Annie mag nicht mehr. Sie verabschiedet sich von den vielen kleinen Dingen, die sie seit jeher umgeben haben, und stürzt sich in den See. Doch die drei Riesen Émile, Basile und Cyril, die im See wohnen, retten ihr das Leben. Annie ist ihre letzte Hoffnung, denn sie kennt den Weg zum Meer. Gemeinsam machen sich die Vier auf den Weg in Richtung Küste, um das Leben und die Liebe zu finden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.01.2012Sprung zurück ins Leben
Ein Bilderbuchmärchen über die Liebe zu einem Riesen
Zunächst wird alles in ein tiefes Schwarz getaucht: die drei Inseln auf dem See, Annies Kleid und vor allem ihre Seele. Annie hat ihre Mutter verloren und kommt aus ihrer Trauer nicht heraus. In einem dunkel gezeichneten Landschaftsbild entdecken wir Annies Haus hoch oben über dem See.
Die belgische Künstlerin und Autorin Kitty Crowther, 2010 mit dem Astrid Lindgren Memorial Award geehrt, zeichnet die Geschichte der traurigen Annie in ihrem eigenwilligen Mix aus Naivität, Expressivität und Emotionalität. Hingekritzelte Federzeichnungen, die an Kinderbilder erinnern, verbinden sich mit stimmungsvollen Aquarellen, und kraftvolle Bildkompositionen werden von vielen kleinen Details und Ornamenten überzogen. Die Bilder erscheinen ein wenig unbeholfen, treffen aber genau dadurch ins Herz. Auch die Hauptfigur dieser Geschichte rührt uns in ihrer zeichnerischen Unzulänglichkeit an. Im Text wird sie unumwunden als eine recht mittelmäßige Erscheinung beschrieben: „Sie ist nicht sehr hübsch und nicht sehr hässlich. Sie hat eine große Nase und große Füße.“
In der märchenhaften Bilderkulisse wandelt sich auch die Erzählung von Annie in ein Märchen. Die Inseln des Sees entpuppen sich als Hüte dreier gewaltiger Riesen, die verwunschen auf dem Grund des Sees leben. Annie entdeckt die drei im Moment ihrer größten Verzweiflung, als sie sich entschließt, ins Wasser zu springen. In einem der schönsten Bilder des Buches liegt sie winzig klein in einer riesigen Hand tief unten am Boden des Sees und wird von den Riesen verwundert betrachtet. Hier wird die Farbpalette heller und heiterer; Fische und Pflanzen überziehen das Unterwasserbild mit filigranen Formen.
Annies Sprung ins Wasser ist ein Sprung zurück ins Leben, denn die Riesen brauchen ihre Hilfe. Nur sie kann den Fluch, der auf ihnen lastet, aufheben und ihnen den Weg zum Meer zeigen, wo ebenso große Riesinnen schon auf sie warten. Die Begegnung mit den Riesen hat Annie aus ihrer Erstarrung erlöst; mit Tatendrang und Zuversicht blickt sie wieder ins Leben. Wer sich für andere so aufopfert, wird im Märchen am Ende belohnt. Prinzessinnen bekommen dann meist ihren Prinzen – so auch Annie, die nach ihrer Rückkehr zum See überrascht erkennt, dass sich Émile, einer der drei Riesen, in einen freundlichen Mann verwandelt hat, der ihr verspricht, „dass sie für immer seine Frau sein wird. Seine Riesin!“
Annie ist ein Märchen, erzählt in einer kraftvollen, poetischen Sprache zu merkwürdigen, bewusst einfachen, ungelenken, kräftigen Bildern, deren stilistische Einflüsse genauer zu klären wären. Doch zunächst sollten wir der Erzählerin folgen. „Schließen wir behutsam das Buch und stören wir Annie und Émile jetzt nicht in ihrem Glück.“ (ab 5 Jahre) JENS THIELE
KITTY CROWTHER: Annie. Aus dem Französischen von Bernadette Ott. Carlsen 2011. 48 Seiten, 12,90 Euro.
Illustration aus Kitty Crowther: Annie
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Bilderbuchmärchen über die Liebe zu einem Riesen
Zunächst wird alles in ein tiefes Schwarz getaucht: die drei Inseln auf dem See, Annies Kleid und vor allem ihre Seele. Annie hat ihre Mutter verloren und kommt aus ihrer Trauer nicht heraus. In einem dunkel gezeichneten Landschaftsbild entdecken wir Annies Haus hoch oben über dem See.
Die belgische Künstlerin und Autorin Kitty Crowther, 2010 mit dem Astrid Lindgren Memorial Award geehrt, zeichnet die Geschichte der traurigen Annie in ihrem eigenwilligen Mix aus Naivität, Expressivität und Emotionalität. Hingekritzelte Federzeichnungen, die an Kinderbilder erinnern, verbinden sich mit stimmungsvollen Aquarellen, und kraftvolle Bildkompositionen werden von vielen kleinen Details und Ornamenten überzogen. Die Bilder erscheinen ein wenig unbeholfen, treffen aber genau dadurch ins Herz. Auch die Hauptfigur dieser Geschichte rührt uns in ihrer zeichnerischen Unzulänglichkeit an. Im Text wird sie unumwunden als eine recht mittelmäßige Erscheinung beschrieben: „Sie ist nicht sehr hübsch und nicht sehr hässlich. Sie hat eine große Nase und große Füße.“
In der märchenhaften Bilderkulisse wandelt sich auch die Erzählung von Annie in ein Märchen. Die Inseln des Sees entpuppen sich als Hüte dreier gewaltiger Riesen, die verwunschen auf dem Grund des Sees leben. Annie entdeckt die drei im Moment ihrer größten Verzweiflung, als sie sich entschließt, ins Wasser zu springen. In einem der schönsten Bilder des Buches liegt sie winzig klein in einer riesigen Hand tief unten am Boden des Sees und wird von den Riesen verwundert betrachtet. Hier wird die Farbpalette heller und heiterer; Fische und Pflanzen überziehen das Unterwasserbild mit filigranen Formen.
Annies Sprung ins Wasser ist ein Sprung zurück ins Leben, denn die Riesen brauchen ihre Hilfe. Nur sie kann den Fluch, der auf ihnen lastet, aufheben und ihnen den Weg zum Meer zeigen, wo ebenso große Riesinnen schon auf sie warten. Die Begegnung mit den Riesen hat Annie aus ihrer Erstarrung erlöst; mit Tatendrang und Zuversicht blickt sie wieder ins Leben. Wer sich für andere so aufopfert, wird im Märchen am Ende belohnt. Prinzessinnen bekommen dann meist ihren Prinzen – so auch Annie, die nach ihrer Rückkehr zum See überrascht erkennt, dass sich Émile, einer der drei Riesen, in einen freundlichen Mann verwandelt hat, der ihr verspricht, „dass sie für immer seine Frau sein wird. Seine Riesin!“
Annie ist ein Märchen, erzählt in einer kraftvollen, poetischen Sprache zu merkwürdigen, bewusst einfachen, ungelenken, kräftigen Bildern, deren stilistische Einflüsse genauer zu klären wären. Doch zunächst sollten wir der Erzählerin folgen. „Schließen wir behutsam das Buch und stören wir Annie und Émile jetzt nicht in ihrem Glück.“ (ab 5 Jahre) JENS THIELE
KITTY CROWTHER: Annie. Aus dem Französischen von Bernadette Ott. Carlsen 2011. 48 Seiten, 12,90 Euro.
Illustration aus Kitty Crowther: Annie
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Richtig bezaubert klingt Jens Thiele vom Kinderbuch der belgischen Autorin und Illustratorin Kitty Crowther, die mit "Annie" die märchenhafte Verarbeitung eines Verlusts schildert. Annies kommt über den Tod der Mutter nicht hinweg, und als sie deshalb ins Wasser geht, trifft sie auf drei Riesen, die sie erlösen muss, erfahren wir. Der Rezensent beschreibt plastisch den zwischen gekritzelten und kräftigen Strichen changierenden Zeichenstil Crowthers und sieht gerade in dieser geradezu "unbeholfenen" Malweise das große Rührungspotential dieses Buches, das auch ihn offensichtlich ergriffen hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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