Was verstand man im 19. Jahrhundert unter ,Anormalität'? Wie ließ sie sich psychologisch, aber auch religiös jeweils erklären? Wie wurde sie behandelt, wer war für sie zuständig und wo waren die Orte, an denen ihre Behandlung vollzogen wurde? Die vorliegende religionswissenschaftliche Untersuchung beschreibt anhand dieser Fragen die Entstehungsgeschichte der Psychologie und Psychiatrie in einer neuen, anderen Perspektive, indem sie sie als Teil der europäischen Religionsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts thematisiert. Im Zentrum des Interesses stehen daher die religiösen Dimensionen dieses Prozesses von Verwissenschaftlichung, der am Beispiel von Diskursen zu ,Anormalität' genauer analysiert wird. Eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen bietet dabei die Möglichkeit, diesen noch wenig erfassten Bereich der religionsgeschichtlichen Landkarte Europas genauer zu betrachten: Der Blick auf psychologische Fallgeschichten oder psychiatrische Klassifikationen etwa lässt deutlich werden, dass der Religion die Zuständigkeit für das "Seelenheil" nicht so einfach zu entwinden war. Vielmehr lässt die bis ins 20. Jahrhundert andauernde "Grenzarbeit" (T. Gieryn) zwischen psychologischen und religiösen Zugriffen auf das ,Anormale' die bleibende Unentschiedenheit dieser Frage deutlich werden.