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Unmittelbar nachdem am 11. September 2001 die beiden Flugzeuge in das World Trade Center geflogen waren, schluckten Präsident Bush und das Personal des Weißen Hauses das Anthrax-Antibiotikum Cipro. Eine Woche nach den Anschlägen tauchten fünf anonyme Briefe mit getrockneten Anthrax-Sporen auf, die fünf Todesopfer forderten. Anthrax und die Anschläge schienen in einem Zusammenhang zu stehen.
Den fünf echten Briefen folgten mehrere tausend falsche und der Anschlag erwies sich nicht als "Bioterror". Philipp Sarasin entfaltet in seinem brillanten und spannenden Essay die verwickelte Geschichte
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Produktbeschreibung
Unmittelbar nachdem am 11. September 2001 die beiden Flugzeuge in das World Trade Center geflogen waren, schluckten Präsident Bush und das Personal des Weißen Hauses das Anthrax-Antibiotikum Cipro. Eine Woche nach den Anschlägen tauchten fünf anonyme Briefe mit getrockneten Anthrax-Sporen auf, die fünf Todesopfer forderten. Anthrax und die Anschläge schienen in einem Zusammenhang zu stehen.

Den fünf echten Briefen folgten mehrere tausend falsche und der Anschlag erwies sich nicht als "Bioterror". Philipp Sarasin entfaltet in seinem brillanten und spannenden Essay die verwickelte Geschichte dieser Briefe und zeigt, wie aus den wenigen echten Anthrax-Briefen die Metapher "Anthrax" wird, die auf ähnliche Weise gefährlich und infektiös wirkt - bis hin zum Einmarschbefehl in den Irak.
Autorenporträt
Philipp Sarasin; Ordinarius für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Wissenschaften, der Körpergeschichte und der Theorie der Geschichtswissenschaft.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2004

Achtung Fremdkörper!
Philipp Sarasin findet die Basis für Bushs Kriegsrhetorik

Sherlock Holmes könnte als bekennender Imperialist gelten: Sein "Kombiniere!" war darauf ausgerichtet, die krankhaften Elemente der Gesellschaft zu identifizieren und unschädlich zu machen. Was für den Detektiv Holmes die Schurken, waren für seinen Schöpfer, den Arzt Arthur Conan Doyle, die Mikroben. In den Holmes-Romanen schuf er Bedrohungsszenarien, die das britische Imperium als ansteckungsgefährdeten Körper zeichneten: Infektiöse Fremdkörper und Fremd-Körper stellten eine tödliche Gefahr dar.

Aus Schurken wurden Schurkenstaaten: Der zeitgenössische Conan Doyle, folgt man der Argumentation des Schweizer Publizisten und Historikers Philipp Sarasin, ist George W. Bush. In seinem Buch "Anthrax" beleuchtet Sarasin die Zeit nach dem 11. September als Rückfall in jene Denkmuster, die nicht erst seit der Kolonialzeit dazu dienen, Grenzen zwischen den ansteckenden, unreinen Fremdkörpern und "uns" zu ziehen. Nur mittels dieses arbiträren Akts der Abschottung, so die dahinter verborgene Logik, kann eine unverseuchte, kollektive Identität gestiftet und aufrecht erhalten werden.

Als Ausgangspunkt dient Sarasin die Hysterie um jene Anthrax-Briefe, die kurz nach dem Attentat auf das World Trade Center hier und da auftauchten. Indem er das Phänomen Anthrax als Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation gewählt hat, hat sich Sarasin die ideale Basis für eine ebenso originelle wie komplexe Analyse geschaffen. Sein grundlegender Kniff ist, Anthrax von "Anthrax" zu unterscheiden: Anthrax ist die tödliche Krankheit, die vom weiß-pulvrigen bacillus anthracis übertragen wird, und "Anthrax" ist eine mediale Konstruktion: "Während Anthrax fünf Menschen tötete, vergiftete ,Anthrax' das Imaginäre von Millionen", schreibt Sarasin. Mittels einer metaphorischen Verschiebung sei "Anthrax" zu einem Zeichen geworden, das alle diffusen Ängste vor infizierten Fremdkörpern in sich vereinigt. Somit kann all das Babypuder, Mehl und Kokain, das als sogenanntes hoax anthrax kursierte, als manifest gewordenes "Anthrax" gelten, als die materialisierte Fiktion.

Diese Metamorphose dient Sarasin auch als Grundlage für Bushs argumentative Verknüpfung des 11. September mit Saddam Hussein. Scharfsinnig zeichnet er diese Koppelung von Signifikanten nach und beruft sich dabei neben zahlreichen Internetquellen vor allem auf offizielle Äußerungen der amerikanischen Regierung zwischen den Terrorangriffen im September 2001 und dem Beginn des Irak-Kriegs im März 2003. Die Art und Weise, wie sich Bush, laut Sarasin, von Manhattan nach Bagdad argumentiert hat, gleicht einer metonymischen Kettenreaktion. Sie wird ausgelöst von der Verwandtschaft zwischen Flugzeugen und Anthrax: Beide greifen aus der Luft an. Diese Assoziation soll am 11. September 2001 sowohl der Grund gewesen sein, daß die Flugzeuge nicht rechtzeitig abgeschossen wurden, als auch dafür, daß unmittelbar nach dem Absturz in New York Biowaffenexperten im Einsatz waren, die die Luft auf verdächtige Spuren untersuchten. Dazu kamen die Anthraxbriefe, und die metonymische Verschiebung im Sinne Sarasins nahm ihren Lauf. Er belegt mit Textauszügen, wie in Bushs Reden aus Terror Bioterror wurde, der amerikanische Präsident mit einer weiteren kleinen Akzentverschiebung bei den Massenvernichtungswaffen landete und schließlich beim Angriff auf den Irak.

Wie klar Sarasin "Anthrax" als zeitgenössische Ausformung kolonialer Logik durchschaut hat, die ihre Politik in erster Linie auf Fiktionen und Metaphern aufbaut, bezeugt das Kapitel über "Fremdkörper". Drohkulisse, Fiktion, Szenario: was Sarasin beschreibt, ist nichts anders als das Funktionieren von Propaganda, allerdings benennt er sie nicht als solche. Wie gefährlich schmal ebenjener Grad zwischen reiner Fiktion und Szenarien als Form politischer Instrumente ist, macht Sarasin deutlich, indem er eine ganze Batterie an Kinofilmen, Romanen und Videospielen auffährt, die alle erstaunliche Parallelen zu den Ereignissen nach den realen Terroranschlägen aufweisen. Leider krankt das durchweg überzeugende Buch an einigen ärgerlich nachlässig lektorierten Passagen - seien es die ungelenken Übersetzungen aus dem Englischen oder die vielen Rechtschreibfehler.

Conan Doyle wußte, wer seine Schurken waren, er hatte sie schließlich eigenhändig erschaffen. Aber ob sich George W. Bush des Eigenlebens seiner Fiktionen bewußt ist, ist fraglich. Eine Krankheit, bei der man aus lauter Angst vor ansteckenden Fremdkörpern Gefährliches und Harmloses nicht mehr unterscheiden kann, kann leicht zur ausgewachsenen Autoimmunkrankheit werden. In diesem Sinne passen die Ereignisse nach Erscheinen des Anthrax-Bandes gut in Sarasins Gesundheits-Konzept: Die Anschläge auf Madrid signalisierten lediglich die weitere Verbreitung des Virus im West-Körper. Mit ihrem prompten Rückzug aus dem Irak setzten die Spanier die Krankheitsfiktion in die Realität um. Eine Reaktion, die eindeutige Parallelen zu einstiger imperialer Immunologie aufweist: Finger weg von fremden Körpern, Vorsicht Ansteckungsgefahr!

ANNE HAEMING

Philipp Sarasin: "Anthrax". Bioterror als Phantasma. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 196 S., br., 9,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Wieso, fragt Philipp Sarasin in seinem Buch, wieso bereitete das weiße Haus am Morgen des 11. September Maßnahmen zur Abwehr biologischer Kampfstoffe vor? Wie wurde innerhalb kürzester Zeit aus Terror "Bioterror"? Die Antwort: "Die Fantasie war durch die Fiktion darauf vorbereitet." Fiktionen, so die Rezensentin Elisabeth von Thadden, haben die Reaktion auf die Anschläge gesteuert, und dieselben Fiktionen haben die Gegenmaßnahmen gesteuert und dazu geführt, dass die Hälfte aller Amerikaner bald dachte, Saddam Hussein habe die Anschläge zu verantworten. Fiktionen haben die Deutung des Angriffs in den Bereich der Biologie gelenkt, argumentiert Sarasin, und Thadden befindet: "Ein derart gelungener Nachweis, was die Kulturwissenschaft kann, war seit langem nicht zu lesen." Sarasin gehe es nicht darum, die Realität des Terrors zu bestreiten, sondern darauf hinzuweisen, dass der Art und Weise seiner Bekämpfung ein Phantasma - ein "zentrales Fantasma der Moderne" - zugrunde liegt: die Vorstellung vom Feind als Mikrobe, als unsichtbarer, parasitärer Eindringling, der ausgerottet werden muss. Das Phantasma verbindet unverbundene Handlungsströme - die Angst vor Anthrax, vermeintliche Massenvernichtungswaffen, Flüchtlinge - und zu einer Politik der "Seuchenkontrolle". Und genau hier, so Thadden, liege die kritische Substanz von Sarasins Arbeit: In der Warnung vor einer "Biologisierung der Politik". "Dieses Buch", schreibt sie, "macht deutlich, wie Gesellschaften, die vom fiktiven Albtraum der biologischen Bedrohung regiert werden, dem kollektiven Imaginären erliegen".

© Perlentaucher Medien GmbH
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