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Produktdetails
  • Die Philosophie
  • Verlag: WBG Academic
  • Seitenzahl: 242
  • Abmessung: 15mm x 135mm x 215mm
  • Gewicht: 306g
  • ISBN-13: 9783534101122
  • Artikelnr.: 25220194
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.1996

Platon lernt in Ägypten Hebräisch
Am Tisch der Heiligen Hochzeit: Luc Brissons Geschichte der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Mythos

Luc Brisson ist als Herausgeber umfangreicher und akkurater Platon-Bibliographien hervorgetreten; Spezialisten schätzen ihn auch als einen der wenigen französischsprachigen Gelehrten, die sich kritisch mit der sogenannten Tübinger Schule, die Platons "ungeschriebene Lehre" erforscht, auseinandersetzen. Daneben aber hat der am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris tätige kanadische Gelehrte sich auch um die Erforschung der antiken Mythologie verdient gemacht, wie insbesondere sein 1974 erschienener Versuch einer strukturalistischen Deutung des Mythos von Teiresias und seine zahlreichen Arbeiten zur antiken Orphik belegen. Mit der "Einführung in die Philosophie des Mythos" liegt nunmehr Brissons erstes Buch in deutscher Sprache vor.

Anders, als es der Titel vermuten lassen könnte, geht es dem Verfasser nicht darum, eine philosophische Lehre des Mythos beziehungsweise der antiken Mythologie (das Wort wird vorzugsweise in dieser Bedeutung gebraucht) zu entwerfen. Es ist nicht vom oft beschworenen "vorrationalen Zeitalter", nicht von anthropologischen Grundkonstanten und schon gar nicht von psychologischen Archetypen die Rede. Thema von Brissons Buch ist vielmehr die Reaktion der Philosophen auf die von den Dichtern tradierten und, nach der Wiedereinführung der Schrift in Griechenland zu Beginn des 8. Jahrhunderts vor Christus, nach und nach zu kanonischer Form gerinnenden mythologischen Erzählungen.

Der Band reicht von Xenophanes aus Kolophon (etwa 570 bis 475 vor Christus), dem ersten, von dem eine radikale Kritik an der mythopoietischen Tätigkeit der Dichter erhalten ist, bis hin zu den Schriften der "Cambridge Platonists", jener Gruppe hochgelehrter Theologen und Philosophen, die im ausgehenden 17. Jahrhundert dickleibige Folianten mit Abhandlungen über die intelligible Natur des Universums und in Spenserstanzen gehaltenen Dichtungen über die Weltseele zu füllen wußten. Das Schwergewicht der Darstellung liegt auf der Antike; die Kapitel zu Byzanz, zum westlichen Mittelalter und zur Renaissance wollen "nur einige Anhaltspunkte geben, die eine weitere Orientierung erleichtern mögen".

Jene Philosophen, die gewillt waren, den Mythen überhaupt einen Sinngehalt zuzuerkennen und sie nicht gleich als einfältige Ammenmärchen oder ärgerlichen Kinderpopanz abzutun, versuchten dies zumal über den Umweg der Allegorisierung. Eines der Verdienste von Brissons Buch ist es, die verschiedenen Typen dieser Allegorisierungen klar herauszuarbeiten und deutlich voneinander zu scheiden. So entwickelten beispielsweise die Stoiker neben einer moralischen auch noch eine psychologische, eine physiologische und eine historische Interpretation, wodurch sie die Gottheiten mit Tugenden, Fähigkeiten, natürlichen Elementen und vorbildlichen Menschen identifizieren konnten - letzteres ein kruder Anthropomorphismus, für den die Epikureer und die Anhänger der Neuen Akademie mit einem gewissen Recht nur Hohn und Spott übrig hatten.

Zu Beginn der christlichen Ära gewann dann besonders im Kontext des wiederaufblühenden Pythagoreismus neben der Allegorisierung eine neue exegetische Strömung an Boden, nach der Mythen und Mysterien für die gläubige Seele zwei komplementäre Wege seien, auf denen sich die göttliche Wahrheit offenbart. Die Mythen hüllten diese Offenbarung in legendenhafte Erzählungen, während die Mysterien sie als lebende Bilder darstellten: die homerische Erzählung von der Vermählung von Zeus und Hera auf dem Berg Ida und die bei den Mysterien aufgeführten "Heiligen Hochzeiten", die Hierogamien, vermittelten letztlich dieselbe Lehre, einmal in Form einer inspirierten Erzählung und einmal im Rahmen einer liturgischen Inszenierung.

So kam es zu einer vorher nie gekannten Aufwertung des Mythos, da die Dichtung mit Religion und Philosophie auf eine Stufe gestellt wurde. Es waren besonders die zu strenger Askese neigenden späten Neuplatoniker, allen voran Jamblich und Proklos, die unendliche Mühe darauf verwandten, die dichterischen Arcana Homers und Hesiods, aber auch der sogenannten Chaldäischen Orakel aus dem 2. Jahrhundert nach Christus zu entdecken und zu deuten, um sie schließlich mit den haarsträubenden Subtilitäten ihrer eigenen metaphysischen Systeme in Übereinstimmung zu bringen.

Eine besondere Herausforderung stellte die antike Mythologie für eine Reihe christlicher Denker dar, die, sofern sie sie nicht rundweg ablehnten, sie nicht nur mit der Geschichte der Philosophie, sondern auch noch mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen suchten. Dieses kühne Unterfangen bediente sich häufig historischer Hilfskonstruktionen; besonders beliebt war etwa die in der Renaissance weitverbreitete Annahme, deren Wurzeln allerdings bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert zurückreichen, daß Platon in Ägypten Hebräisch gelernt habe und seine Philosophie vom Pentateuch inspiriert, letztlich also mosaischen Ursprungs und daher christlich avant la lettre sei.

Wie diese apologetischen Kraftakte im einzelnen von Denkern wie Plethon oder Ficino gemeistert wurden, stellt Brisson mit großer Souveränität und bemerkenswerter Klarheit dar. Er führt seine Leser mit sicherer Hand über die unbequemen Pfade häufig abstrus anmutender Gelehrsamkeit; um so bedauerlicher ist es, daß die deutsche Übersetzung auf jeder Seite nicht nur orthographische Fehler, sondern auch Verstöße gegen Syntax und Idiomatik enthält. Leser, die des Französischen mächtig sind, werden das Original oft dankbar erahnen; von solchen, die es nicht sind, verlangt die Lektüre von Achim Russers Übertragung dagegen eine gewisse geistige Akrobatik. LUC DEITZ

Luc Brisson: "Einführung in die Philosophie des Mythos".Band 1: "Antike, Mittelalter und Renaissance". Aus dem Französischen von Achim Russer. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996. IX, 242 S., br., 45,- DM.

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