Ehre, Treue, Schande und Kameradschaft: Raphael Gross stellt in diesem Buch erstmals eine moralhistorische Perspektive auf die NS-Geschichte vor. Er zeigt, dass erst ein System von gegenseitig eingeforderten moralischen Gefühlen und Tugenden die Begeisterung der deutschen Bevölkerung für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ermöglicht hat. Politische Reden, Schulbücher und ebenso der scheinbar apolitische Unterhaltungsbetrieb waren von dieser Moral geprägt. Raphael Gross zeigt in seiner wegweisenden Darstellung, dass diese von vielen getragene, verbrecherische NS-Moral nach der militärischen Niederlage 1945 nicht plötzlich verschwunden ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.09.2010Ehre, Treue, Schande . . .
Moral vor und nach 1945
Den Zusammenbruch der Moral im Nationalsozialismus gab es nicht - auch wenn man unmittelbar nach dem Ende des Hitler-Staates die Jahre von 1933 bis 1945 als unmoralische und amoralische Zeit beschrieb. Dies diente - so legt Raphael Gross, der Direktor des Jüdischen Museums und des Fritz-Bauer- Instituts in Frankfurt am Main überzeugend dar - lediglich dazu, der Frage "nach der tatsächlichen NS-Moral und ihren Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit" auszuweichen. Zu unterscheiden sei zwischen universellen und partikularen Moralsystemen; die letztgenannten verzichten immer auf Begründungen allen gegenüber und "unterscheiden nicht sehr scharf zwischen Moral und Konvention".
Die nationalsozialistischen Theorien trennten zwischen "guten" und "schlechten" Menschenrassen, wobei die einen in der "Volksgemeinschaft" durch Ehre, Treue, Anstand, Kameradschaft verbunden waren. In diesem Zusammenhang weist Gross auf die Nürnberger Gesetze von 1935 hin. Reichsbürger war laut Reichsbürgergesetz nur "der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes", was die Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradierte. Nur der Reichsbürger konnte "in Treue" dienen. Und durch das "Blutschutzgesetz" sollte die "deutsche Ehre" geschützt werden. Diese Verknüpfung stellt Gross heraus und bezieht den berüchtigten Wahlspruch der SS "Meine Ehre heißt Treue" mit ein; es ging damals darum, "sich nicht der ,Rassenschande' schuldig zu machen".
Dem Begriff der Schande widmet sich der Autor durch eine Analyse des antisemitischen Propagandastreifens "Jud Süß" (1940). Der Film thematisierte nicht allein Dorotheas Vergewaltigung durch Süß, sondern überdies nach geltendem NS-Recht die "Rassenschande". Das nationalsozialistische Verständnis von Schande habe "die semantische Bedeutung von ,jemandem Schande machen' - nämlich dem Vater, dem Ehemann und allen Württembergern - in den Vordergrund" gestellt: "Obwohl der Jude der Verbrecher, also die Ursache der Befleckung ist, geht die Schande doch eher von der befleckten Dorothea aus. Kurz, die Person, die ,Schande macht', muss der Gemeinschaft selbst angehören. Durch ihren Selbstmord löst Dorothea das damit verbundene moralische Dilemma, was mit ihr, die Schande über die Gemeinschaft gebracht hat, nun eigentlich geschehen soll."
Auch was die im "Dritten Reich" beschworene "deutsche Treue" betreffe, fehle es an begriffsgeschichtlichen Untersuchungen. Weil es sich um "Treue zum Blut" gehandelt habe, tendierte der NS-Gebrauch "eindeutig zum gesellschaftlichen Einschluss- und vor allem Ausgrenzungsmechanismus". Das veranschaulicht Gross an dem "scheinbar ganz harmlosen" Kriminalfilm "Hotel Sacher" (1939) mit Blick auf das Problem Landesverrat, um danach den Bogen zu schlagen zum Kassenschlager "Der Untergang" (2004) über Hitlers letzte Bunker-Tage: "Die Treue gegenüber dem deutschen Volk oder der Verrat an ihm bildet im Film die moralische Grenze zwischen Gut und Böse. Der ideologische Kontext dieser Botschaft wird - etwa durch die Darstellung der ,bösen' Nazis - einfach ausgeblendet, so dass die Zuschauer nicht sofort bemerken, welche Art der Treue hier positiv bewertet wird." Diese beziehe sich "nicht direkt auf das ,Blut', aber auch nicht auf verfassungsmäßige Prinzipien, sondern eher auf die nicht weiter als Wert hinterfragte ,deutsche Volksgemeinschaft'."
Während der Zeit des Nationalsozialismus habe es ein Schuldempfinden vor allem gegenüber der eigenen Gemeinschaft mit "Führer" Hitler an der Spitze gegeben. Eine "große Zahl der Deutschen" sei "bereitwillig den Imperativen von Mord und Krieg" gefolgt: "Zwischen Tätern und Zuschauern wurde der Übergang fließend." Die Täter konnten daher von sich behaupten, "dass sie ihre Verbrechen im Namen aller anderen begangen hatten. Alle - das war für sie selbstverständlich nur die Gruppe von Menschen, die ihre Moral mit zu tragen bereit waren, das waren alle ,Deutschen'."
Zu der seit 1933 "erlernten partikularen Moral" seien nach 1945 neue Wertvorstellungen hinzugekommen, "die nur vor dem Hintergrund einer universellen Moral ihre Bedeutung erhielten". Wie beides manchmal vermengt werde, versucht Gross mit starken Überzeichnungen aufzuzeigen an Martin Walsers Frankfurter Friedenspreisrede (1998), wo Schande an die Stelle von Schuld getreten sei, so dass der Schriftsteller eine "geschichtliche Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der von der Schande Gezeichneten" hergestellt hätte. Hier ist noch viel zu erforschen, denn Gross versteht sein Buch als "Versuch", sich dem Thema Nationalsozialismus und Moral zu nähern - ein sehr anregender und höchst aufschlussreicher.
RAINER BLASIUS
Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 278 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Moral vor und nach 1945
Den Zusammenbruch der Moral im Nationalsozialismus gab es nicht - auch wenn man unmittelbar nach dem Ende des Hitler-Staates die Jahre von 1933 bis 1945 als unmoralische und amoralische Zeit beschrieb. Dies diente - so legt Raphael Gross, der Direktor des Jüdischen Museums und des Fritz-Bauer- Instituts in Frankfurt am Main überzeugend dar - lediglich dazu, der Frage "nach der tatsächlichen NS-Moral und ihren Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit" auszuweichen. Zu unterscheiden sei zwischen universellen und partikularen Moralsystemen; die letztgenannten verzichten immer auf Begründungen allen gegenüber und "unterscheiden nicht sehr scharf zwischen Moral und Konvention".
Die nationalsozialistischen Theorien trennten zwischen "guten" und "schlechten" Menschenrassen, wobei die einen in der "Volksgemeinschaft" durch Ehre, Treue, Anstand, Kameradschaft verbunden waren. In diesem Zusammenhang weist Gross auf die Nürnberger Gesetze von 1935 hin. Reichsbürger war laut Reichsbürgergesetz nur "der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes", was die Juden zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradierte. Nur der Reichsbürger konnte "in Treue" dienen. Und durch das "Blutschutzgesetz" sollte die "deutsche Ehre" geschützt werden. Diese Verknüpfung stellt Gross heraus und bezieht den berüchtigten Wahlspruch der SS "Meine Ehre heißt Treue" mit ein; es ging damals darum, "sich nicht der ,Rassenschande' schuldig zu machen".
Dem Begriff der Schande widmet sich der Autor durch eine Analyse des antisemitischen Propagandastreifens "Jud Süß" (1940). Der Film thematisierte nicht allein Dorotheas Vergewaltigung durch Süß, sondern überdies nach geltendem NS-Recht die "Rassenschande". Das nationalsozialistische Verständnis von Schande habe "die semantische Bedeutung von ,jemandem Schande machen' - nämlich dem Vater, dem Ehemann und allen Württembergern - in den Vordergrund" gestellt: "Obwohl der Jude der Verbrecher, also die Ursache der Befleckung ist, geht die Schande doch eher von der befleckten Dorothea aus. Kurz, die Person, die ,Schande macht', muss der Gemeinschaft selbst angehören. Durch ihren Selbstmord löst Dorothea das damit verbundene moralische Dilemma, was mit ihr, die Schande über die Gemeinschaft gebracht hat, nun eigentlich geschehen soll."
Auch was die im "Dritten Reich" beschworene "deutsche Treue" betreffe, fehle es an begriffsgeschichtlichen Untersuchungen. Weil es sich um "Treue zum Blut" gehandelt habe, tendierte der NS-Gebrauch "eindeutig zum gesellschaftlichen Einschluss- und vor allem Ausgrenzungsmechanismus". Das veranschaulicht Gross an dem "scheinbar ganz harmlosen" Kriminalfilm "Hotel Sacher" (1939) mit Blick auf das Problem Landesverrat, um danach den Bogen zu schlagen zum Kassenschlager "Der Untergang" (2004) über Hitlers letzte Bunker-Tage: "Die Treue gegenüber dem deutschen Volk oder der Verrat an ihm bildet im Film die moralische Grenze zwischen Gut und Böse. Der ideologische Kontext dieser Botschaft wird - etwa durch die Darstellung der ,bösen' Nazis - einfach ausgeblendet, so dass die Zuschauer nicht sofort bemerken, welche Art der Treue hier positiv bewertet wird." Diese beziehe sich "nicht direkt auf das ,Blut', aber auch nicht auf verfassungsmäßige Prinzipien, sondern eher auf die nicht weiter als Wert hinterfragte ,deutsche Volksgemeinschaft'."
Während der Zeit des Nationalsozialismus habe es ein Schuldempfinden vor allem gegenüber der eigenen Gemeinschaft mit "Führer" Hitler an der Spitze gegeben. Eine "große Zahl der Deutschen" sei "bereitwillig den Imperativen von Mord und Krieg" gefolgt: "Zwischen Tätern und Zuschauern wurde der Übergang fließend." Die Täter konnten daher von sich behaupten, "dass sie ihre Verbrechen im Namen aller anderen begangen hatten. Alle - das war für sie selbstverständlich nur die Gruppe von Menschen, die ihre Moral mit zu tragen bereit waren, das waren alle ,Deutschen'."
Zu der seit 1933 "erlernten partikularen Moral" seien nach 1945 neue Wertvorstellungen hinzugekommen, "die nur vor dem Hintergrund einer universellen Moral ihre Bedeutung erhielten". Wie beides manchmal vermengt werde, versucht Gross mit starken Überzeichnungen aufzuzeigen an Martin Walsers Frankfurter Friedenspreisrede (1998), wo Schande an die Stelle von Schuld getreten sei, so dass der Schriftsteller eine "geschichtliche Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der von der Schande Gezeichneten" hergestellt hätte. Hier ist noch viel zu erforschen, denn Gross versteht sein Buch als "Versuch", sich dem Thema Nationalsozialismus und Moral zu nähern - ein sehr anregender und höchst aufschlussreicher.
RAINER BLASIUS
Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 278 S., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Willi Winkler verfolgt diese Untersuchung der nationalsozialistischen Moral von ihrem Ausgangspunkt (Heinrich Himmlers Posener Rede) und stellt fest: Eine Studie ist das nicht, allenfalls die Aneinanderreihung von überarbeiteten Aufsätzen und Vorlesungen. Dass der Autor Raphael Gross keine Moralgeschichte geschrieben hat, die den Übergang vom Nationalsozialismus zum Nachkriegsdeutschland untersucht, bedauert der Rezensent. Die Texte findet er dennoch lesenswert, vor allem einen über Jaspers Schrift "Die Schuldfrage". Martin Walsers Paulskirchenrede, meint Winkler, hätte übrigens auch gut ins Buch gepasst.
© Perlentaucher Medien GmbH
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