Anna und Josefa waren als Mädchen unzertrennlich. In Lütjenburg an der Ostsee, wo sie aufgewachsen sind, sah man kaum je die eine ohne die andere. Nun lebt Anna in Kiel, Josefa in Zürich, und sie haben seit zwölf Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Anna, die sich nichts sehnlicher wünscht als eine Familie, hat sich gerade von ihrem Freund getrennt. Und Josefa, die impulsive Kindfrau, ist die Mutter des elfjährigen Jens. Zu ihrer Vergangenheit hat sie jede Verbindung gekappt. Aber Jens träumt vom Meer Als die Freundinnen wieder aufeinandertreffen, stehen sie nach wie vor im Bann der dramatischen Ereignisse von vor zwölf Jahren. Ein Roman über die Sehnsucht nach einem Zuhause und die schwierige Kunst des Verzeihens.
»Tim Krohn ist ein Autor, den man kennt als heiteren und auch witzigen Unterhalter, als Erzähler leuchtender, schwebender Geschichten von Liebe und der ihr bisweilen innewohnenden Leichtfertigkeit.« Gabriele von Arnim / Tages-Anzeiger Tages-Anzeiger
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.06.2010Schicksal, Wasser, Wogen
Der Schweizer Tim Krohn badet im Realismus-Tümpel
In Schleswig-Holstein leckt die Ostsee an flache Strände und bricht sich an steilen Küsten. Das Wasser hebt und senkt sich und zieht die Figuren des neuen Romans von Tim Krohn "Ans Meer". Der Autor will sie dort in den ewigen Wogen des Lebens baden. Die Handlung schwappt von einem menschlichen Drama zum nächsten und spült dabei Konflikte und knifflige Situationen an.
Gleich als Auftakt sehen wir Anna, reizende Doktorandin der Psychologie, aus ihrem Büro an der Kieler Christian-Albrechts-Universität stürzen. Sie, die einen unstillbaren Kinderwunsch verspürt, erfährt von der Zeugungsunfähigkeit ihres Freundes und verlässt ihn in wütender Verzweiflung. Die Krise der Krisenpsychologin löst eine Rückwendung in die Vergangenheit und die Erinnerung an eine Jahre zurückliegende Katastrophe aus. Dem damaligen Geschehen nähert sich der Roman schrittweise und erzähltechnisch mit einiger Ambition. Denn die Perspektive wechselt von Anna zu ihrer Freundin Josefa und deren elfjährigem Sohn, die übrigens schon in Tim Krohns Erzählband "Heimweh" auftraten. Mutter und Kind leben in Zürich in einer symbiotischen Beziehung, und hier ist es ein Segelunfall, der das Verdrängte an die Oberfläche des Bewusstseins spült: Anna und Josefas Familien hatten in ihrer Jugend ein Ferienhaus am Meer, in der Hohwachter Bucht, in der Josefas Mutter ertrank.
Von Josefa erfahren wir, dass dem Tod ihrer Mutter ein Liebesverrat des Vaters vorausging, der sie so traumatisierte, dass sie mit siebzehn in den Süden floh. Von Anna hören wir, dass sie an der Entwicklung nicht unschuldig war. Tim Krohn möchte multiperspektivisch erzählen. Jedes Kapitel ist mit dem Namen einer vor- und zurückblickenden Figur aus dem Familienensemble überschrieben. Die Aufsplitterung in verschiedene Blickwinkel wirkt aber nicht überzeugend, da es der überall gleichen Erzählerstimme nicht gelingt, ins Innere der Figuren vorzudringen. Noch höchste emotionale Wellenschläge werden resümiert und nicht erlebt. Nachdem das Leben der Damen erklärt ist, treffen sie in Kiel aufeinander. Aber dunkle Vorahnungen verheißen nichts Gutes. Die Hinweise im Text sind so deutlich, dass selbst Leser mit den Zehen im Sand sie kaum übersehen: Josefa liest ein Buch mit dem Titel "Die Tote an der Waterkant", und ihr Sohn sagt, was elfjährige Propheten so sagen: "Du wirst noch sterben, ohne zu wissen, was du mit deinem Leben anfangen willst." Und tatsächlich: Josefa kommt im Norden an und versöhnt sich mit der Vergangenheit. "Während die Sonne tiefer sank, sah sie hinaus auf die Stelle, an der ihre Mutter ertrunken war, um endlich Abschied zu nehmen von den Geistern, die sie all die Jahre gefangen gehalten hatten." Kurz darauf bricht sie zusammen und stirbt.
Bis zu diesem Punkt gehört das Verhältnis von Josefa und ihrem Sohn zu den Stärken des Buchs: konfliktreich, liebevoll, durch fließende Gendergrenzen auf der Höhe der Zeit. Trotz der altklugen Züge des Kindes freut man sich hier an einer Darstellung, die sich nicht mit planen Charakteren in vorhersehbaren Konstellationen zufriedengibt. Mit dem Ableben Josefas kippt die Geschichte ins Melodramatische. Anna erwirbt das schicksalhafte Haus am Meer. Dort will sie den verwaisten Jungen großziehen. Da aber taucht der Vater des Kindes auf, ein, zwei Nebenhandlungen im Gepäck, und das Ringen um den Jungen beginnt. Wir aber wissen: Verwicklungen sind bei strandtauglicher Lektüre dazu da, sich schlussendlich aufs schönste und unwahrscheinlichste zu fügen.
An Schicksal, Wasser und Wogen hat Tim Krohn nicht gespart, so dass seine überlebende Protagonistin am Ende zu der Einsicht kommt: "Die schlichte Wahrheit war doch, dass alle Menschen einmal glücklich waren und sich dann wieder quälten, dass sie kamen und gingen, geboren wurden, gebaren und starben, während draußen, ganz wie jetzt, das Meer und der Regen rauschten." Schlicht ist wohl das rechte Wort - auch für dieses Buch des Schweizer Erzählers, der einen weiten Weg zurückgelegt hat: von seinen experimentellen Anfängen über postmoderne Heimatromane bis zur einfach und realistisch erzählten Geschichte. Das Einfache aber ist schwer zu machen.
SANDRA KERSCHBAUMER
Tim Krohn: "Ans Meer". Roman. Verlag Galiani, Berlin 2009. 303 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schweizer Tim Krohn badet im Realismus-Tümpel
In Schleswig-Holstein leckt die Ostsee an flache Strände und bricht sich an steilen Küsten. Das Wasser hebt und senkt sich und zieht die Figuren des neuen Romans von Tim Krohn "Ans Meer". Der Autor will sie dort in den ewigen Wogen des Lebens baden. Die Handlung schwappt von einem menschlichen Drama zum nächsten und spült dabei Konflikte und knifflige Situationen an.
Gleich als Auftakt sehen wir Anna, reizende Doktorandin der Psychologie, aus ihrem Büro an der Kieler Christian-Albrechts-Universität stürzen. Sie, die einen unstillbaren Kinderwunsch verspürt, erfährt von der Zeugungsunfähigkeit ihres Freundes und verlässt ihn in wütender Verzweiflung. Die Krise der Krisenpsychologin löst eine Rückwendung in die Vergangenheit und die Erinnerung an eine Jahre zurückliegende Katastrophe aus. Dem damaligen Geschehen nähert sich der Roman schrittweise und erzähltechnisch mit einiger Ambition. Denn die Perspektive wechselt von Anna zu ihrer Freundin Josefa und deren elfjährigem Sohn, die übrigens schon in Tim Krohns Erzählband "Heimweh" auftraten. Mutter und Kind leben in Zürich in einer symbiotischen Beziehung, und hier ist es ein Segelunfall, der das Verdrängte an die Oberfläche des Bewusstseins spült: Anna und Josefas Familien hatten in ihrer Jugend ein Ferienhaus am Meer, in der Hohwachter Bucht, in der Josefas Mutter ertrank.
Von Josefa erfahren wir, dass dem Tod ihrer Mutter ein Liebesverrat des Vaters vorausging, der sie so traumatisierte, dass sie mit siebzehn in den Süden floh. Von Anna hören wir, dass sie an der Entwicklung nicht unschuldig war. Tim Krohn möchte multiperspektivisch erzählen. Jedes Kapitel ist mit dem Namen einer vor- und zurückblickenden Figur aus dem Familienensemble überschrieben. Die Aufsplitterung in verschiedene Blickwinkel wirkt aber nicht überzeugend, da es der überall gleichen Erzählerstimme nicht gelingt, ins Innere der Figuren vorzudringen. Noch höchste emotionale Wellenschläge werden resümiert und nicht erlebt. Nachdem das Leben der Damen erklärt ist, treffen sie in Kiel aufeinander. Aber dunkle Vorahnungen verheißen nichts Gutes. Die Hinweise im Text sind so deutlich, dass selbst Leser mit den Zehen im Sand sie kaum übersehen: Josefa liest ein Buch mit dem Titel "Die Tote an der Waterkant", und ihr Sohn sagt, was elfjährige Propheten so sagen: "Du wirst noch sterben, ohne zu wissen, was du mit deinem Leben anfangen willst." Und tatsächlich: Josefa kommt im Norden an und versöhnt sich mit der Vergangenheit. "Während die Sonne tiefer sank, sah sie hinaus auf die Stelle, an der ihre Mutter ertrunken war, um endlich Abschied zu nehmen von den Geistern, die sie all die Jahre gefangen gehalten hatten." Kurz darauf bricht sie zusammen und stirbt.
Bis zu diesem Punkt gehört das Verhältnis von Josefa und ihrem Sohn zu den Stärken des Buchs: konfliktreich, liebevoll, durch fließende Gendergrenzen auf der Höhe der Zeit. Trotz der altklugen Züge des Kindes freut man sich hier an einer Darstellung, die sich nicht mit planen Charakteren in vorhersehbaren Konstellationen zufriedengibt. Mit dem Ableben Josefas kippt die Geschichte ins Melodramatische. Anna erwirbt das schicksalhafte Haus am Meer. Dort will sie den verwaisten Jungen großziehen. Da aber taucht der Vater des Kindes auf, ein, zwei Nebenhandlungen im Gepäck, und das Ringen um den Jungen beginnt. Wir aber wissen: Verwicklungen sind bei strandtauglicher Lektüre dazu da, sich schlussendlich aufs schönste und unwahrscheinlichste zu fügen.
An Schicksal, Wasser und Wogen hat Tim Krohn nicht gespart, so dass seine überlebende Protagonistin am Ende zu der Einsicht kommt: "Die schlichte Wahrheit war doch, dass alle Menschen einmal glücklich waren und sich dann wieder quälten, dass sie kamen und gingen, geboren wurden, gebaren und starben, während draußen, ganz wie jetzt, das Meer und der Regen rauschten." Schlicht ist wohl das rechte Wort - auch für dieses Buch des Schweizer Erzählers, der einen weiten Weg zurückgelegt hat: von seinen experimentellen Anfängen über postmoderne Heimatromane bis zur einfach und realistisch erzählten Geschichte. Das Einfache aber ist schwer zu machen.
SANDRA KERSCHBAUMER
Tim Krohn: "Ans Meer". Roman. Verlag Galiani, Berlin 2009. 303 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen bei allem Ehrgeiz dann doch eher "schlichten" Roman hat Sandra Kerschbaumer in Tim Krohns "Ans Meer" gefunden. Indem sich der Schweizer Autor für eine vielfach aufgefächerte Perspektive in Vor- und Rückblenden entscheidet, demonstriert er zwar seinen ambitionierten erzähltechnischen Zugriff auf diese Geschichte um eine Familientragödie, räumt die Rezensentin ein. Allerdings scheint es Krohn nicht zu gelingen, den verschiedenen Figuren auch eine wirklich eigene Stimmen zu geben, zudem perlen die bald dramatischen, bald tragischen Geschehnisse an der Rezensentin ab, weil hier vor allem "resümiert" statt "erzählt" wird, wie sie beklagt. Als Glanzpunkt des Romans hebt Kerschbaumer das Verhältnis der Hauptfigur Josefa zu ihrem 11-jährigen Sohn Jens hervor, die man schon aus einem früheren Buch Krohns kennt. Leider wandelt sich der Roman nach Josefas Tod aber ins "Melodramatische", wie die Rezensentin unfroh feststellt. So kommt sie zu dem Schluss, dass das Realistisch-Einfache, das der Autor mit diesem Roman offenbar angestrebt hat, eben "schwer zu machen" und in diesem Fall wohl nicht recht gelungen ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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