anna - daran, wer sie einmal werden wollte. Kann sie die Pflichten des Lebens annehmen und ihre eigenen Träume trotzdem festhalten?
»Annas Lied« ist eine mitreißend und warmherzig erzählte, weltumspannende Geschichte über verbotene Liebe, Einsamkeit und Pflichtbewusstsein - und nicht zuletzt über die heilende Kraft der Musik, inspiriert vom jüdischen Erbe Benjamin Koppels und seiner Familie. »Fantastisch!« Dagbladens Bureau
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Kopenhagen zwischen den Weltkriegen: Die politischen Entwicklungen der späten 1930er Jahre stehen unmittelbar bevor, doch noch ist die Wohnung der Koppelmans voller Trubel, Verwandter, Gespräche und Musik. Hannah, die jüngste der vier Geschwister, möchte eines Tages selbst Musikerin werden, wie ihre Brüder. Doch für sie, das einzige Mädchen, ist ein anderer Weg vorgesehen: Es ist an ihr, den Namen der Familie zu wahren und die Eltern nicht zu enttäuschen. Krieg, Flucht und die Trennung von ihrer großen Liebe Aksel verschlagen sie nach Paris in eine arrangierte Ehe. Weit weg von zu Hause erinnern nur die Musik und Aksels Briefe Hannah - eigentlich Anna - daran, wer sie einmal werden wollte. Kann sie die Pflichten des Lebens annehmen und ihre eigenen Träume trotzdem festhalten?
»Annas Lied« ist eine mitreißend und warmherzig erzählte, weltumspannende Geschichte über verbotene Liebe, Einsamkeit und Pflichtbewusstsein - und nicht zuletzt über die heilende Kraft der Musik, inspiriert vom jüdischen Erbe Benjamin Koppels und seiner Familie. »Fantastisch!« Dagbladens Bureau
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Benjamin Koppels Debütroman "Annas Lied" ist unterhaltsam zu lesen, urteilt Rezensent Peter Urban-Halle. Darin erzählt der dänische Saxofonist in zwei Teilen, die vor und nach 1945 spielen, facettenreich von einer jüdischen Familie, die aus einem Schtetl nahe Lodz nach Kopenhagen ausgewandert ist. Dass das Buch tieftraurig ist, liegt für den Rezensenten daran, dass der Protagonistin Hannah, der einzigen Tochter, kein persönliches Glück gegönnt wird: weder das Kind, das sie zu Beginn des Romans zur Welt bringt und weggeben muss, noch die Liebe zu dessen Vater, einem nichtjüdischen Dänen, oder - obwohl die Eltern und vier Brüder ihre Begeisterung für die Musik teilen - das Klavierspiel als Freude und Profession. Wie die Rahmenerzählung erahnen lässt, beruht das Buch auf einer realen Geschichte, nämlich dem Leben der nahe Paris gealterten Großtante Koppels. Seine Themen und Konflikte sind, so Urban-Halle, jedoch universell: die erhebende Wirkung von Liebe und Kunst ebenso wie die Einengung durch (religiösen) Traditionalismus. Der Roman bietet, stellt der Rezensent fest, den Leserinnen wenig Überraschungen, und ist bei seiner leichten Lesbarkeit dennoch bewegend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Benjamin Koppels Debütroman "Annas Lied" ist unterhaltsam zu lesen, urteilt Rezensent Peter Urban-Halle. Darin erzählt der dänische Saxofonist in zwei Teilen, die vor und nach 1945 spielen, facettenreich von einer jüdischen Familie, die aus einem Schtetl nahe Lodz nach Kopenhagen ausgewandert ist. Dass das Buch tieftraurig ist, liegt für den Rezensenten daran, dass der Protagonistin Hannah, der einzigen Tochter, kein persönliches Glück gegönnt wird: weder das Kind, das sie zu Beginn des Romans zur Welt bringt und weggeben muss, noch die Liebe zu dessen Vater, einem nichtjüdischen Dänen, oder - obwohl die Eltern und vier Brüder ihre Begeisterung für die Musik teilen - das Klavierspiel als Freude und Profession. Wie die Rahmenerzählung erahnen lässt, beruht das Buch auf einer realen Geschichte, nämlich dem Leben der nahe Paris gealterten Großtante Koppels. Seine Themen und Konflikte sind, so Urban-Halle, jedoch universell: die erhebende Wirkung von Liebe und Kunst ebenso wie die Einengung durch (religiösen) Traditionalismus. Der Roman bietet, stellt der Rezensent fest, den Leserinnen wenig Überraschungen, und ist bei seiner leichten Lesbarkeit dennoch bewegend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2024Die Musik ist das Ziel
Seine Kunst als Saxofonist ist eng mit Literatur verbunden. Jetzt erscheint Benjamin Koppels Erfolgsroman „Annas Lied“ auf Deutsch: die Geschichte einer jüdischen Virtuosenfamilie.
Dreizehn Mezzosopransaxofone hat der dänische Instrumentenbauer Peter Jessen bislang gefertigt, das erste im Jahr 2008. Sie alle sind in G gestimmt, eine große Terz über dem Alt, und ihr Klang ist dunkler, als es bei einem Sopransaxofon der Fall ist. Ein solches Instrument, dessen Klang sich dem weichen Ton eines Englischhorns oder eines Fagotts nähert, dabei aber die rauen Kanten des Saxofons behält, ist selten. Ein paar Dutzend, allenfalls ein paar Hundert gibt es davon auf der Welt.
Und mindestens ein halbes Jahr braucht Peter Jessen, um ein solches Instrument zu bauen. Sein erstes Exemplar ging an Benjamin Koppel, was weniger daran liegt, dass beide, der Instrumentenbauer und der Musiker, in Valby wohnen, einer westlichen, ehemals kleinbürgerlichen Vorstadt von Kopenhagen, zwischen Eisenbahngleisen hinter der alten Brauerei Carlsberg gelegen, sondern vor allem daran, dass der virtuose Saxofonist der ideale Empfänger für ein solches Horn war. Sänger habe er ursprünglich werden wollen, sagt Benjamin Koppel, und es gibt vermutlich Augenblicke, in denen seine Zuhörer überzeugt sind, dass er den Wunsch nie aufgegeben hat.
Benjamin Koppel, gerade eben fünfzig Jahre alt, ein blonder Mensch mit einem freundlichen, jungenhaften Gesicht hinter einer dicken runden Brille, sitzt im Wohnraum eines schlichten Siedlungshauses aus den Zwanzigerjahren, das, wie die meisten Häuser in Valby, aus Ziegeln errichtet wurde. Es ist helllichter Tag, die Mütze nimmt er auch daheim nicht ab, auf dem Esstisch liegen Plunderstücke. Der Künstler soll erklären, wie aus einem weltberühmten Saxofonisten ein ambitionierter Schriftsteller wurde. Die Geschichte wird lang, und sie mäandriert.
Da war das Berufsziel Opernsänger, Benjamin Koppel mochte kaum den Stimmbruch überwunden haben. Die Idee ging vorüber, es blieben Vorbilder, Stevie Wonder zum Beispiel oder die Staple Singers. Auch Schlagzeuger wäre er beinahe geworden. Ein halbes Jahr studierte er am „Rhythmischen Musikkonservatorium“ in Kopenhagen, einer im Jahr 1986 gegründeten akademischen Einrichtung für zeitgenössische Musik.
Benjamin Koppel hatte bereits sein erstes Album veröffentlicht, hielt sich für unterfordert und ging nach New York, um privaten Unterricht zu nehmen, hauptsächlich Jazz. Es dauerte danach nicht lang, bis er in einem Kammermusikensemble auftrat, für das er auch die Musik schrieb. Gedichtet habe er schon seit Schulzeiten. Dass er dann auch einen Roman verfasste, scheint selbstverständlich zu sein. Dass dieses Buch in Dänemark zu einem großen Erfolg wurde, scheint sich ebenfalls von allein zu ergeben. Mittlerweile liegt das Werk in der zwölften Auflage vor. In diesen Tagen erscheint die deutsche Übersetzung.
Den halbdokumentarischen Roman „Annas Lied“ veröffentlichte Benjamin Koppel im Original im Jahr 2022. Er erzählt die Geschichte seiner Familie, über vier Generationen hinweg. Auf dem Weg in die Literatur erwarb sie das Suffix „man“, sodass sie im Buch „Koppelman“ heißt. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts also verließen Yithzak, Bruche und ihre Kinder die kleine Stadt Błaszki in der Mitte Polens, um irgendwo im Westen ein besseres Leben zu beginnen. Einige Verwandte hatten es in die Vereinigten Staaten von Amerika geschafft, doch nicht alle kamen so weit, und nach Verhängung des „Immigration Act“ im Jahr 1924 wurden dort kaum noch Juden aus Osteuropa eingelassen.
In der Folge gingen etliche Aschkenazim aus Polen nach Dänemark, wo sie als Schneider, Kürschner, Händler, Musiker ein halbwegs auskömmliches Leben führten. Der erste Teil des Buches handelt von ihrem Leben in Kopenhagen in den Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren, von einer jüdischen Gemeinschaft, die durch familiäre Bande, einen leichthändigen, aber verbindlichen Umgang mit den Riten sowie, wie es scheint, durch ausschweifende, im Detail geschilderte Mahlzeiten (Karottenkuchen mit Dill, Kohlwurst, Matzeklöße) zusammengehalten wird. Und von einer gemeinsamen Leidenschaft für die Musik.
Wie gemeinschaftlich es in dieser Familie zugeht, illustriert Benjamin Koppel durch den freigebigen Einsatz eines jiddischen Vokabulars, mit dem man sich untereinander verständigt. Doch wirken die vertrauten Wörter bald nur noch wie ein Code, der zunehmend poröse Verhältnisse zusammenhält – ähnlich, wie es schon in einem der berühmtesten dänischen Theaterwerke des 20. Jahrhunderts, Henri Nathansens „Indenfor murene“ von 1912, der Fall war, in dem sich die im Titel beschworenen Mauern um die gewesenen Migranten allmählich auflösen: durch die Teilhabe an dänischer Politik und Gesellschaft, durch Schule und Universität und, keinesfalls zuletzt, durch die Liebe.
Fünf Kinder setzten Yitzhak und Bruche in die Welt. Die vier Jungen heirateten dänische Frauen, zur Verzweiflung ihrer Mutter, die sehr genau wusste, dass ihre Enkelkinder damit keine Juden mehr sein würden. Einer der vier Jungen war (was im Buch nur anklingt) der Pianist Herman D. Koppel, der vor allem als Komponist der Neuen Sachlichkeit berühmt wurde. Der Jazz gehörte zu seinem Repertoire, und auch eine Vorliebe für ungewöhnliche Instrumente scheint ins Erbe eingegangen zu sein.
Überhaupt: die Musik. Sie sei, sagt Benjamin Koppel, für ein sich emanzipierendes Judentum das beste aller Mittel gewesen, die Grenzen des Glaubens, der Klasse hinter sich zu lassen. Sein eigenes Vertrauen in die Musik scheint mit einem außerordentlichen Fleiß – oder mit einer außerordentlichen Unruhe – verbunden zu sein: Siebzig Alben hat er bislang publiziert, auf den meisten spielt er Jazz, in internationalen Besetzungen (zuletzt mit dem Bassisten Scott Colley und dem Schlagzeuger Brian Blade), aber es sind auch etliche klassische Kompositionen darunter.
Und mit Musik, dem „Requiem“ von Brahms, mit der Apologie des „Menschenwerks“ beginnt „Annas Lied“, genauer: mit dem Anfang des dritten, mäßig langsamen Satzes, mit dem Wechsel vom Solobariton zum Chor, mit einer schlichten, ergreifend schönen Melodie. „Lehre doch mich, dass mein Leben ein Ziel hat“, zitiert Benjamin Koppel den Bariton im Roman. Den Zwischensatz „dass ein Ende mit mir haben muss“ lässt er weg, er passt nicht zu einem Beginn. Doch ahnt der Leser, was bald kommen wird: der Zweite Weltkrieg, die Besetzung Dänemarks durch die Wehrmacht im April 1940, die Judenverfolgung, der Widerstand, die Flucht über den Öresund nach Schweden, die Toten in der Familie Koppelman und im Kreis ihrer Gefährten.
Das Judentum kennt kein Jenseits, kein Paradies, keine Auferstehung von den Toten. Es kennt das Gesetz, die Familie und die Ehrfurcht vor dem Alter. Und selbst wenn die Angehörigen der Familie Koppel, auch nach eigener Auffassung, keine Juden mehr sind, so ist die Verwandtschaft in hohem Maße lebendig, vor allem, wenn es um Musik geht: Der Großonkel war Geiger, die eine Tante war Pianistin, die andere Opernsängerin, der Vater Anders Koppel gründete zusammen mit seinem Bruder Thomas in den späten Sechzigern die Gruppe „Savage Rose“, den wichtigsten Beitrag Dänemark zu einem Genre, das man heute Progrock nennt.
Die Plunderteilchen sind noch nicht aufgegessen, als Benjamin Koppels ältere Tochter, frisch geduscht, auf dem Weg zu einer Chorprobe durch das Wohnzimmer spaziert. Dänemark ist ein kleines Land, es hat kaum sechs Millionen Einwohner. Die Koppelsche Dynastie, zu der ja auch die Lebensabschnittsgefährten und die Eingeheirateten gehören, scheint groß, gebildet und ehrgeizig genug zu sein, einen großen Teil des nationalen Musiklebens zu bestreiten, neben dem Schauspielwesen und einigen anderen angewandten Künsten.
Im zweiten Teil des Romans „Annas Lied“ geht es um eine Verwandte, die der Familie beinahe abhandengekommen wäre: um Benjamin Koppels Großtante Anna, eine werdende Pianistin, die kurz nach dem Krieg einen französischen Textilhändler heiratete und nach Paris zog. Man verrät nicht zu viel, wenn man erzählt, dass die Entscheidung gegen die Musik ebenso ins Unglück mündete wie eine Ehe, die nach jüdischer Tradition arrangiert wurde – und dass die Rettung zuletzt doch wieder aus der Musik kam.
Benjamin Koppel war beinahe zufällig auf die Großtante gestoßen. Aus lauter Familiensinn, und weil er häufig in Paris war (es gibt Verbindungen im europäischen Jazz, die nicht auf den üblichen Verkehrswegen liegen), machte er sie ausfindig, man fand – wie könnte es anders sein – Gefallen aneinander, und so entstand die Geschichte von der alten Dame, die, nachdem sie einen gewalttätigen Taugenichts von Ehemann begraben hatte, ein Schild mit der Aufschrift „Anna, Pianistin“ an ihrer Haustür anbrachte. Benjamin Koppel, am Esstisch in Valby sitzend, erzählt die Geschichte rückblickend: Erst habe er, den Angaben der alten Dame folgend, ihr Leben aufgeschrieben, dann hätten sich, Stück für Stück, die Belege für die historische Richtigkeit eingefunden. Womit erwiesen sein dürfte, dass sich die Welt trotz allem nach den Gesetzen der Kunst bewegt – wofür auch und nicht zuletzt der Umstand spricht, dass Anna fast hundert Jahre alt wurde.
In den vergangenen Jahren versuchte Benjamin Koppel immer wieder, große Geschichten mit den Mitteln der Musik zu erzählen: Ein solches Unternehmen war das Album „The Adventures of a Polar Expedition“ aus dem Jahr 2010, auf dem der Saxofonist, unterstützt von Jon Balke am Klavier und Palle Danielsson am Bass, die Polarexpeditionen diverser Nordländer in Töne umsetzte. In der „Mulberry Street Symphony“ aus dem Jahr 2022, geschrieben von Vater Anders Koppel, entsteht die Musik beim Anblick von sieben Porträts, die der dänische Fotograf Jacob Riis um das Jahr 1880 von Einwanderern in New York aufnahm. Benjamin Koppel tritt darin mit seinem Jazztrio (Scott Colley, Brian Blade) vor ein klassisches Orchester.
Der Roman „Annas Lied“ ist ein ins Epische gesteigerter Versuch, den umgekehrten Weg zu gehen, aus der Geschichte in die Musik. Ein bekannter dänischer Literaturkritiker hat das Buch bereits mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ verglichen, Benjamin Koppel lächelt, wenn man das Lob erwähnt. Der Vergleich geht fehl: Das Projekt ist das Gesamtkunstwerk, die Verschmelzung von Kunst und Leben. Daher die Neigung zur prägnanten, plastischen Szene, das Vertrauen auf die Konvention, zu der auch das behutsame Brechen von Erwartungen gehört, der Versuch, den Erwartungen entgegenzukommen und sie zugleich zu übertreffen. Das Publikum dankt es ihm, es liest gern Familiengeschichten.
Im Herbst 2022 wurde, wenig überraschend, aus „Annas Lied“ eine Großkomposition für Symphonieorchester, Jazzensemble und Solostimme. In der Aufnahme davon (Cowbell Music) singt Cæcilie Norby (das ist eine anderere dänische Familiengeschichte), die auch die Texte schrieb. „A note, a tone, a sound, a move, / a dance, a glance, some art, can move a thought“, heißt es im Lied, „eine Note, ein Ton, ein Klang, ein Schritt, / ein Tanz, ein Blick, die Kunst und der Kopf bewegt sich.“ Das Lied ist lebendig, das Tempo schnell, das Klavier spielt irgendetwas zwischen Rag und Swing – und darüber erhebt sich ein helles Saxofon, für das es offenbar gar keine Grenzen mehr gibt.
THOMAS STEINFELD
Siebzig Alben, zum
größten Teil Jazz, hat
er bislang aufgenommen
Ein dänischer Kritiker hat
das Buch bereits mit den
„Buddenbrooks“ verglichen
Benjamin Koppel: Annas Lied. Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024.
528 Seiten, 24 Euro.
Komponist, Saxofonist, Schriftsteller: Benjamin Koppel, Jahrgang 1974.
Foto: Sara Galbiati / Gyldendal Medie
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Seine Kunst als Saxofonist ist eng mit Literatur verbunden. Jetzt erscheint Benjamin Koppels Erfolgsroman „Annas Lied“ auf Deutsch: die Geschichte einer jüdischen Virtuosenfamilie.
Dreizehn Mezzosopransaxofone hat der dänische Instrumentenbauer Peter Jessen bislang gefertigt, das erste im Jahr 2008. Sie alle sind in G gestimmt, eine große Terz über dem Alt, und ihr Klang ist dunkler, als es bei einem Sopransaxofon der Fall ist. Ein solches Instrument, dessen Klang sich dem weichen Ton eines Englischhorns oder eines Fagotts nähert, dabei aber die rauen Kanten des Saxofons behält, ist selten. Ein paar Dutzend, allenfalls ein paar Hundert gibt es davon auf der Welt.
Und mindestens ein halbes Jahr braucht Peter Jessen, um ein solches Instrument zu bauen. Sein erstes Exemplar ging an Benjamin Koppel, was weniger daran liegt, dass beide, der Instrumentenbauer und der Musiker, in Valby wohnen, einer westlichen, ehemals kleinbürgerlichen Vorstadt von Kopenhagen, zwischen Eisenbahngleisen hinter der alten Brauerei Carlsberg gelegen, sondern vor allem daran, dass der virtuose Saxofonist der ideale Empfänger für ein solches Horn war. Sänger habe er ursprünglich werden wollen, sagt Benjamin Koppel, und es gibt vermutlich Augenblicke, in denen seine Zuhörer überzeugt sind, dass er den Wunsch nie aufgegeben hat.
Benjamin Koppel, gerade eben fünfzig Jahre alt, ein blonder Mensch mit einem freundlichen, jungenhaften Gesicht hinter einer dicken runden Brille, sitzt im Wohnraum eines schlichten Siedlungshauses aus den Zwanzigerjahren, das, wie die meisten Häuser in Valby, aus Ziegeln errichtet wurde. Es ist helllichter Tag, die Mütze nimmt er auch daheim nicht ab, auf dem Esstisch liegen Plunderstücke. Der Künstler soll erklären, wie aus einem weltberühmten Saxofonisten ein ambitionierter Schriftsteller wurde. Die Geschichte wird lang, und sie mäandriert.
Da war das Berufsziel Opernsänger, Benjamin Koppel mochte kaum den Stimmbruch überwunden haben. Die Idee ging vorüber, es blieben Vorbilder, Stevie Wonder zum Beispiel oder die Staple Singers. Auch Schlagzeuger wäre er beinahe geworden. Ein halbes Jahr studierte er am „Rhythmischen Musikkonservatorium“ in Kopenhagen, einer im Jahr 1986 gegründeten akademischen Einrichtung für zeitgenössische Musik.
Benjamin Koppel hatte bereits sein erstes Album veröffentlicht, hielt sich für unterfordert und ging nach New York, um privaten Unterricht zu nehmen, hauptsächlich Jazz. Es dauerte danach nicht lang, bis er in einem Kammermusikensemble auftrat, für das er auch die Musik schrieb. Gedichtet habe er schon seit Schulzeiten. Dass er dann auch einen Roman verfasste, scheint selbstverständlich zu sein. Dass dieses Buch in Dänemark zu einem großen Erfolg wurde, scheint sich ebenfalls von allein zu ergeben. Mittlerweile liegt das Werk in der zwölften Auflage vor. In diesen Tagen erscheint die deutsche Übersetzung.
Den halbdokumentarischen Roman „Annas Lied“ veröffentlichte Benjamin Koppel im Original im Jahr 2022. Er erzählt die Geschichte seiner Familie, über vier Generationen hinweg. Auf dem Weg in die Literatur erwarb sie das Suffix „man“, sodass sie im Buch „Koppelman“ heißt. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts also verließen Yithzak, Bruche und ihre Kinder die kleine Stadt Błaszki in der Mitte Polens, um irgendwo im Westen ein besseres Leben zu beginnen. Einige Verwandte hatten es in die Vereinigten Staaten von Amerika geschafft, doch nicht alle kamen so weit, und nach Verhängung des „Immigration Act“ im Jahr 1924 wurden dort kaum noch Juden aus Osteuropa eingelassen.
In der Folge gingen etliche Aschkenazim aus Polen nach Dänemark, wo sie als Schneider, Kürschner, Händler, Musiker ein halbwegs auskömmliches Leben führten. Der erste Teil des Buches handelt von ihrem Leben in Kopenhagen in den Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren, von einer jüdischen Gemeinschaft, die durch familiäre Bande, einen leichthändigen, aber verbindlichen Umgang mit den Riten sowie, wie es scheint, durch ausschweifende, im Detail geschilderte Mahlzeiten (Karottenkuchen mit Dill, Kohlwurst, Matzeklöße) zusammengehalten wird. Und von einer gemeinsamen Leidenschaft für die Musik.
Wie gemeinschaftlich es in dieser Familie zugeht, illustriert Benjamin Koppel durch den freigebigen Einsatz eines jiddischen Vokabulars, mit dem man sich untereinander verständigt. Doch wirken die vertrauten Wörter bald nur noch wie ein Code, der zunehmend poröse Verhältnisse zusammenhält – ähnlich, wie es schon in einem der berühmtesten dänischen Theaterwerke des 20. Jahrhunderts, Henri Nathansens „Indenfor murene“ von 1912, der Fall war, in dem sich die im Titel beschworenen Mauern um die gewesenen Migranten allmählich auflösen: durch die Teilhabe an dänischer Politik und Gesellschaft, durch Schule und Universität und, keinesfalls zuletzt, durch die Liebe.
Fünf Kinder setzten Yitzhak und Bruche in die Welt. Die vier Jungen heirateten dänische Frauen, zur Verzweiflung ihrer Mutter, die sehr genau wusste, dass ihre Enkelkinder damit keine Juden mehr sein würden. Einer der vier Jungen war (was im Buch nur anklingt) der Pianist Herman D. Koppel, der vor allem als Komponist der Neuen Sachlichkeit berühmt wurde. Der Jazz gehörte zu seinem Repertoire, und auch eine Vorliebe für ungewöhnliche Instrumente scheint ins Erbe eingegangen zu sein.
Überhaupt: die Musik. Sie sei, sagt Benjamin Koppel, für ein sich emanzipierendes Judentum das beste aller Mittel gewesen, die Grenzen des Glaubens, der Klasse hinter sich zu lassen. Sein eigenes Vertrauen in die Musik scheint mit einem außerordentlichen Fleiß – oder mit einer außerordentlichen Unruhe – verbunden zu sein: Siebzig Alben hat er bislang publiziert, auf den meisten spielt er Jazz, in internationalen Besetzungen (zuletzt mit dem Bassisten Scott Colley und dem Schlagzeuger Brian Blade), aber es sind auch etliche klassische Kompositionen darunter.
Und mit Musik, dem „Requiem“ von Brahms, mit der Apologie des „Menschenwerks“ beginnt „Annas Lied“, genauer: mit dem Anfang des dritten, mäßig langsamen Satzes, mit dem Wechsel vom Solobariton zum Chor, mit einer schlichten, ergreifend schönen Melodie. „Lehre doch mich, dass mein Leben ein Ziel hat“, zitiert Benjamin Koppel den Bariton im Roman. Den Zwischensatz „dass ein Ende mit mir haben muss“ lässt er weg, er passt nicht zu einem Beginn. Doch ahnt der Leser, was bald kommen wird: der Zweite Weltkrieg, die Besetzung Dänemarks durch die Wehrmacht im April 1940, die Judenverfolgung, der Widerstand, die Flucht über den Öresund nach Schweden, die Toten in der Familie Koppelman und im Kreis ihrer Gefährten.
Das Judentum kennt kein Jenseits, kein Paradies, keine Auferstehung von den Toten. Es kennt das Gesetz, die Familie und die Ehrfurcht vor dem Alter. Und selbst wenn die Angehörigen der Familie Koppel, auch nach eigener Auffassung, keine Juden mehr sind, so ist die Verwandtschaft in hohem Maße lebendig, vor allem, wenn es um Musik geht: Der Großonkel war Geiger, die eine Tante war Pianistin, die andere Opernsängerin, der Vater Anders Koppel gründete zusammen mit seinem Bruder Thomas in den späten Sechzigern die Gruppe „Savage Rose“, den wichtigsten Beitrag Dänemark zu einem Genre, das man heute Progrock nennt.
Die Plunderteilchen sind noch nicht aufgegessen, als Benjamin Koppels ältere Tochter, frisch geduscht, auf dem Weg zu einer Chorprobe durch das Wohnzimmer spaziert. Dänemark ist ein kleines Land, es hat kaum sechs Millionen Einwohner. Die Koppelsche Dynastie, zu der ja auch die Lebensabschnittsgefährten und die Eingeheirateten gehören, scheint groß, gebildet und ehrgeizig genug zu sein, einen großen Teil des nationalen Musiklebens zu bestreiten, neben dem Schauspielwesen und einigen anderen angewandten Künsten.
Im zweiten Teil des Romans „Annas Lied“ geht es um eine Verwandte, die der Familie beinahe abhandengekommen wäre: um Benjamin Koppels Großtante Anna, eine werdende Pianistin, die kurz nach dem Krieg einen französischen Textilhändler heiratete und nach Paris zog. Man verrät nicht zu viel, wenn man erzählt, dass die Entscheidung gegen die Musik ebenso ins Unglück mündete wie eine Ehe, die nach jüdischer Tradition arrangiert wurde – und dass die Rettung zuletzt doch wieder aus der Musik kam.
Benjamin Koppel war beinahe zufällig auf die Großtante gestoßen. Aus lauter Familiensinn, und weil er häufig in Paris war (es gibt Verbindungen im europäischen Jazz, die nicht auf den üblichen Verkehrswegen liegen), machte er sie ausfindig, man fand – wie könnte es anders sein – Gefallen aneinander, und so entstand die Geschichte von der alten Dame, die, nachdem sie einen gewalttätigen Taugenichts von Ehemann begraben hatte, ein Schild mit der Aufschrift „Anna, Pianistin“ an ihrer Haustür anbrachte. Benjamin Koppel, am Esstisch in Valby sitzend, erzählt die Geschichte rückblickend: Erst habe er, den Angaben der alten Dame folgend, ihr Leben aufgeschrieben, dann hätten sich, Stück für Stück, die Belege für die historische Richtigkeit eingefunden. Womit erwiesen sein dürfte, dass sich die Welt trotz allem nach den Gesetzen der Kunst bewegt – wofür auch und nicht zuletzt der Umstand spricht, dass Anna fast hundert Jahre alt wurde.
In den vergangenen Jahren versuchte Benjamin Koppel immer wieder, große Geschichten mit den Mitteln der Musik zu erzählen: Ein solches Unternehmen war das Album „The Adventures of a Polar Expedition“ aus dem Jahr 2010, auf dem der Saxofonist, unterstützt von Jon Balke am Klavier und Palle Danielsson am Bass, die Polarexpeditionen diverser Nordländer in Töne umsetzte. In der „Mulberry Street Symphony“ aus dem Jahr 2022, geschrieben von Vater Anders Koppel, entsteht die Musik beim Anblick von sieben Porträts, die der dänische Fotograf Jacob Riis um das Jahr 1880 von Einwanderern in New York aufnahm. Benjamin Koppel tritt darin mit seinem Jazztrio (Scott Colley, Brian Blade) vor ein klassisches Orchester.
Der Roman „Annas Lied“ ist ein ins Epische gesteigerter Versuch, den umgekehrten Weg zu gehen, aus der Geschichte in die Musik. Ein bekannter dänischer Literaturkritiker hat das Buch bereits mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ verglichen, Benjamin Koppel lächelt, wenn man das Lob erwähnt. Der Vergleich geht fehl: Das Projekt ist das Gesamtkunstwerk, die Verschmelzung von Kunst und Leben. Daher die Neigung zur prägnanten, plastischen Szene, das Vertrauen auf die Konvention, zu der auch das behutsame Brechen von Erwartungen gehört, der Versuch, den Erwartungen entgegenzukommen und sie zugleich zu übertreffen. Das Publikum dankt es ihm, es liest gern Familiengeschichten.
Im Herbst 2022 wurde, wenig überraschend, aus „Annas Lied“ eine Großkomposition für Symphonieorchester, Jazzensemble und Solostimme. In der Aufnahme davon (Cowbell Music) singt Cæcilie Norby (das ist eine anderere dänische Familiengeschichte), die auch die Texte schrieb. „A note, a tone, a sound, a move, / a dance, a glance, some art, can move a thought“, heißt es im Lied, „eine Note, ein Ton, ein Klang, ein Schritt, / ein Tanz, ein Blick, die Kunst und der Kopf bewegt sich.“ Das Lied ist lebendig, das Tempo schnell, das Klavier spielt irgendetwas zwischen Rag und Swing – und darüber erhebt sich ein helles Saxofon, für das es offenbar gar keine Grenzen mehr gibt.
THOMAS STEINFELD
Siebzig Alben, zum
größten Teil Jazz, hat
er bislang aufgenommen
Ein dänischer Kritiker hat
das Buch bereits mit den
„Buddenbrooks“ verglichen
Benjamin Koppel: Annas Lied. Roman. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024.
528 Seiten, 24 Euro.
Komponist, Saxofonist, Schriftsteller: Benjamin Koppel, Jahrgang 1974.
Foto: Sara Galbiati / Gyldendal Medie
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2024Liebe und Kunst als Lebensmotto
Und doch stehen Familie und Religion über allem: Der Roman "Annas Lied" des Dänen Benjamin Koppel
1999 erschien bei Ammann ein Roman des Iren Bernard MacLaverty, er hieß "Annas Lied". 25 Jahre später hören wir "Annas Lied" schon wieder, aber es ist keine Neuausgabe des alten Lieds, sondern das doppelt so dicke Buch eines dänischen Saxophonspielers, Benjamin Koppel, geboren 1974, der damit sein literarisches Debüt gibt. Wie der Titel vermuten lässt, spielt die Musik, wie schon bei MacLaverty, eine entscheidende Rolle. Koppel, der aus einer Musikerfamilie stammt, erzählt von einem jüdischen Ehepaar im Dänemark der Vor- und Nachkriegszeit mit vier Söhnen und einer Tochter, die für ihr Leben gern musizieren, die Brüder machen daraus sogar ihren Beruf. Wir erleben ausgelassene Feiern und mutiges Aufbegehren, es gibt Freud und Leid und lauter lustige, verbohrte, grundgütige, gemeine, im Ganzen also recht unterschiedliche Typen. Es ist viel los, es herrscht ein buntes Treiben, es ist eine Familiensaga.
Im Grunde aber ist das Buch furchtbar traurig. Damit ist nicht der hauchzarte Schleier der Melancholie gemeint, der sich über Geschichten breiten kann, wie sie ein Herman Bang zu schreiben imstande war. Es ist traurig, weil die junge Hannah, die Hauptperson, gleich im Prolog unter Schmerzen ein Kind gebärt, das die Eltern als "Unglück" bezeichnen und das sie nicht behalten darf. Es ist traurig, weil Hannah (im Gegensatz zu MacLavertys Heldin Catherine) letztlich weder ihrer Musikbegeisterung nachkommen noch ein Leben führen darf, wie sie es wünscht. Es gibt in diesem Buch bis auf die allerletzten Seiten keinen Ausweg, jedenfalls nicht für die Tochter.
Der Roman hat zwei Teile, die vor und nach 1945 spielen. Die jüdische Familie Koppelman hatte in ihrem Schtetl nahe Lodz, das bis 1918 zu Russland gehörte, keine Zukunft mehr gesehen; antijüdische Pogrome waren im Zarenreich weitverbreitet. Seit mehr als zwanzig Jahren leben sie nun in Kopenhagen. Der Vater Yitzhak, ein verständnisvoller, etwas naiver Mann, führt eine dank seiner Redlichkeit und Sorgfalt gut gehende Schneiderei, die Mutter Bruche ist eine dramatisch-hektische Hausfrau, die nicht kochen kann, aber fünf Kinder großgezogen hat: erst die Söhne und zuletzt die Tochter Hannah. Die Koppelmans sind thoratreu, vor allem die Mutter achtet strikt auf Einhaltung der religiösen Regeln. Überboten wird sie nur noch vom Onkel Lille-Moishe, der seine Frau schuften lässt, damit er emsig in den heiligen Schriften blättern kann. Koppel zeigt hier wie nebenbei, was eine Gesetzesreligion bedeutet: Die Erfüllung der Vorschriften ist ein wesentlicher Teil der Frömmigkeit.
Hannah, in Dänemark geboren, hat sich längst in ihre säkulare Umwelt integriert. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist Klavierspielen, sie wird sogar im Konservatorium angenommen. Und sie verliebt sich in Aksel, einen politisch engagierten Dänen. Aksel (der Vater jenes Kindes, das Hannah weggeben muss) wird sie ein Leben lang lieben, aber heiraten darf sie ihn, diesen "Goi", nicht. Schon die Brüder hatten zum Entsetzen der Mutter "Schicksen" (noch so ein abfälliges Wort für Nichtjuden) geehelicht, wenigstens Hannah soll die Familienehre retten. Es kommt zu einer arrangierten Ehe mit dem Pariser Juden François, der einerseits wegen verletzter Speisegesetze Skandal macht, sich andererseits aber einen Dreck ums siebte Gebot kümmert. Hannah, zu diesem Zeitpunkt sechzehn, ist nichts als deprimiert. "Ein abgefallener Jude bringt Schande über all seine Vorfahren. Ein Abgefallener wählt ein Leben, das auf einer Lüge aufgebaut ist", sagt die Mutter "mit verzerrtem Gesicht". Schon die Brüder sind ja alle "abgefallen" und gehören nicht mehr richtig zur Familie. Umso mehr bearbeitete Bruche ihre Tochter, damit wenigstens sie jüdisch heiratet.
Doch der Roman ist kein ideologisches oder partikulares Buch, denn das Hauptproblem ist universal: die Durchsetzung bestimmter Traditionen zur Aufrechterhaltung bestimmter Ordnungen. Der Autor ist auf Ausgewogenheit bedacht. Nicht nur, dass die jüdische Gemeinschaft Kopenhagens aus lauter unterschiedlichen Charakteren besteht, es wird auch immer deutlicher, dass die diktatorische Familienmutter Bruche selbst nicht frei ist: "Letzten Endes ist die Familie das Einzige, was wir haben." Eine gute Jüdin ist nicht autonom, sie ist Opfer ihrer eigenen unabänderlichen Überzeugung.
Benjamin Koppel lässt sich am Ende des langen Romans selber auftreten. Er ist nämlich der Großneffe der Hauptfigur Hannah, die eigentlich Anna heißt und die er am Ende ihres Lebens zum ersten Mal in der Nähe von Paris besucht, sie ist 98 und erzählt ihm ihr Leben. Das fand er so spannend, dass er es aufschrieb. Das Ergebnis ist lebendig, aber nicht sehr herausfordernd. Es liest sich alles ganz prima weg, was sicher auch daran liegt, dass der Holocaust als Urtrauma sehr diskret behandelt wird, in kleinen Nebensätzen, fast zwischen den Zeilen. Das Buch ist durch sein Thema bewegend und tiefgründig und anspruchsvoll, durch seine leichte Lesbarkeit aber auch sehr unterhaltsam. Allerdings weiß man von vornherein, worauf das große Ganze hinausläuft, nur die Details können überraschend sein.
In gewisser Weise sogar beruhigend. "Liebe und Kunst" heißt das Lebensmotto zweier Freundinnen fürs Leben, der Jüdin Hannah und der nichtjüdischen Dänin Elisabeth, die Feministin wird. Abgesehen von Geld und Glaube sind Liebe und Kunst wohl die beiden Dinge, die die Menschen am meisten bewegen und am meisten erheben. Kunst und hier vor allem die Musik haben eine geradezu humanisierende Wirkung. Gleich am Anfang - die kleine Hannah ist acht Jahre alt und spielt naturwissenschaftlich interessiert mit Stecknadeln und einem Magneten - werden wir durch eine kitschige Passage aufs richtige Gleis gesetzt: "'Was summst du da, mein Kind?', erkundigte sich Yitzhak, ohne von seiner Nähmaschine aufzublicken. 'Brahms, Vater!'" Klassische Musik (sogar der überladene Brahms, Hannahs Lieblingskomponist) ist besonders geeignet: nicht nur zur Humanisierung, sondern auch zur Tolerierung empörender Dinge. Auch Jazz ist geeignet (Koppel ist Jazzmusiker). Annas Lied, erfahren wir am Schluss, ist der sentimentale Song "What Are You Doing the Rest of Your Life?" Hannah nämlich "hatte eine Schwäche für hübsche, einfache Melodien in Moll". So ließe sich auch das Buch charakterisieren. Es ist kein moderner Roman und doch ein Roman von heute. PETER URBAN-HALLE
Benjamin Koppel: "Annas Lied". Roman.
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 527 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Und doch stehen Familie und Religion über allem: Der Roman "Annas Lied" des Dänen Benjamin Koppel
1999 erschien bei Ammann ein Roman des Iren Bernard MacLaverty, er hieß "Annas Lied". 25 Jahre später hören wir "Annas Lied" schon wieder, aber es ist keine Neuausgabe des alten Lieds, sondern das doppelt so dicke Buch eines dänischen Saxophonspielers, Benjamin Koppel, geboren 1974, der damit sein literarisches Debüt gibt. Wie der Titel vermuten lässt, spielt die Musik, wie schon bei MacLaverty, eine entscheidende Rolle. Koppel, der aus einer Musikerfamilie stammt, erzählt von einem jüdischen Ehepaar im Dänemark der Vor- und Nachkriegszeit mit vier Söhnen und einer Tochter, die für ihr Leben gern musizieren, die Brüder machen daraus sogar ihren Beruf. Wir erleben ausgelassene Feiern und mutiges Aufbegehren, es gibt Freud und Leid und lauter lustige, verbohrte, grundgütige, gemeine, im Ganzen also recht unterschiedliche Typen. Es ist viel los, es herrscht ein buntes Treiben, es ist eine Familiensaga.
Im Grunde aber ist das Buch furchtbar traurig. Damit ist nicht der hauchzarte Schleier der Melancholie gemeint, der sich über Geschichten breiten kann, wie sie ein Herman Bang zu schreiben imstande war. Es ist traurig, weil die junge Hannah, die Hauptperson, gleich im Prolog unter Schmerzen ein Kind gebärt, das die Eltern als "Unglück" bezeichnen und das sie nicht behalten darf. Es ist traurig, weil Hannah (im Gegensatz zu MacLavertys Heldin Catherine) letztlich weder ihrer Musikbegeisterung nachkommen noch ein Leben führen darf, wie sie es wünscht. Es gibt in diesem Buch bis auf die allerletzten Seiten keinen Ausweg, jedenfalls nicht für die Tochter.
Der Roman hat zwei Teile, die vor und nach 1945 spielen. Die jüdische Familie Koppelman hatte in ihrem Schtetl nahe Lodz, das bis 1918 zu Russland gehörte, keine Zukunft mehr gesehen; antijüdische Pogrome waren im Zarenreich weitverbreitet. Seit mehr als zwanzig Jahren leben sie nun in Kopenhagen. Der Vater Yitzhak, ein verständnisvoller, etwas naiver Mann, führt eine dank seiner Redlichkeit und Sorgfalt gut gehende Schneiderei, die Mutter Bruche ist eine dramatisch-hektische Hausfrau, die nicht kochen kann, aber fünf Kinder großgezogen hat: erst die Söhne und zuletzt die Tochter Hannah. Die Koppelmans sind thoratreu, vor allem die Mutter achtet strikt auf Einhaltung der religiösen Regeln. Überboten wird sie nur noch vom Onkel Lille-Moishe, der seine Frau schuften lässt, damit er emsig in den heiligen Schriften blättern kann. Koppel zeigt hier wie nebenbei, was eine Gesetzesreligion bedeutet: Die Erfüllung der Vorschriften ist ein wesentlicher Teil der Frömmigkeit.
Hannah, in Dänemark geboren, hat sich längst in ihre säkulare Umwelt integriert. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist Klavierspielen, sie wird sogar im Konservatorium angenommen. Und sie verliebt sich in Aksel, einen politisch engagierten Dänen. Aksel (der Vater jenes Kindes, das Hannah weggeben muss) wird sie ein Leben lang lieben, aber heiraten darf sie ihn, diesen "Goi", nicht. Schon die Brüder hatten zum Entsetzen der Mutter "Schicksen" (noch so ein abfälliges Wort für Nichtjuden) geehelicht, wenigstens Hannah soll die Familienehre retten. Es kommt zu einer arrangierten Ehe mit dem Pariser Juden François, der einerseits wegen verletzter Speisegesetze Skandal macht, sich andererseits aber einen Dreck ums siebte Gebot kümmert. Hannah, zu diesem Zeitpunkt sechzehn, ist nichts als deprimiert. "Ein abgefallener Jude bringt Schande über all seine Vorfahren. Ein Abgefallener wählt ein Leben, das auf einer Lüge aufgebaut ist", sagt die Mutter "mit verzerrtem Gesicht". Schon die Brüder sind ja alle "abgefallen" und gehören nicht mehr richtig zur Familie. Umso mehr bearbeitete Bruche ihre Tochter, damit wenigstens sie jüdisch heiratet.
Doch der Roman ist kein ideologisches oder partikulares Buch, denn das Hauptproblem ist universal: die Durchsetzung bestimmter Traditionen zur Aufrechterhaltung bestimmter Ordnungen. Der Autor ist auf Ausgewogenheit bedacht. Nicht nur, dass die jüdische Gemeinschaft Kopenhagens aus lauter unterschiedlichen Charakteren besteht, es wird auch immer deutlicher, dass die diktatorische Familienmutter Bruche selbst nicht frei ist: "Letzten Endes ist die Familie das Einzige, was wir haben." Eine gute Jüdin ist nicht autonom, sie ist Opfer ihrer eigenen unabänderlichen Überzeugung.
Benjamin Koppel lässt sich am Ende des langen Romans selber auftreten. Er ist nämlich der Großneffe der Hauptfigur Hannah, die eigentlich Anna heißt und die er am Ende ihres Lebens zum ersten Mal in der Nähe von Paris besucht, sie ist 98 und erzählt ihm ihr Leben. Das fand er so spannend, dass er es aufschrieb. Das Ergebnis ist lebendig, aber nicht sehr herausfordernd. Es liest sich alles ganz prima weg, was sicher auch daran liegt, dass der Holocaust als Urtrauma sehr diskret behandelt wird, in kleinen Nebensätzen, fast zwischen den Zeilen. Das Buch ist durch sein Thema bewegend und tiefgründig und anspruchsvoll, durch seine leichte Lesbarkeit aber auch sehr unterhaltsam. Allerdings weiß man von vornherein, worauf das große Ganze hinausläuft, nur die Details können überraschend sein.
In gewisser Weise sogar beruhigend. "Liebe und Kunst" heißt das Lebensmotto zweier Freundinnen fürs Leben, der Jüdin Hannah und der nichtjüdischen Dänin Elisabeth, die Feministin wird. Abgesehen von Geld und Glaube sind Liebe und Kunst wohl die beiden Dinge, die die Menschen am meisten bewegen und am meisten erheben. Kunst und hier vor allem die Musik haben eine geradezu humanisierende Wirkung. Gleich am Anfang - die kleine Hannah ist acht Jahre alt und spielt naturwissenschaftlich interessiert mit Stecknadeln und einem Magneten - werden wir durch eine kitschige Passage aufs richtige Gleis gesetzt: "'Was summst du da, mein Kind?', erkundigte sich Yitzhak, ohne von seiner Nähmaschine aufzublicken. 'Brahms, Vater!'" Klassische Musik (sogar der überladene Brahms, Hannahs Lieblingskomponist) ist besonders geeignet: nicht nur zur Humanisierung, sondern auch zur Tolerierung empörender Dinge. Auch Jazz ist geeignet (Koppel ist Jazzmusiker). Annas Lied, erfahren wir am Schluss, ist der sentimentale Song "What Are You Doing the Rest of Your Life?" Hannah nämlich "hatte eine Schwäche für hübsche, einfache Melodien in Moll". So ließe sich auch das Buch charakterisieren. Es ist kein moderner Roman und doch ein Roman von heute. PETER URBAN-HALLE
Benjamin Koppel: "Annas Lied". Roman.
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2024. 527 S., geb., 24,- Euro.
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[...] mit großem Geschick dafür etwas zu beschreiben, was schwer in Worte zu fassen ist [...]. Die Presse 20240721