Anthropologie als Kritik der modernen Welt, als der Versuch, alternative Welten und Lebensformen sichtbar zu machen - das war der Kern von Claude Lévi-Strauss' wissenschaftlichem Wirken. Nirgends findet man dies farbiger und konziser dargestellt als in diesem posthum veröffentlichten Band, der drei bisher unveröffentlichte Vorträge versammelt, die Lévi-Strauss 1986 in Japan gehalten hat.
»Viele Motive seines Denkens, das dem Relativismus der Kulturen auf den Grund geht, um den Universalismus der Strukturen freizulegen, klingen an. Auch darum taugt das erst im vergangenen Jahr auf Französisch gedruckte Buch als Einstiegslektüre für jene, die mit dem Werk des Anthropologen noch nicht vertraut sind und diesem Mangel abhelfen wollen.« Justus Wenzel Neue Zürcher Zeitung 20120901
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.2012Der Westen ist erschöpft
Wir bezahlen für die kulturelle Ordnung mit gesellschaftlicher Entropie: Vorträge von Claude Lévi-Strauss über die Rolle der Anthropologie in der modernen Welt.
Ethnologen klassischen Zuschnitts erzählen mit Vorliebe von kleinen Gesellschaften ohne Schrift und elaborierte mechanische Künste. Der Anthropologe, der diese Befunde durchmustert, sieht in ihnen eigenständige Antworten auf Grundprobleme, die alle Gesellschaften lösen müssen, um ihren Bestand zu sichern. Antworten, die anders ausfallen als jene, auf die seine eigene Gesellschaft setzt.
Claude Lévi-Strauss, der vor zweieinhalb Jahren in hohem Alter verstorbene Begründer der strukturalen Anthropologie, strich diesen Umstand in kritischer Absicht öfters heraus. Denn für ihn war klar, dass seine eigene Gesellschaft als Teil der global bestimmend gewordenen "westlichen Welt" in fataler Weise die Oberhand gewonnen hatte. In den drei Vorträgen, die er Mitte der achtziger Jahre in Japan unter dem Titel "Die Anthropologie angesichts der Probleme der modernen Welt" hielt und die nun auch auf Deutsch vorliegen, ist diese Einschätzung bündig formuliert: Der Wettlauf zu immer höherer Produktivität führe dazu, dass immer mehr Menschen in ungeheuren städtischen Agglomerationen "eine künstliche und entmenschlichte Existenz" auferlegt sei. Das Funktionieren demokratischer Institutionen und sozialer Sicherungen bringe wiederum eine wuchernde Bürokratie hervor, die den Gesellschaftskörper zu lähmen drohe. Die Fortschrittsideologie sei jedenfalls zerfallen, die Zivilisation westlichen Typs habe das Vorbild verloren, an dem sie sich selbst orientiert und mit dem sie sich als Vorreiter legitimiert hatte.
Der Westen ist erschöpft, so lautet in nuce die Diagnose, aus eigenen kulturellen Reserven zu keiner Regeneration mehr fähig. Was läge deshalb näher, als anderswo hinzuschauen, nämlich auf die bescheidenen und lange verachteten kleinen Gesellschaften, die zumindest bis vor kurzem dem fatalen westlichen Siegeszug entgangen oder doch von ihm nur gestreift worden waren. Denn diese Gesellschaften zeigen für Lévi-Strauss nicht bloß andere Formen der sozialen Organisation. Sie erweisen sich überdies - solange sie weitgehend für sich bestehen - als ziemlich robust, sind gut eingepasst in ihre Umwelt, von der sie schonend Gebrauch machen, befinden sich auch in besserem innerem Gleichgewicht, erfordern weniger Arbeitszeit für die unmittelbare Subsistenz, erlauben dafür mehr Muße, um dem Imaginären einen größeren Platz einzuräumen, also religiösen und künstlerischen Tätigkeiten.
Die ins Auge gefassten Gesellschaften sind klein, der direkte Kontakt und die mündliche Überlieferung sind prägend, Verwandtschaftsbeziehungen grundieren durchgehend den sozialen Austausch. Im Gegensatz zu ihnen steht der vielfach vermittelte Austausch in großen Gesellschaften - mit der Vergangenheit genauso wie mit den anderen - für Lévi-Strauss im Zeichen der Inauthentizität. Man kann diesen Begriff hier zwar als deskriptives Werkzeug verstehen: Schließlich beschreibt er im Grunde Effekte, die ab einer gewissen Größe von Gesellschaften unvermeidlich eintreten. Und doch schwingen noch Obertöne mit, wenn die Ausweitung der indirekten Kommunikationsmittel, wie sie für moderne Massengesellschaften typisch sind, mit der Lockerung eines inneren Gleichgewichts verknüpft wird.
Denn Gleichgewichtszustände scheinen für Lévi-Strauss unter kulturkritischem Gesichtspunkt privilegiert zu sein. Ihre Verknüpfung mit einer anderen seiner grundlegenden Klassifizierungen von Gesellschaften, nämlich in "kalte" und "heiße", spricht für diese Einschätzung. Die kleinen authentischen Gesellschaften sind im Vergleich die kalten: Sie erzeugten weniger kulturelle Ordnung, dafür aber auch kaum gesellschaftliche Unordnung. Umgekehrtes gelte für die großen Gesellschaften unseres Typs. Sie erkaufen ihre hohen kulturellen Ordnungsleistungen mit gesellschaftlicher Entropie: "Man könnte fast sagen, dass unsere Gesellschaften nach und nach ihr Gerüst verlieren und dazu tendieren, zu zerstieben und die Individuen, aus denen sie bestehen, auf austauschbare und anonyme Atome zu reduzieren."
Diese physikalische Metaphorisierung zeigt den kulturkritischen Einsatz recht gut. Sie ist keine Wendung des alten Lévi-Strauss, sondern bereits im Schlussteil der "Traurigen Tropen" angelegt, wo bereits die entropische Tendenz der Kultur ins Spiel gebracht wird. Dort hatte Lévi-Strauss mit einer Beschwörung jener "einzigen Gnade" geendet, die den Menschen eigentlich würdig sei: den Marsch zu unterbrechen, loszulassen, nicht mehr bienenfleißig im "heißen" historischen Prozess an ihrem Gefängnis zu bauen.
Dreißig Jahre später ist der Ton in den Vorträgen weniger melancholisch, das Moment der Hoffnung nicht nur der privaten Kontemplation überlassen. Vor seinen japanischen Zuhörern ließ sich Lévi-Strauss sogar auf einen utopischen Wink ein: dass es der anlaufenden elektronischen Revolution vielleicht gelingen könnte, schrittweise Maschinen in Menschen zu verwandeln statt wie bisher umgekehrt: "Dann wäre die Gesellschaft, nachdem die Kultur den Auftrag, den Fortschritt zu erzeugen, voll und ganz erfüllt hat, von einem jahrtausendealten Fluch befreit, der sie zwang, im Namen des Fortschritts Menschen zu knechten. Dann würde sich die Geschichte ganz von selbst machen, und die Gesellschaft, nun außerhalb oder über der Geschichte stehend, könnte sich von neuem jener Transparenz und jenes inneren Gleichgewichts erfreuen, von denen die am wenigsten beschädigten der sogenannten primitiven Gesellschaften beweisen, dass sie mit dem Menschsein nicht unvereinbar sind." Vielleicht darf man das so resümieren: Die Anthropologie tritt auf als Garant zumindest der Möglichkeit einer tatsächlich humanen posthistoire.
Abseits dieser letzten Horizonte gibt Lévi-Strauss freilich auch ein konkretes Beispiel dafür, wie anthropologische Einsichten sich für Probleme in modernen westlichen Gesellschaften in Anschlag bringen lassen. Als er die Vorträge hält, haben gerade die neuen Möglichkeiten künstlicher Befruchtung die Frage aufgeworfen, wie sich das Verhältnis von biologischer Elternschaft - eines Samenspenders, einer Eispenderin und in gewissem Grad auch einer "Leihmutter" - zur herkömmlichen sozial definierten Elternschaft sinnvoll gesetzlich regeln lässt. Der Anthropologe kann nun eine ganze Reihe von Gesellschaften anführen, die das Problem von unfruchtbaren Frauen und Männern auf verschiedene Weisen lösen. Natürlich ohne moderne Medizintechnik, sondern durch Formen der Delegation des Zeugens oder auch des Austragens von Kindern. Immer hat dabei freilich die sozial bestimmte Elternschaft Vorrang vor der - in diesen Fällen von ihr abweichenden - biologischen Filiation.
Sollten deshalb auch wir diesen Vorrang des Sozialen vor dem Biologischen übernehmen? Auf ein Abkupfern von Lösungen kann es freilich nicht hinauslaufen, das weiß auch Lévi-Strauss. Aber der Blick auf die dem Anthropologen geläufigen Varianten könne doch zu mehr Gelassenheit im Umgang mit den aufgeworfenen Problemen führen: Man sehe, dass sie lösbar seien, und fasse Zutrauen, dass auch die eigene Gesellschaft einen stabilen Lösungsweg finden werde.
Mehr als solche Vergewisserung, die nur vor dem Hintergrund von Lévi-Strauss' tiefer Skepsis Bedeutung gewinnt, kann die Anthropologie also nicht anbieten. Sie zeigt uns Möglichkeiten, so möchte man sagen, welche unsere gar nicht sind. Und glauben wir sie doch ergreifen zu können, dann deshalb, weil bestimmte Verhältnisse und Praktiken, die in den bescheidenen Gesellschaften der Anthropologen konstitutiv sind, bei uns in Nischen und als Spuren durchaus präsent sind: dort, wo auch wir zum Beispiel Animisten sind, wenn auch sehr einfach gestrickte, und andere Formen der Ökonomie kennen als jene, die auf die Produktion von Waren abstellt.
So betrachtet, ist die Anthropologie vielleicht am ehesten ein Instrument, um diese "Andere" in der eigenen Gesellschaft deutlicher zum Vorschein zu bringen. Was immer noch, wie aktuelle Anknüpfungen an Lévi-Strauss' kritische Absichten zeigen, mit ganz verschiedenem Temperament erfolgen kann: von eher vorsichtig magistral bis zu aktivistisch bewegt. Die nun erschienenen Vorträge aber bieten jedenfalls, gemeinsam mit den vor kurzem erschienenen Texten von Lévi-Strauss über Japan (F.A.Z. vom 30. April), eine wunderbare Aussicht auf Grundmotive eines großen Autors.
HELMUT MAYER
Claude Lévi-Strauss: "Anthropologie in der modernen Welt".
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 148 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wir bezahlen für die kulturelle Ordnung mit gesellschaftlicher Entropie: Vorträge von Claude Lévi-Strauss über die Rolle der Anthropologie in der modernen Welt.
Ethnologen klassischen Zuschnitts erzählen mit Vorliebe von kleinen Gesellschaften ohne Schrift und elaborierte mechanische Künste. Der Anthropologe, der diese Befunde durchmustert, sieht in ihnen eigenständige Antworten auf Grundprobleme, die alle Gesellschaften lösen müssen, um ihren Bestand zu sichern. Antworten, die anders ausfallen als jene, auf die seine eigene Gesellschaft setzt.
Claude Lévi-Strauss, der vor zweieinhalb Jahren in hohem Alter verstorbene Begründer der strukturalen Anthropologie, strich diesen Umstand in kritischer Absicht öfters heraus. Denn für ihn war klar, dass seine eigene Gesellschaft als Teil der global bestimmend gewordenen "westlichen Welt" in fataler Weise die Oberhand gewonnen hatte. In den drei Vorträgen, die er Mitte der achtziger Jahre in Japan unter dem Titel "Die Anthropologie angesichts der Probleme der modernen Welt" hielt und die nun auch auf Deutsch vorliegen, ist diese Einschätzung bündig formuliert: Der Wettlauf zu immer höherer Produktivität führe dazu, dass immer mehr Menschen in ungeheuren städtischen Agglomerationen "eine künstliche und entmenschlichte Existenz" auferlegt sei. Das Funktionieren demokratischer Institutionen und sozialer Sicherungen bringe wiederum eine wuchernde Bürokratie hervor, die den Gesellschaftskörper zu lähmen drohe. Die Fortschrittsideologie sei jedenfalls zerfallen, die Zivilisation westlichen Typs habe das Vorbild verloren, an dem sie sich selbst orientiert und mit dem sie sich als Vorreiter legitimiert hatte.
Der Westen ist erschöpft, so lautet in nuce die Diagnose, aus eigenen kulturellen Reserven zu keiner Regeneration mehr fähig. Was läge deshalb näher, als anderswo hinzuschauen, nämlich auf die bescheidenen und lange verachteten kleinen Gesellschaften, die zumindest bis vor kurzem dem fatalen westlichen Siegeszug entgangen oder doch von ihm nur gestreift worden waren. Denn diese Gesellschaften zeigen für Lévi-Strauss nicht bloß andere Formen der sozialen Organisation. Sie erweisen sich überdies - solange sie weitgehend für sich bestehen - als ziemlich robust, sind gut eingepasst in ihre Umwelt, von der sie schonend Gebrauch machen, befinden sich auch in besserem innerem Gleichgewicht, erfordern weniger Arbeitszeit für die unmittelbare Subsistenz, erlauben dafür mehr Muße, um dem Imaginären einen größeren Platz einzuräumen, also religiösen und künstlerischen Tätigkeiten.
Die ins Auge gefassten Gesellschaften sind klein, der direkte Kontakt und die mündliche Überlieferung sind prägend, Verwandtschaftsbeziehungen grundieren durchgehend den sozialen Austausch. Im Gegensatz zu ihnen steht der vielfach vermittelte Austausch in großen Gesellschaften - mit der Vergangenheit genauso wie mit den anderen - für Lévi-Strauss im Zeichen der Inauthentizität. Man kann diesen Begriff hier zwar als deskriptives Werkzeug verstehen: Schließlich beschreibt er im Grunde Effekte, die ab einer gewissen Größe von Gesellschaften unvermeidlich eintreten. Und doch schwingen noch Obertöne mit, wenn die Ausweitung der indirekten Kommunikationsmittel, wie sie für moderne Massengesellschaften typisch sind, mit der Lockerung eines inneren Gleichgewichts verknüpft wird.
Denn Gleichgewichtszustände scheinen für Lévi-Strauss unter kulturkritischem Gesichtspunkt privilegiert zu sein. Ihre Verknüpfung mit einer anderen seiner grundlegenden Klassifizierungen von Gesellschaften, nämlich in "kalte" und "heiße", spricht für diese Einschätzung. Die kleinen authentischen Gesellschaften sind im Vergleich die kalten: Sie erzeugten weniger kulturelle Ordnung, dafür aber auch kaum gesellschaftliche Unordnung. Umgekehrtes gelte für die großen Gesellschaften unseres Typs. Sie erkaufen ihre hohen kulturellen Ordnungsleistungen mit gesellschaftlicher Entropie: "Man könnte fast sagen, dass unsere Gesellschaften nach und nach ihr Gerüst verlieren und dazu tendieren, zu zerstieben und die Individuen, aus denen sie bestehen, auf austauschbare und anonyme Atome zu reduzieren."
Diese physikalische Metaphorisierung zeigt den kulturkritischen Einsatz recht gut. Sie ist keine Wendung des alten Lévi-Strauss, sondern bereits im Schlussteil der "Traurigen Tropen" angelegt, wo bereits die entropische Tendenz der Kultur ins Spiel gebracht wird. Dort hatte Lévi-Strauss mit einer Beschwörung jener "einzigen Gnade" geendet, die den Menschen eigentlich würdig sei: den Marsch zu unterbrechen, loszulassen, nicht mehr bienenfleißig im "heißen" historischen Prozess an ihrem Gefängnis zu bauen.
Dreißig Jahre später ist der Ton in den Vorträgen weniger melancholisch, das Moment der Hoffnung nicht nur der privaten Kontemplation überlassen. Vor seinen japanischen Zuhörern ließ sich Lévi-Strauss sogar auf einen utopischen Wink ein: dass es der anlaufenden elektronischen Revolution vielleicht gelingen könnte, schrittweise Maschinen in Menschen zu verwandeln statt wie bisher umgekehrt: "Dann wäre die Gesellschaft, nachdem die Kultur den Auftrag, den Fortschritt zu erzeugen, voll und ganz erfüllt hat, von einem jahrtausendealten Fluch befreit, der sie zwang, im Namen des Fortschritts Menschen zu knechten. Dann würde sich die Geschichte ganz von selbst machen, und die Gesellschaft, nun außerhalb oder über der Geschichte stehend, könnte sich von neuem jener Transparenz und jenes inneren Gleichgewichts erfreuen, von denen die am wenigsten beschädigten der sogenannten primitiven Gesellschaften beweisen, dass sie mit dem Menschsein nicht unvereinbar sind." Vielleicht darf man das so resümieren: Die Anthropologie tritt auf als Garant zumindest der Möglichkeit einer tatsächlich humanen posthistoire.
Abseits dieser letzten Horizonte gibt Lévi-Strauss freilich auch ein konkretes Beispiel dafür, wie anthropologische Einsichten sich für Probleme in modernen westlichen Gesellschaften in Anschlag bringen lassen. Als er die Vorträge hält, haben gerade die neuen Möglichkeiten künstlicher Befruchtung die Frage aufgeworfen, wie sich das Verhältnis von biologischer Elternschaft - eines Samenspenders, einer Eispenderin und in gewissem Grad auch einer "Leihmutter" - zur herkömmlichen sozial definierten Elternschaft sinnvoll gesetzlich regeln lässt. Der Anthropologe kann nun eine ganze Reihe von Gesellschaften anführen, die das Problem von unfruchtbaren Frauen und Männern auf verschiedene Weisen lösen. Natürlich ohne moderne Medizintechnik, sondern durch Formen der Delegation des Zeugens oder auch des Austragens von Kindern. Immer hat dabei freilich die sozial bestimmte Elternschaft Vorrang vor der - in diesen Fällen von ihr abweichenden - biologischen Filiation.
Sollten deshalb auch wir diesen Vorrang des Sozialen vor dem Biologischen übernehmen? Auf ein Abkupfern von Lösungen kann es freilich nicht hinauslaufen, das weiß auch Lévi-Strauss. Aber der Blick auf die dem Anthropologen geläufigen Varianten könne doch zu mehr Gelassenheit im Umgang mit den aufgeworfenen Problemen führen: Man sehe, dass sie lösbar seien, und fasse Zutrauen, dass auch die eigene Gesellschaft einen stabilen Lösungsweg finden werde.
Mehr als solche Vergewisserung, die nur vor dem Hintergrund von Lévi-Strauss' tiefer Skepsis Bedeutung gewinnt, kann die Anthropologie also nicht anbieten. Sie zeigt uns Möglichkeiten, so möchte man sagen, welche unsere gar nicht sind. Und glauben wir sie doch ergreifen zu können, dann deshalb, weil bestimmte Verhältnisse und Praktiken, die in den bescheidenen Gesellschaften der Anthropologen konstitutiv sind, bei uns in Nischen und als Spuren durchaus präsent sind: dort, wo auch wir zum Beispiel Animisten sind, wenn auch sehr einfach gestrickte, und andere Formen der Ökonomie kennen als jene, die auf die Produktion von Waren abstellt.
So betrachtet, ist die Anthropologie vielleicht am ehesten ein Instrument, um diese "Andere" in der eigenen Gesellschaft deutlicher zum Vorschein zu bringen. Was immer noch, wie aktuelle Anknüpfungen an Lévi-Strauss' kritische Absichten zeigen, mit ganz verschiedenem Temperament erfolgen kann: von eher vorsichtig magistral bis zu aktivistisch bewegt. Die nun erschienenen Vorträge aber bieten jedenfalls, gemeinsam mit den vor kurzem erschienenen Texten von Lévi-Strauss über Japan (F.A.Z. vom 30. April), eine wunderbare Aussicht auf Grundmotive eines großen Autors.
HELMUT MAYER
Claude Lévi-Strauss: "Anthropologie in der modernen Welt".
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 148 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Als Einführung in das Denken des Großethnologen Claude Levi-Strass kann Rezensent Christof Forderer dieses Buch sehr empfehlen. Es versammelt Vorträge, die Levi-Strauss Mitte der achtziger Jahre in Tokio gehalten hat und in denen er nach einem neuen Energieschub für die erschöpfte westliche Zivilisation bei den frühen Gesellschaften suchte. Allerdings beschränkt sich der Nutzen des Buchs für den Rezensenten auf eben jene Grundgedanken. Denn der praktische Ertrag beläuft sich für Forderer auf die Erkenntnis, dass die frühen Gesellschaft nicht so viel "kulturelle Ordnung", aber auch nicht so viel "soziale Unordnung" geschaffen hätten. Den Biologismus und die Nietzeanischen Züge im Denken von Levi-Strauss hält Forderer dabei nur noch für begrenzt anknüpfungsfähig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das Büchlein ist eine wunderbare Einführung in Lévi-Strauss' Denken, verfasst aus der Vogelperspektive eines Universalgelehrten, der bis ins hohe Alter am Puls der Zeit blieb.«