Was heißt Aufklärung heute, was Vernunft? Wie begründet sich das Verhältnis zwischen Vernunft und Lebensführung gegenwärtig? Diesen Fragen geht Paul Rabinow in den hier gesammelten Essays ethnographisch nach. Ethnographisch heißt: die Vernunft selbst als ein menschliches, dem Anthropologen zugängliches und also studierbares Feld sozialer Handlung zu begreifen. In konkreten, der Biotechnologie entnommenen Fallstudien fragt Rabinow nach der Vernunft, die in Laborexperimenten oder in Ethikdebatten am Werk ist. Indem er diese jeweilige Vernunft und deren implizite Menschenbilder auf die Lebensführung der Wissenschaftler hin anwendet und befragt, entstehen subtile anthropologische Studien einer biopolitischen Gegenwart.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2004Menschlichkeit aus dem Genlabor
Paul Rabinow verschiebt die Grenze zwischen Natur und Kultur
Was ist der Mensch? Das ist die klassische Frage der Anthropologie, die deshalb früher der Geschichtswissenschaft gegenübergestellt wurde. Denn Antworten suchten die Anthropologen in der Vielfalt der koexistierenden Lebensformen der Menschen, nicht in ihrer historischen Entwicklung. Dieser Gegensatz zwischen den beiden Wissenschaften ist in den letzten beiden Jahrzehnten aufgeweicht, da man einerseits von dem Konzept der geschichtslosen (früher: „primitiven”) Völker abgerückt ist und andererseits begonnen hat, sich für die Präsens der Geschichte in der Gegenwart zu interessieren.
Neue Fragen müssen formuliert werden, und das tut mit Vehemenz der amerikanische Anthropologe Paul Rabinow. Er fragt, was es heute bedeutet ein Mensch zu sein. Und nach Antworten sucht er nicht bei Medizinmännern und Schamanen exotischer Völker, sondern in mikrobiologischen Forschungslabors, in genetischen Datenbanken und in Gerichtssälen der westlichen Welt, an den Orten nämlich, wo heute entschieden wird, was der Mensch ist.
Sehr früh erkannte Rabinow die weitreichenden Folgen der Lebenswissenschaften für das Selbstverständnis der Menschen und beschloss deshalb, anthropologische Feldarbeit dort durchzuführen, wo die neuen Einsichten gewonnen werden. Der Titel des vorliegenden Buches, mit dem der deutschsprachigen Leserschaft einige seiner Essays zugänglich gemacht werden, deutet darauf hin. Die Vernunft wird zum Objekt anthropologischer Feldforschung. Es geht um die Praxis der Erkenntnisgewinnung, um Wissenschaft als Beruf, wie Max Weber es nannte.
Die Schultern Webers sind diejenigen, auf denen Rabinow mit einem Fuß steht. Den anderen setzt er auf die Foucaults, mit dem er die menschliche Existenz am Schnittpunkt von Leben, Arbeit und Sprache sich entfalten sieht. Anders als Foucault, der lange die Sprache für die zentrale Dimension der Gewinnung eines neuen Menschenbildes hielt, erkennt Rabinow das Leben und die Lebenswissenschaften als das gegenwärtig „bedeutendste Feld von Macht und Wissen”.
Mehr Wissen, mehr Profit
Folgerichtig beschäftigt er sich mit Gegenständen wie dem Humangenom-Projekt, einem Rechtsstreit um das Eigentumsrecht an einer Zelllinie, der Patentierung neuer Lebensformen, der Zweckdienlichkeit der Wissenschaften und dem Zusammenhang von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Werkzeuge sind ein klassischer Gegenstand der Anthropologie. Ihr potentiell reflexiver Charakter, der den Menschen selber unter die mit ihrer Hilfe geschaffenen Objekte einreiht, tritt in der Gentechnologie deutlicher denn je zutage. Unter diesem Aspekt interessiert sich Rabinow für das Humangenom-Projekt, das von Anfang an nicht auf reine Erkenntnis, sondern auf ihre nutzbringende Anwendung zielte. Verstehen und Verändern, Repräsentation und Intervention, Wissen und Macht sind in diesem Projekt miteinander verbunden und interagieren auf eine für die gegenwärtige Vernunft charakteristische Weise.
Seiner anthropologischen Ausbildung entsprechend ist Rabinow bereit, Vernunft im Plural zu denken. Er spricht davon, dass „heute keine monochrome Rationalität bedrohlich über einer düsteren Zukunft hängt”, vielmehr die unterschiedlichsten Erkenntnisansprüche und Zukunftsvisionen nebeneinander bestehen. Gerade in Anbetracht der von ihm beschriebenen Entwicklungen drängt sich allerdings die Frage auf, ob er die erdrückende Macht des amerikanischen Modells der Vernunft, in dem das Streben nach mehr Wissen, mehr Gesundheit und mehr Profit ineinander greifen, nicht unterschätzt.
Wissenschaft beschreibt er als Lebenspraxis, die es nicht allein auf ihre Inhalte zu befragen gilt, sondern auch unter dem Aspekt, welche Lebensformen als legitim und der Wissensförderung dienlich angesehen werden. Rabinow richtet sein Augenmerk dementsprechend darauf, wie zeitgenössische wissenschaftliche Praktiken aus einem breiteren kulturellen Kontext kultureller Praktiken entstehen und auf sie zurückwirken. Er beobachtet das Aufweichen der Grenzen zwischen Wissenschaft und Industrie und das Eindringen des Kapitals in neue Bereiche, insbesondere der Erkenntnisgewinnung und der Natur. Die Grenzen zwischen Natur und Kultur werden neu gezogen.
Gleichzeitig entstehen, wie er zeigt, neue Formen der Vergesellschaftung und der Kommunikation. So schließen sich Menschen zu Gruppen zusammen, die nichts verbindet außer einer monogenetisch verursachten Krankheit, ein Beispiel dafür, wie die Biowissenschaften die Haltung des Menschen zur Welt, zur Natur und zu sich selbst verändern. Rabinow nennt das Biosozialität. Da liegen die Herausforderungen einer neuen Anthropologie im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Menschen. Wie ihr wissenschaftlicher Kanon und ihre Methoden aussehen werden, ist noch vage, aber die Probleme, die Rabinow anspricht, lassen die Frage nach dem Menschen in einem neuen, faszinierenden Licht erscheinen.
FLORIAN COULMAS
PAUL RABINOW: Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Hrsg. und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 251 Seiten, 10 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Paul Rabinow verschiebt die Grenze zwischen Natur und Kultur
Was ist der Mensch? Das ist die klassische Frage der Anthropologie, die deshalb früher der Geschichtswissenschaft gegenübergestellt wurde. Denn Antworten suchten die Anthropologen in der Vielfalt der koexistierenden Lebensformen der Menschen, nicht in ihrer historischen Entwicklung. Dieser Gegensatz zwischen den beiden Wissenschaften ist in den letzten beiden Jahrzehnten aufgeweicht, da man einerseits von dem Konzept der geschichtslosen (früher: „primitiven”) Völker abgerückt ist und andererseits begonnen hat, sich für die Präsens der Geschichte in der Gegenwart zu interessieren.
Neue Fragen müssen formuliert werden, und das tut mit Vehemenz der amerikanische Anthropologe Paul Rabinow. Er fragt, was es heute bedeutet ein Mensch zu sein. Und nach Antworten sucht er nicht bei Medizinmännern und Schamanen exotischer Völker, sondern in mikrobiologischen Forschungslabors, in genetischen Datenbanken und in Gerichtssälen der westlichen Welt, an den Orten nämlich, wo heute entschieden wird, was der Mensch ist.
Sehr früh erkannte Rabinow die weitreichenden Folgen der Lebenswissenschaften für das Selbstverständnis der Menschen und beschloss deshalb, anthropologische Feldarbeit dort durchzuführen, wo die neuen Einsichten gewonnen werden. Der Titel des vorliegenden Buches, mit dem der deutschsprachigen Leserschaft einige seiner Essays zugänglich gemacht werden, deutet darauf hin. Die Vernunft wird zum Objekt anthropologischer Feldforschung. Es geht um die Praxis der Erkenntnisgewinnung, um Wissenschaft als Beruf, wie Max Weber es nannte.
Die Schultern Webers sind diejenigen, auf denen Rabinow mit einem Fuß steht. Den anderen setzt er auf die Foucaults, mit dem er die menschliche Existenz am Schnittpunkt von Leben, Arbeit und Sprache sich entfalten sieht. Anders als Foucault, der lange die Sprache für die zentrale Dimension der Gewinnung eines neuen Menschenbildes hielt, erkennt Rabinow das Leben und die Lebenswissenschaften als das gegenwärtig „bedeutendste Feld von Macht und Wissen”.
Mehr Wissen, mehr Profit
Folgerichtig beschäftigt er sich mit Gegenständen wie dem Humangenom-Projekt, einem Rechtsstreit um das Eigentumsrecht an einer Zelllinie, der Patentierung neuer Lebensformen, der Zweckdienlichkeit der Wissenschaften und dem Zusammenhang von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Werkzeuge sind ein klassischer Gegenstand der Anthropologie. Ihr potentiell reflexiver Charakter, der den Menschen selber unter die mit ihrer Hilfe geschaffenen Objekte einreiht, tritt in der Gentechnologie deutlicher denn je zutage. Unter diesem Aspekt interessiert sich Rabinow für das Humangenom-Projekt, das von Anfang an nicht auf reine Erkenntnis, sondern auf ihre nutzbringende Anwendung zielte. Verstehen und Verändern, Repräsentation und Intervention, Wissen und Macht sind in diesem Projekt miteinander verbunden und interagieren auf eine für die gegenwärtige Vernunft charakteristische Weise.
Seiner anthropologischen Ausbildung entsprechend ist Rabinow bereit, Vernunft im Plural zu denken. Er spricht davon, dass „heute keine monochrome Rationalität bedrohlich über einer düsteren Zukunft hängt”, vielmehr die unterschiedlichsten Erkenntnisansprüche und Zukunftsvisionen nebeneinander bestehen. Gerade in Anbetracht der von ihm beschriebenen Entwicklungen drängt sich allerdings die Frage auf, ob er die erdrückende Macht des amerikanischen Modells der Vernunft, in dem das Streben nach mehr Wissen, mehr Gesundheit und mehr Profit ineinander greifen, nicht unterschätzt.
Wissenschaft beschreibt er als Lebenspraxis, die es nicht allein auf ihre Inhalte zu befragen gilt, sondern auch unter dem Aspekt, welche Lebensformen als legitim und der Wissensförderung dienlich angesehen werden. Rabinow richtet sein Augenmerk dementsprechend darauf, wie zeitgenössische wissenschaftliche Praktiken aus einem breiteren kulturellen Kontext kultureller Praktiken entstehen und auf sie zurückwirken. Er beobachtet das Aufweichen der Grenzen zwischen Wissenschaft und Industrie und das Eindringen des Kapitals in neue Bereiche, insbesondere der Erkenntnisgewinnung und der Natur. Die Grenzen zwischen Natur und Kultur werden neu gezogen.
Gleichzeitig entstehen, wie er zeigt, neue Formen der Vergesellschaftung und der Kommunikation. So schließen sich Menschen zu Gruppen zusammen, die nichts verbindet außer einer monogenetisch verursachten Krankheit, ein Beispiel dafür, wie die Biowissenschaften die Haltung des Menschen zur Welt, zur Natur und zu sich selbst verändern. Rabinow nennt das Biosozialität. Da liegen die Herausforderungen einer neuen Anthropologie im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Menschen. Wie ihr wissenschaftlicher Kanon und ihre Methoden aussehen werden, ist noch vage, aber die Probleme, die Rabinow anspricht, lassen die Frage nach dem Menschen in einem neuen, faszinierenden Licht erscheinen.
FLORIAN COULMAS
PAUL RABINOW: Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Hrsg. und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 251 Seiten, 10 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Seit die Grenzen zwischen Anthropologie und Geschichtswissenschaft verwischen, kann die erzanthropologische Frage "Was ist der Mensch?" so nicht mehr gestellt werden, schreibt Rezensent Florian Coulmas, selbst Professor für Kultur und Geschichte des modernen Japans. Es müssen neue Fragen her, und der amerikanische Anthropologe Paul Rabinow versucht "vehement" solche neuen Fragen zu formulieren. Von seiner Einsicht geleitet, dass die Anthropologie Feldforschung braucht, stellt Rabinow in den vorliegenden Essays die Frage nach dem Menschen von der Warte der Vernunft aus. Als theoretische Grundlage zu seinen Überlegungen dienen Rabinow laut Coulmas Max Weber und Michel Foucault, als Gegenstände das "Humangenom-Projekt", die "Patentierung neuer Lebensformen", die "Zweckdienlichkeit der Wissenschaften" und der "Zusammenhang von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft". Rabinow befrage die Wissenschaft als "Lebenspraxis" und die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. So werde auch die Grenze zwischen Natur und Kultur neu gezogen. Schließlich beobachte Rabinow eine neue Art der Gemeinschaft zwischen Menschen, die an derselben Krankheit leiden, ein Phänomen, das er als "Biosozialität" bezeichne, und in dem Coulmas die "neuen Herausforderungen der Anthropologie" gebündelt sieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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