Unmittelbar nachdem am 11. September 2001 die beiden Flugzeuge in das World Trade Center geflogen waren, schluckten Präsident Bush und das Personal des Weißen Hauses das Anthrax-Antibiotikum Cipro. Eine Woche nach den Anschlägen tauchten fünf anonyme Briefe mit getrockneten Anthrax-Sporen auf, die fünf Todesopfer forderten. Anthrax und die Anschläge schienen in einem Zusammenhang zu stehen.
Den fünf echten Briefen folgten mehrere tausend falsche und der Anschlag erwies sich nicht als "Bioterror". Philipp Sarasin entfaltet in seinem brillanten und spannenden Essay die verwickelte Geschichte dieser Briefe und zeigt, wie aus den wenigen echten Anthrax-Briefen die Metapher "Anthrax" wird, die auf ähnliche Weise gefährlich und infektiös wirkt - bis hin zum Einmarschbefehl in den Irak.
Den fünf echten Briefen folgten mehrere tausend falsche und der Anschlag erwies sich nicht als "Bioterror". Philipp Sarasin entfaltet in seinem brillanten und spannenden Essay die verwickelte Geschichte dieser Briefe und zeigt, wie aus den wenigen echten Anthrax-Briefen die Metapher "Anthrax" wird, die auf ähnliche Weise gefährlich und infektiös wirkt - bis hin zum Einmarschbefehl in den Irak.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.01.2005Die Infektion des Bösen
Anthrax und Guantanamo als Belege für Ansteckungshysterien
Terror ist eine Strategie der Verunsicherung, die mit vorgefundenen Ängsten spielt. Reaktionen auf den Terror sind deshalb durch die vorhandenen Ängste und ihre Verfestigung zu Erwartungen konditioniert. Philipp Sarasin verdeutlicht dies am Beispiel von „Anthrax” als Chiffre für das Imaginäre des Terrorismus: die zentrale Metapher der Globalisierung ist demnach „infection”, Bioterror das dazugehörige „Spiel”.
Sicher, eine interessante These. Wie kann sich aber eine solche Spekulation gegenüber dem Ernst der Lage behaupten? Sarasins glänzender Essay lebt von einem zentralen Argument: der metaphorischen Gleichsetzung von Körper und dem „politischen” Körper (Nation, Staat oder Stadt), der durch das Eindringen von Fremdkörpern „infiziert” wird. Diese tief sitzende, historisch verankerte Vorstellung von „Infektion” (oft mit dem Fremden, dem Anderen assoziiert) konditioniert unsere Vorstellungen von der neuen Qualität des Terrorismus: schleichend, heimtückisch, zu spät schon, wenn die Symptome der Infektion auftreten. Schon vor dem 11. September habe es in den Vereinigten Staaten die „fiebrige Erwartung eines Bioterroranschlags” gegeben. Als die Anschläge am 11. September erfolgten, wirkten sie wie das Eindringen von Mikroorganismen in den Körper. Nicht die Air Force wurde mit ihren Abfangjägern mobilisiert, sondern die Nationalgarde auf die Suche nach pathogenen Mikroorganismen geschickt. Dies war, so Sarasin, die einzige Abwehrmaßnahme: die Furcht vor „infection” war das bestimmende Motiv.
Plausibel wird diese These, wenn man auf die Anthrax-Hysterie nach dem 11. September schaut. Schon vorher hatte es, meist aus dem Umfeld rechtsextremer Abtreibungsgegner, Briefe gegeben, in denen angeblich Anthrax verschickt worden war; diese Fälle verschwanden aber im allgemeinen Rauschen der Nachrichten. Dies änderte sich mit dem 11. September. Wenige Tage danach tauchten Briefe mit echtem Anthrax auf. Fünf Menschen starben, doch die allgemeine Hysterie geriet außer Kontrolle: War dies nicht der Beleg für den Angriff auf die USA mit Massenvernichtungswaffen? Ein Teil der echten Anthrax-Briefe stammten aber wohl aus den USA selbst. Die (erfolglosen) Anschläge auf die beiden demokratischen Senatoren Daschle und Leahy wurden mit einer Anthrax-Variante durchgeführt, die wegen ihrer hohen Komplexität nur aus einem US-Labor stammen könne. Gab es hier einen Trittbrettfahrer, der die Angst vor Bioterror für eigene Zwecke ausnutzte? Dies lässt sich wohl nicht mehr feststellen. Trittbrettfahrer gab es aber unbestreitbar bei den vielen Fällen, in denen mit anderen Substanzen ein falscher Alarm ausgelöst wurde. Hier wurde die Hysterie angefacht und von dem realen Kern abgekoppelt.
Sarasin ruft in Erinnerung, dass der Ursprung der modernen Disziplingesellschaft die städtischen Quarantänemaßnahmen gegen die Pest gewesen seien. Auch hier zieht er eine Parallele zur heutigen Situation. Die verschärften Sicherheitsmaßnahmen des Patriot Act, aber auch die Absonderung der Gefangenen in Guantanamo sind ein Nachhall der Disziplinierung als „Biopolitik infizierter Körper”.
Sarasins philosophisch anspruchsvolle Abhandlung gerät aber bisweilen ins Abseits der Verschwörungsspekulation. Als Denkmöglichkeit naheliegend scheint ihm, dass die amerikanische Regierung die Warnungen eines bevorstehenden Anschlags nicht nachdrücklicher verfolgt habe, weil sich durch einen erfolgten Anschlag interessante geopolitische Optionen und innenpolitische Effekte eröffnen würden. Das ist natürlich Unsinn. Die verworrenen Wege administrativer Kommunikation (und das Scheitern von Kommunikation) mit einem strategischen Masterplan zu verwechseln (der zudem viele US-Amerikaner das Leben kosten würde), entstammen doch eher den Allmachtsphantasien, die dem Reich des Bösen zugeschrieben werden. Oder aber Sarasin wird zum Opfer seiner eigenen, hochkomplexen Herangehensweise an das Thema, die ihn das Naheliegende, die einfache Erklärung nicht mehr sehen lässt.
Dieser Einwand mag denn auch für den Essay insgesamt gelten: Was folgt denn aus seinen klugen Thesen, außer dass der Leser den Autor nun für einen klugen Mann hält? Unzweifelhaft ist die Lektüre spannend, ja ansteckend spannend. Doch fühlt man sich wenig später wie ein von einem Infekt Genesener, der wie durch einen Schleier die Erkenntnisse seiner fiebrigen Träume Revue passieren lässt und feststellt, wie wenig ihn diese bei der Bewältigung der Probleme in der realen Welt zu helfen vermögen.
MATTHIAS ZIMMER
PHILIPP SARASIN: Anthrax. Bioterror als Phantasma. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004. 196 Seiten, 9 Euro.
US-Außenminister Colin Powell mit einem Anthrax-Fläschchen.
Foto: Reuters
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Anthrax und Guantanamo als Belege für Ansteckungshysterien
Terror ist eine Strategie der Verunsicherung, die mit vorgefundenen Ängsten spielt. Reaktionen auf den Terror sind deshalb durch die vorhandenen Ängste und ihre Verfestigung zu Erwartungen konditioniert. Philipp Sarasin verdeutlicht dies am Beispiel von „Anthrax” als Chiffre für das Imaginäre des Terrorismus: die zentrale Metapher der Globalisierung ist demnach „infection”, Bioterror das dazugehörige „Spiel”.
Sicher, eine interessante These. Wie kann sich aber eine solche Spekulation gegenüber dem Ernst der Lage behaupten? Sarasins glänzender Essay lebt von einem zentralen Argument: der metaphorischen Gleichsetzung von Körper und dem „politischen” Körper (Nation, Staat oder Stadt), der durch das Eindringen von Fremdkörpern „infiziert” wird. Diese tief sitzende, historisch verankerte Vorstellung von „Infektion” (oft mit dem Fremden, dem Anderen assoziiert) konditioniert unsere Vorstellungen von der neuen Qualität des Terrorismus: schleichend, heimtückisch, zu spät schon, wenn die Symptome der Infektion auftreten. Schon vor dem 11. September habe es in den Vereinigten Staaten die „fiebrige Erwartung eines Bioterroranschlags” gegeben. Als die Anschläge am 11. September erfolgten, wirkten sie wie das Eindringen von Mikroorganismen in den Körper. Nicht die Air Force wurde mit ihren Abfangjägern mobilisiert, sondern die Nationalgarde auf die Suche nach pathogenen Mikroorganismen geschickt. Dies war, so Sarasin, die einzige Abwehrmaßnahme: die Furcht vor „infection” war das bestimmende Motiv.
Plausibel wird diese These, wenn man auf die Anthrax-Hysterie nach dem 11. September schaut. Schon vorher hatte es, meist aus dem Umfeld rechtsextremer Abtreibungsgegner, Briefe gegeben, in denen angeblich Anthrax verschickt worden war; diese Fälle verschwanden aber im allgemeinen Rauschen der Nachrichten. Dies änderte sich mit dem 11. September. Wenige Tage danach tauchten Briefe mit echtem Anthrax auf. Fünf Menschen starben, doch die allgemeine Hysterie geriet außer Kontrolle: War dies nicht der Beleg für den Angriff auf die USA mit Massenvernichtungswaffen? Ein Teil der echten Anthrax-Briefe stammten aber wohl aus den USA selbst. Die (erfolglosen) Anschläge auf die beiden demokratischen Senatoren Daschle und Leahy wurden mit einer Anthrax-Variante durchgeführt, die wegen ihrer hohen Komplexität nur aus einem US-Labor stammen könne. Gab es hier einen Trittbrettfahrer, der die Angst vor Bioterror für eigene Zwecke ausnutzte? Dies lässt sich wohl nicht mehr feststellen. Trittbrettfahrer gab es aber unbestreitbar bei den vielen Fällen, in denen mit anderen Substanzen ein falscher Alarm ausgelöst wurde. Hier wurde die Hysterie angefacht und von dem realen Kern abgekoppelt.
Sarasin ruft in Erinnerung, dass der Ursprung der modernen Disziplingesellschaft die städtischen Quarantänemaßnahmen gegen die Pest gewesen seien. Auch hier zieht er eine Parallele zur heutigen Situation. Die verschärften Sicherheitsmaßnahmen des Patriot Act, aber auch die Absonderung der Gefangenen in Guantanamo sind ein Nachhall der Disziplinierung als „Biopolitik infizierter Körper”.
Sarasins philosophisch anspruchsvolle Abhandlung gerät aber bisweilen ins Abseits der Verschwörungsspekulation. Als Denkmöglichkeit naheliegend scheint ihm, dass die amerikanische Regierung die Warnungen eines bevorstehenden Anschlags nicht nachdrücklicher verfolgt habe, weil sich durch einen erfolgten Anschlag interessante geopolitische Optionen und innenpolitische Effekte eröffnen würden. Das ist natürlich Unsinn. Die verworrenen Wege administrativer Kommunikation (und das Scheitern von Kommunikation) mit einem strategischen Masterplan zu verwechseln (der zudem viele US-Amerikaner das Leben kosten würde), entstammen doch eher den Allmachtsphantasien, die dem Reich des Bösen zugeschrieben werden. Oder aber Sarasin wird zum Opfer seiner eigenen, hochkomplexen Herangehensweise an das Thema, die ihn das Naheliegende, die einfache Erklärung nicht mehr sehen lässt.
Dieser Einwand mag denn auch für den Essay insgesamt gelten: Was folgt denn aus seinen klugen Thesen, außer dass der Leser den Autor nun für einen klugen Mann hält? Unzweifelhaft ist die Lektüre spannend, ja ansteckend spannend. Doch fühlt man sich wenig später wie ein von einem Infekt Genesener, der wie durch einen Schleier die Erkenntnisse seiner fiebrigen Träume Revue passieren lässt und feststellt, wie wenig ihn diese bei der Bewältigung der Probleme in der realen Welt zu helfen vermögen.
MATTHIAS ZIMMER
PHILIPP SARASIN: Anthrax. Bioterror als Phantasma. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004. 196 Seiten, 9 Euro.
US-Außenminister Colin Powell mit einem Anthrax-Fläschchen.
Foto: Reuters
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.07.2004Achtung Fremdkörper!
Philipp Sarasin findet die Basis für Bushs Kriegsrhetorik
Sherlock Holmes könnte als bekennender Imperialist gelten: Sein "Kombiniere!" war darauf ausgerichtet, die krankhaften Elemente der Gesellschaft zu identifizieren und unschädlich zu machen. Was für den Detektiv Holmes die Schurken, waren für seinen Schöpfer, den Arzt Arthur Conan Doyle, die Mikroben. In den Holmes-Romanen schuf er Bedrohungsszenarien, die das britische Imperium als ansteckungsgefährdeten Körper zeichneten: Infektiöse Fremdkörper und Fremd-Körper stellten eine tödliche Gefahr dar.
Aus Schurken wurden Schurkenstaaten: Der zeitgenössische Conan Doyle, folgt man der Argumentation des Schweizer Publizisten und Historikers Philipp Sarasin, ist George W. Bush. In seinem Buch "Anthrax" beleuchtet Sarasin die Zeit nach dem 11. September als Rückfall in jene Denkmuster, die nicht erst seit der Kolonialzeit dazu dienen, Grenzen zwischen den ansteckenden, unreinen Fremdkörpern und "uns" zu ziehen. Nur mittels dieses arbiträren Akts der Abschottung, so die dahinter verborgene Logik, kann eine unverseuchte, kollektive Identität gestiftet und aufrecht erhalten werden.
Als Ausgangspunkt dient Sarasin die Hysterie um jene Anthrax-Briefe, die kurz nach dem Attentat auf das World Trade Center hier und da auftauchten. Indem er das Phänomen Anthrax als Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation gewählt hat, hat sich Sarasin die ideale Basis für eine ebenso originelle wie komplexe Analyse geschaffen. Sein grundlegender Kniff ist, Anthrax von "Anthrax" zu unterscheiden: Anthrax ist die tödliche Krankheit, die vom weiß-pulvrigen bacillus anthracis übertragen wird, und "Anthrax" ist eine mediale Konstruktion: "Während Anthrax fünf Menschen tötete, vergiftete ,Anthrax' das Imaginäre von Millionen", schreibt Sarasin. Mittels einer metaphorischen Verschiebung sei "Anthrax" zu einem Zeichen geworden, das alle diffusen Ängste vor infizierten Fremdkörpern in sich vereinigt. Somit kann all das Babypuder, Mehl und Kokain, das als sogenanntes hoax anthrax kursierte, als manifest gewordenes "Anthrax" gelten, als die materialisierte Fiktion.
Diese Metamorphose dient Sarasin auch als Grundlage für Bushs argumentative Verknüpfung des 11. September mit Saddam Hussein. Scharfsinnig zeichnet er diese Koppelung von Signifikanten nach und beruft sich dabei neben zahlreichen Internetquellen vor allem auf offizielle Äußerungen der amerikanischen Regierung zwischen den Terrorangriffen im September 2001 und dem Beginn des Irak-Kriegs im März 2003. Die Art und Weise, wie sich Bush, laut Sarasin, von Manhattan nach Bagdad argumentiert hat, gleicht einer metonymischen Kettenreaktion. Sie wird ausgelöst von der Verwandtschaft zwischen Flugzeugen und Anthrax: Beide greifen aus der Luft an. Diese Assoziation soll am 11. September 2001 sowohl der Grund gewesen sein, daß die Flugzeuge nicht rechtzeitig abgeschossen wurden, als auch dafür, daß unmittelbar nach dem Absturz in New York Biowaffenexperten im Einsatz waren, die die Luft auf verdächtige Spuren untersuchten. Dazu kamen die Anthraxbriefe, und die metonymische Verschiebung im Sinne Sarasins nahm ihren Lauf. Er belegt mit Textauszügen, wie in Bushs Reden aus Terror Bioterror wurde, der amerikanische Präsident mit einer weiteren kleinen Akzentverschiebung bei den Massenvernichtungswaffen landete und schließlich beim Angriff auf den Irak.
Wie klar Sarasin "Anthrax" als zeitgenössische Ausformung kolonialer Logik durchschaut hat, die ihre Politik in erster Linie auf Fiktionen und Metaphern aufbaut, bezeugt das Kapitel über "Fremdkörper". Drohkulisse, Fiktion, Szenario: was Sarasin beschreibt, ist nichts anders als das Funktionieren von Propaganda, allerdings benennt er sie nicht als solche. Wie gefährlich schmal ebenjener Grad zwischen reiner Fiktion und Szenarien als Form politischer Instrumente ist, macht Sarasin deutlich, indem er eine ganze Batterie an Kinofilmen, Romanen und Videospielen auffährt, die alle erstaunliche Parallelen zu den Ereignissen nach den realen Terroranschlägen aufweisen. Leider krankt das durchweg überzeugende Buch an einigen ärgerlich nachlässig lektorierten Passagen - seien es die ungelenken Übersetzungen aus dem Englischen oder die vielen Rechtschreibfehler.
Conan Doyle wußte, wer seine Schurken waren, er hatte sie schließlich eigenhändig erschaffen. Aber ob sich George W. Bush des Eigenlebens seiner Fiktionen bewußt ist, ist fraglich. Eine Krankheit, bei der man aus lauter Angst vor ansteckenden Fremdkörpern Gefährliches und Harmloses nicht mehr unterscheiden kann, kann leicht zur ausgewachsenen Autoimmunkrankheit werden. In diesem Sinne passen die Ereignisse nach Erscheinen des Anthrax-Bandes gut in Sarasins Gesundheits-Konzept: Die Anschläge auf Madrid signalisierten lediglich die weitere Verbreitung des Virus im West-Körper. Mit ihrem prompten Rückzug aus dem Irak setzten die Spanier die Krankheitsfiktion in die Realität um. Eine Reaktion, die eindeutige Parallelen zu einstiger imperialer Immunologie aufweist: Finger weg von fremden Körpern, Vorsicht Ansteckungsgefahr!
ANNE HAEMING
Philipp Sarasin: "Anthrax". Bioterror als Phantasma. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 196 S., br., 9,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philipp Sarasin findet die Basis für Bushs Kriegsrhetorik
Sherlock Holmes könnte als bekennender Imperialist gelten: Sein "Kombiniere!" war darauf ausgerichtet, die krankhaften Elemente der Gesellschaft zu identifizieren und unschädlich zu machen. Was für den Detektiv Holmes die Schurken, waren für seinen Schöpfer, den Arzt Arthur Conan Doyle, die Mikroben. In den Holmes-Romanen schuf er Bedrohungsszenarien, die das britische Imperium als ansteckungsgefährdeten Körper zeichneten: Infektiöse Fremdkörper und Fremd-Körper stellten eine tödliche Gefahr dar.
Aus Schurken wurden Schurkenstaaten: Der zeitgenössische Conan Doyle, folgt man der Argumentation des Schweizer Publizisten und Historikers Philipp Sarasin, ist George W. Bush. In seinem Buch "Anthrax" beleuchtet Sarasin die Zeit nach dem 11. September als Rückfall in jene Denkmuster, die nicht erst seit der Kolonialzeit dazu dienen, Grenzen zwischen den ansteckenden, unreinen Fremdkörpern und "uns" zu ziehen. Nur mittels dieses arbiträren Akts der Abschottung, so die dahinter verborgene Logik, kann eine unverseuchte, kollektive Identität gestiftet und aufrecht erhalten werden.
Als Ausgangspunkt dient Sarasin die Hysterie um jene Anthrax-Briefe, die kurz nach dem Attentat auf das World Trade Center hier und da auftauchten. Indem er das Phänomen Anthrax als Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation gewählt hat, hat sich Sarasin die ideale Basis für eine ebenso originelle wie komplexe Analyse geschaffen. Sein grundlegender Kniff ist, Anthrax von "Anthrax" zu unterscheiden: Anthrax ist die tödliche Krankheit, die vom weiß-pulvrigen bacillus anthracis übertragen wird, und "Anthrax" ist eine mediale Konstruktion: "Während Anthrax fünf Menschen tötete, vergiftete ,Anthrax' das Imaginäre von Millionen", schreibt Sarasin. Mittels einer metaphorischen Verschiebung sei "Anthrax" zu einem Zeichen geworden, das alle diffusen Ängste vor infizierten Fremdkörpern in sich vereinigt. Somit kann all das Babypuder, Mehl und Kokain, das als sogenanntes hoax anthrax kursierte, als manifest gewordenes "Anthrax" gelten, als die materialisierte Fiktion.
Diese Metamorphose dient Sarasin auch als Grundlage für Bushs argumentative Verknüpfung des 11. September mit Saddam Hussein. Scharfsinnig zeichnet er diese Koppelung von Signifikanten nach und beruft sich dabei neben zahlreichen Internetquellen vor allem auf offizielle Äußerungen der amerikanischen Regierung zwischen den Terrorangriffen im September 2001 und dem Beginn des Irak-Kriegs im März 2003. Die Art und Weise, wie sich Bush, laut Sarasin, von Manhattan nach Bagdad argumentiert hat, gleicht einer metonymischen Kettenreaktion. Sie wird ausgelöst von der Verwandtschaft zwischen Flugzeugen und Anthrax: Beide greifen aus der Luft an. Diese Assoziation soll am 11. September 2001 sowohl der Grund gewesen sein, daß die Flugzeuge nicht rechtzeitig abgeschossen wurden, als auch dafür, daß unmittelbar nach dem Absturz in New York Biowaffenexperten im Einsatz waren, die die Luft auf verdächtige Spuren untersuchten. Dazu kamen die Anthraxbriefe, und die metonymische Verschiebung im Sinne Sarasins nahm ihren Lauf. Er belegt mit Textauszügen, wie in Bushs Reden aus Terror Bioterror wurde, der amerikanische Präsident mit einer weiteren kleinen Akzentverschiebung bei den Massenvernichtungswaffen landete und schließlich beim Angriff auf den Irak.
Wie klar Sarasin "Anthrax" als zeitgenössische Ausformung kolonialer Logik durchschaut hat, die ihre Politik in erster Linie auf Fiktionen und Metaphern aufbaut, bezeugt das Kapitel über "Fremdkörper". Drohkulisse, Fiktion, Szenario: was Sarasin beschreibt, ist nichts anders als das Funktionieren von Propaganda, allerdings benennt er sie nicht als solche. Wie gefährlich schmal ebenjener Grad zwischen reiner Fiktion und Szenarien als Form politischer Instrumente ist, macht Sarasin deutlich, indem er eine ganze Batterie an Kinofilmen, Romanen und Videospielen auffährt, die alle erstaunliche Parallelen zu den Ereignissen nach den realen Terroranschlägen aufweisen. Leider krankt das durchweg überzeugende Buch an einigen ärgerlich nachlässig lektorierten Passagen - seien es die ungelenken Übersetzungen aus dem Englischen oder die vielen Rechtschreibfehler.
Conan Doyle wußte, wer seine Schurken waren, er hatte sie schließlich eigenhändig erschaffen. Aber ob sich George W. Bush des Eigenlebens seiner Fiktionen bewußt ist, ist fraglich. Eine Krankheit, bei der man aus lauter Angst vor ansteckenden Fremdkörpern Gefährliches und Harmloses nicht mehr unterscheiden kann, kann leicht zur ausgewachsenen Autoimmunkrankheit werden. In diesem Sinne passen die Ereignisse nach Erscheinen des Anthrax-Bandes gut in Sarasins Gesundheits-Konzept: Die Anschläge auf Madrid signalisierten lediglich die weitere Verbreitung des Virus im West-Körper. Mit ihrem prompten Rückzug aus dem Irak setzten die Spanier die Krankheitsfiktion in die Realität um. Eine Reaktion, die eindeutige Parallelen zu einstiger imperialer Immunologie aufweist: Finger weg von fremden Körpern, Vorsicht Ansteckungsgefahr!
ANNE HAEMING
Philipp Sarasin: "Anthrax". Bioterror als Phantasma. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 196 S., br., 9,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Wieso, fragt Philipp Sarasin in seinem Buch, wieso bereitete das weiße Haus am Morgen des 11. September Maßnahmen zur Abwehr biologischer Kampfstoffe vor? Wie wurde innerhalb kürzester Zeit aus Terror "Bioterror"? Die Antwort: "Die Fantasie war durch die Fiktion darauf vorbereitet." Fiktionen, so die Rezensentin Elisabeth von Thadden, haben die Reaktion auf die Anschläge gesteuert, und dieselben Fiktionen haben die Gegenmaßnahmen gesteuert und dazu geführt, dass die Hälfte aller Amerikaner bald dachte, Saddam Hussein habe die Anschläge zu verantworten. Fiktionen haben die Deutung des Angriffs in den Bereich der Biologie gelenkt, argumentiert Sarasin, und Thadden befindet: "Ein derart gelungener Nachweis, was die Kulturwissenschaft kann, war seit langem nicht zu lesen." Sarasin gehe es nicht darum, die Realität des Terrors zu bestreiten, sondern darauf hinzuweisen, dass der Art und Weise seiner Bekämpfung ein Phantasma - ein "zentrales Fantasma der Moderne" - zugrunde liegt: die Vorstellung vom Feind als Mikrobe, als unsichtbarer, parasitärer Eindringling, der ausgerottet werden muss. Das Phantasma verbindet unverbundene Handlungsströme - die Angst vor Anthrax, vermeintliche Massenvernichtungswaffen, Flüchtlinge - und zu einer Politik der "Seuchenkontrolle". Und genau hier, so Thadden, liege die kritische Substanz von Sarasins Arbeit: In der Warnung vor einer "Biologisierung der Politik". "Dieses Buch", schreibt sie, "macht deutlich, wie Gesellschaften, die vom fiktiven Albtraum der biologischen Bedrohung regiert werden, dem kollektiven Imaginären erliegen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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