Die Selbstmorddebatte im 18. Jahrhundert und die physische, psychische, soziale und politische Neukonzeption des Menschen.
Im Laufe des 18.Jahrhunderts beginnen sich unterschiedliche Wahrnehmungsparadigmen des Selbstmords zu überlagern und einander abzulösen. Diese Entwicklung zeigt Harald Neumeyer anhand medizinischer Traktate, juristischer wie polizeiwissenschaftlicher Abhandlungen, theologischer Studien, psychologischer Fallanalysen, gerichtsmedizinischer Gutachten, populärer Biographien und literarischer Texte. Selbstmord kann danach als Verletzung des irdischen wie göttlichen Souveräns, als Verbrechen am Staat, als Effekt einer Anomalie und als Resultat eines Normenkonflikts bewertet werden.
Zugleich verbindet sich die gesamtkulturelle Erörterung des Selbstmords mit dem Projekt einer neuen Definition, Vermessung und Berechnung des Individuums. So werden divergierende Formen von Autonomie entfaltet, die letztlich auf eine Unterwerfung wie Disziplinierung des Menschen zielen, wird die Grenze zwischen Normalität und Anomalie stets neu ausgelotet und der Bereich eines Unbewussten als Motor von Handlungen veranschlagt. Im Zentrum der Studie stehen Johann Wolfgang Goethes »Die Leiden des jungen Werther«, Friedrich Schillers »Die Räuber« und Clemens Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Im Laufe des 18.Jahrhunderts beginnen sich unterschiedliche Wahrnehmungsparadigmen des Selbstmords zu überlagern und einander abzulösen. Diese Entwicklung zeigt Harald Neumeyer anhand medizinischer Traktate, juristischer wie polizeiwissenschaftlicher Abhandlungen, theologischer Studien, psychologischer Fallanalysen, gerichtsmedizinischer Gutachten, populärer Biographien und literarischer Texte. Selbstmord kann danach als Verletzung des irdischen wie göttlichen Souveräns, als Verbrechen am Staat, als Effekt einer Anomalie und als Resultat eines Normenkonflikts bewertet werden.
Zugleich verbindet sich die gesamtkulturelle Erörterung des Selbstmords mit dem Projekt einer neuen Definition, Vermessung und Berechnung des Individuums. So werden divergierende Formen von Autonomie entfaltet, die letztlich auf eine Unterwerfung wie Disziplinierung des Menschen zielen, wird die Grenze zwischen Normalität und Anomalie stets neu ausgelotet und der Bereich eines Unbewussten als Motor von Handlungen veranschlagt. Im Zentrum der Studie stehen Johann Wolfgang Goethes »Die Leiden des jungen Werther«, Friedrich Schillers »Die Räuber« und Clemens Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2011Je aufgeklärter die Zeit, desto rätselhafter der Suizid
Mit Forscherfleiß: Für seine Studie über Selbstmörder in der Literatur sichtet Harald Neumeyer das Elend der Welt
Drei berühmte, doch sehr unterschiedliche literarische Selbstmörder bilden das Rückgrat der umfänglichen Bayreuther Habilitationsschrift von Harald Neumeyer: Werther, Franz Moor und Brentanos braver Kasperl. Man findet sie freilich in denkbar trostloser Umgebung, in einer wahren suizidalen Schädelstätte, "eingebettet" nämlich in den Diskurs über den Selbstmord, wie ihn eine kaum überschaubare Fülle von wissenschaftlichen Texten jeglicher Provenienz repräsentiert. Einschlägig sind die Studienfächer Fausts, dazu Psychologie oder Erfahrungsseelenkunde und Polizeiwissenschaft.
Die Einbettung ist Stephen Greenblatt abgesehen und hat deshalb Methode. Sie beseitigt die Privilegierung der Literatur, will durch Vernetzungen die alte Motivgeschichte in eine neue Diskursanalyse überführen und erhebt den Autor zum Kulturwissenschaftler mit weitläufiger Kompetenz. Dem Etikett "wissensgeschichtlich" hat sich dann auch die Literatur zu fügen: Wie ihre Diskursnachbarn "generiert" sie Wissen, indem sie "Datensätze" von Suizid-Berichten auswertet. Im (nicht immer firmen) Literaturverzeichnis erscheinen die literarischen Texte deshalb auch unter der Rubrik "Materialien". So muss man sich an Nachbarschaften wie "Schiller und Pyl ..." oder "Goethe wie Hußty und Osiander ..." gewöhnen. Sie alle arbeiten, im interdisziplinären cluster sozusagen, am "Wahrnehmungsparadigma" Selbstmord.
Theologisch besehen, war der Selbstmord eine Todsünde. Die Aufklärung verlagert das Interesse von der Tat auf den Täter und damit vom Urteil auf die Ursachenforschung. Doch je aufgeklärter das Jahrhundert, desto herausfordernder, unverständlicher, paradoxer bleiben der Selbstmörder und seine Tat, ein Affront gegen die Ordnung der Welt, gegen alle metaphysische, moralische, bio- oder souveränitätspolitische Korrektheit. Mit Forscherfleiß sichtet Neumeyer das Elend der Welt und verstaut es geordnet in den Schubladen der zeitgenössischen Ätiologien. Anomalie, Autonomie und Unbewusstes heißen, logisch ein wenig holprig, seine Schlüsselbegriffe.
Zufrieden sind die aufgeklärten Gesundheitspolitiker nur, wenn man zum Befund Unzurechnungsfähigkeit vorstößt; die "Anomalien" von Melancholie und Wahnsinn bieten dafür viele Möglichkeiten. Einen schweren Stand hingegen hat die "Autonomie", also der philosophische oder heroische Selbstmord; ihm glaubt man umso weniger, je mehr man die psychophysischen Zusammenhänge kennt und damit die "Neuformatierung des Menschen", wie Neumeyer zu sagen sich nicht scheut. Ein neues Erklärungsmuster bietet die Lehre vom "Unbewussten" (den "dunklen Vorstellungen"), die die suizidale Überwältigung aus Dunkelzonen der Seele plausibel macht. Dezennien vor Johann Georg Sulzer, den auch Neumeyer für den Kronzeugen hält, hat schon der "Discours von der Autochirie" des melancholischen Theologen Adam Bernd den vertrackten Komplex gründlich beschrieben.
Gern flüchtet man sich aus den trübsinnigen Kasuistiken zu literarischen Beispielen. Allerdings begegnen dort, einer geheimnisvollen "Metakommunikation" gehorchend, wieder die gleichen Diskursformationen, so als handle es sich umstandslos um Beiträge zum "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" oder zu den "Biographien der Selbstmörder" und nichts sonst. "Schillers ,Räuber' sind um Begründung wie Bewertung des Selbstmordes fokussiert." Wirklich? Der Musterfall Werther führt gleich alle drei Deutungsvarianten des Selbstmords vor: die autonome in Werthers Briefen selbst, die pathologische im Bericht des Herausgebers; die aus dem Unbewussten kann der Leser mit seinem gerade erworbenen Diskurswissen aus dem "Text" erschließen - weder Werther noch der Herausgeber wissen davon, dass tatsächlich die "idée fixe" von Lotte den Suizid generiert. Misslich indes, dass alle "drei Begründungsgeschichten" nur "ein höchst ungesichertes Wissen über die Motive der Selbsttötung Werthers" "erstellen". Also gibt es den Selbstmord Werthers und seine wahren Gründe auch außerhalb des Textes?
Da sehnt man sich nach jener "intersubjektiven Resonanzerzeugungsfähigkeit" (so sagt die gegenwärtige Literaturwissenschaft), wie sie vor mehr als siebzig Jahren schon Herbert Schöfflers glanzvoll-lakonische Werther-Analyse bewiesen hat, augenöffnend und immer noch unübertroffen - vielleicht deshalb, weil sie große Literatur nicht im Diskurs einbettete und planierte.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Harald Neumeyer: "Anomalien, Autonomien und das Unbewusste".
Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 488 S., geb., 48,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Forscherfleiß: Für seine Studie über Selbstmörder in der Literatur sichtet Harald Neumeyer das Elend der Welt
Drei berühmte, doch sehr unterschiedliche literarische Selbstmörder bilden das Rückgrat der umfänglichen Bayreuther Habilitationsschrift von Harald Neumeyer: Werther, Franz Moor und Brentanos braver Kasperl. Man findet sie freilich in denkbar trostloser Umgebung, in einer wahren suizidalen Schädelstätte, "eingebettet" nämlich in den Diskurs über den Selbstmord, wie ihn eine kaum überschaubare Fülle von wissenschaftlichen Texten jeglicher Provenienz repräsentiert. Einschlägig sind die Studienfächer Fausts, dazu Psychologie oder Erfahrungsseelenkunde und Polizeiwissenschaft.
Die Einbettung ist Stephen Greenblatt abgesehen und hat deshalb Methode. Sie beseitigt die Privilegierung der Literatur, will durch Vernetzungen die alte Motivgeschichte in eine neue Diskursanalyse überführen und erhebt den Autor zum Kulturwissenschaftler mit weitläufiger Kompetenz. Dem Etikett "wissensgeschichtlich" hat sich dann auch die Literatur zu fügen: Wie ihre Diskursnachbarn "generiert" sie Wissen, indem sie "Datensätze" von Suizid-Berichten auswertet. Im (nicht immer firmen) Literaturverzeichnis erscheinen die literarischen Texte deshalb auch unter der Rubrik "Materialien". So muss man sich an Nachbarschaften wie "Schiller und Pyl ..." oder "Goethe wie Hußty und Osiander ..." gewöhnen. Sie alle arbeiten, im interdisziplinären cluster sozusagen, am "Wahrnehmungsparadigma" Selbstmord.
Theologisch besehen, war der Selbstmord eine Todsünde. Die Aufklärung verlagert das Interesse von der Tat auf den Täter und damit vom Urteil auf die Ursachenforschung. Doch je aufgeklärter das Jahrhundert, desto herausfordernder, unverständlicher, paradoxer bleiben der Selbstmörder und seine Tat, ein Affront gegen die Ordnung der Welt, gegen alle metaphysische, moralische, bio- oder souveränitätspolitische Korrektheit. Mit Forscherfleiß sichtet Neumeyer das Elend der Welt und verstaut es geordnet in den Schubladen der zeitgenössischen Ätiologien. Anomalie, Autonomie und Unbewusstes heißen, logisch ein wenig holprig, seine Schlüsselbegriffe.
Zufrieden sind die aufgeklärten Gesundheitspolitiker nur, wenn man zum Befund Unzurechnungsfähigkeit vorstößt; die "Anomalien" von Melancholie und Wahnsinn bieten dafür viele Möglichkeiten. Einen schweren Stand hingegen hat die "Autonomie", also der philosophische oder heroische Selbstmord; ihm glaubt man umso weniger, je mehr man die psychophysischen Zusammenhänge kennt und damit die "Neuformatierung des Menschen", wie Neumeyer zu sagen sich nicht scheut. Ein neues Erklärungsmuster bietet die Lehre vom "Unbewussten" (den "dunklen Vorstellungen"), die die suizidale Überwältigung aus Dunkelzonen der Seele plausibel macht. Dezennien vor Johann Georg Sulzer, den auch Neumeyer für den Kronzeugen hält, hat schon der "Discours von der Autochirie" des melancholischen Theologen Adam Bernd den vertrackten Komplex gründlich beschrieben.
Gern flüchtet man sich aus den trübsinnigen Kasuistiken zu literarischen Beispielen. Allerdings begegnen dort, einer geheimnisvollen "Metakommunikation" gehorchend, wieder die gleichen Diskursformationen, so als handle es sich umstandslos um Beiträge zum "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" oder zu den "Biographien der Selbstmörder" und nichts sonst. "Schillers ,Räuber' sind um Begründung wie Bewertung des Selbstmordes fokussiert." Wirklich? Der Musterfall Werther führt gleich alle drei Deutungsvarianten des Selbstmords vor: die autonome in Werthers Briefen selbst, die pathologische im Bericht des Herausgebers; die aus dem Unbewussten kann der Leser mit seinem gerade erworbenen Diskurswissen aus dem "Text" erschließen - weder Werther noch der Herausgeber wissen davon, dass tatsächlich die "idée fixe" von Lotte den Suizid generiert. Misslich indes, dass alle "drei Begründungsgeschichten" nur "ein höchst ungesichertes Wissen über die Motive der Selbsttötung Werthers" "erstellen". Also gibt es den Selbstmord Werthers und seine wahren Gründe auch außerhalb des Textes?
Da sehnt man sich nach jener "intersubjektiven Resonanzerzeugungsfähigkeit" (so sagt die gegenwärtige Literaturwissenschaft), wie sie vor mehr als siebzig Jahren schon Herbert Schöfflers glanzvoll-lakonische Werther-Analyse bewiesen hat, augenöffnend und immer noch unübertroffen - vielleicht deshalb, weil sie große Literatur nicht im Diskurs einbettete und planierte.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Harald Neumeyer: "Anomalien, Autonomien und das Unbewusste".
Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 488 S., geb., 48,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hans-Jürgen Schings spickt seine Kritik von Harald Neumeyers Habilitationsschrift über den Selbstmord in der Literatur mit Anführungszeichen, mit denen er sein Unbehagen am Vokabular der gegenwärtigen Literaturwissenschaft augenfällig macht. Die Methode, seine Befunde um die Suizide Werthers, Franz Moors und Brentanos bravem Kasperl, die er ins Analysezentrum seiner Arbeit gestellt hat, im Licht interdisziplinärer Wissensgebiete zu betrachten, sieht der Rezensent dem britischen Autor Stephen Greenblatt abgeschaut. Er würdigt die Arbeit verhalten als enorme Fleißarbeit, wenn er auch am Literaturverzeichnis nicht nur deshalb Abstriche macht, weil er die literarischen Primärtexte als "Materialien" auflistet. Wenn der Rezensent indes von den "trübsinnigen Kasuistiken" zu den Selbstmördern in der Literatur flüchtet, wird er auch nicht recht froh. Denn auch hier muss der unzufriedene Schings feststellen, dass in den Bemühungen um die Deutung der Selbsttötung Werthers beispielsweise "große Literatur" lediglich in einen "Diskurs eingebettet und planiert" wird.
© Perlentaucher Medien GmbH
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