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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2005

Und ein Stapel Predigten
Ein Buch sucht die normalen Christen im verfallenden Römischen Reich
Die rasche Christianisierung des Römischen Reiches seit der religionspolitischen Wende unter Kaiser Konstantin (306-337) zählt zu den großen Faszinosa der Weltgeschichte - und sie bietet als Phänomen, das sich einfachen Erklärungsmodellen entzieht, auch heute noch üppige Freiräume für die Hypothesenbildung der Historiker. Dabei besitzt die Frage nach den Gründen für die zügige Transformation des Imperium Romanum in ein Imperium Christianum durchaus einen ambivalenten Charakter.
Denn für gewöhnlich wird sie - häufig unbemerkt - mit einer anderen Fragestellung verknüpft, die in der Forschung zwar mittlerweile als heuristische Sackgasse angesehen wird, deren Attraktivität aber trotzdem weiterhin ungebrochen scheint: Der Frage nach den Ursachen für den Niedergang Roms. Zählt doch gerade das Vordringen des Christentums seit dem monumentalen Geschichtswerk Edward Gibbons (1737-1794) zu den zentralen Krisenfaktoren eines lang andauernden Verfallsprozesses in der Spätantike, dem die Forschung in der Tat mit ihrem mittlerweile vorherrschenden Konzept der „Transformation‘” jeglichen schwülen Dunst der Dekadenz und damit auch einen großen Teil seiner Anziehungskraft genommen hat.
Neuere Untersuchungen haben - ganz im Gegenteil - sogar die identitätsstiftende Kraft des Christentums betont, aber auch diese Thesen haben Widerspruch erfahren, unter anderem mit Hinweis auf die fehlende Einheit der Christen selbst und ihrer Lebensformen: Die von den anhaltenden dogmatischen Kontroversen erzeugten Risse zogen sich von den höchsten Ebenen der Politik bis in einzelne Familien hinein, Konflikte um die Frage nach der idealen Lebensweise eines Christen waren an der Tagesordnung, und einheitliche Verhaltensnormen kristallisierten sich erst allmählich heraus.
Diesen Prozess in griffige Thesen gießen zu wollen, erweist sich angesichts seiner zunehmenden wissenschaftlichen Durchdringung mehr und mehr als illusionär, während mittlerweile das Arbeiten mit den Mosaiksteinchen, die dabei in wachsender Anzahl freigelegt werden, den Alltag bestimmt. Karen Piepenbrinks Mannheimer Habilitationsschrift ist exakt in diesem Feld anzusiedeln. Ihr geht es nicht darum, einmal mehr in großer Geste nach der Rolle „des Christentums” wobei auch immer zu fragen. Mit entsagungsvoller Disziplin hat sich die Autorin durch das christliche Schrifttum im Westen des Römischen Reichs im 4. und frühen 5. Jahrhundert gearbeitet - nicht nur durch die Glanzpunkte der spätlateinischen Literatur, sondern vor allem auch durch sperrige Bibelkommentare und Stapel von Predigten.
Das Ziel dabei: Herauszufinden, welche Probleme im innerchristlichen Diskurs als zentral für durchschnittliche Christen und ihren Alltag angesprochen werden. Zu sechs größeren Themenkomplexen zusammengefasst, die von der Hinwendung zum Christentum über Probleme der Zugehörigkeit zur Kirche, Bezugs- und Normenkonflikte, Bildung und Philosophie bis hin zum Umgang mit den alten Kulten reichen, nennt Piepenbrink die Gesichtspunkte, Argumente und Lösungen, die in der zeitgenössischen Literatur erörtert werden.
Suizid nach der Taufe
Viele lehrreiche und interessante Einzelheiten treten dabei zutage, etwa die Diskussion um die Bedeutung der Taufe in Relation zur „conversio” oder auch Debatten über den Umgang mit dem Phänomen des Suizids nach der Taufe, womit so mancher verhindern wollte, noch Sünden begehen zu können. Freilich suggeriert die Verfasserin dabei eine Einheitlichkeit des innerchristlichen Diskurses, die zunächst einmal hätte nachgewiesen werden müssen; auch für die Spätantike wäre jedenfalls zwischen einzelnen Literaturgattungen zu differenzieren, müsste nach Autorenintentionen und jeweiligem Publikum gefragt werden - hier weist die Arbeit Defizite auf.
Damit hängt die Frage zusammen, wie sich der „innerchristliche Diskurs” eigentlich festmachen lässt: Mit der Auswahl ihrer sechs zu untersuchenden Themenbereiche hat die Autorin bereits fest umgrenzte Felder für ihre Untersuchung abgesteckt, sodass eine unbefangene Rekonstruktion zeitgenössischer Diskurse methodisch schwierig wird. Dass sich der „durchschnittliche Christ” letztlich nicht so leicht fassen lässt, geht ja bereits aus der von der Verfasserin wiedergegebenen Diskussion um den Umgang mit dem Ideal der „perfectio” hervor, das auf eine intensive Auseinandersetzung mit asketischen Vorstellungen verweist und verdeutlicht, wie schwierig die von Piepenbrink vollzogene Trennung „normaler” und asketischer Milieus ist.
Diese Kritik soll nicht die großen Verdienste schmälern, die die Verfasserin sich durch die Aufarbeitung eines gewaltigen Materialcorpus erworben hat. Der nächste Schritt müsste nun in einer thesenartigen Zuspitzung der Ergebnisse und in deren Auswertung insbesondere unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten erfolgen. Dabei wäre es vor allem erforderlich, Bezüge zwischen den Ebenen des Diskurses und der Lebenswelt anhand von konkreten Situationen herzustellen. Es bleibt also noch genug zu tun.
MISCHA MEIER
KAREN PIEPENBRINK: Christliche Identität und Assimilation in der Spätantike. Probleme des Christseins in der Reflexion der Zeitgenossen. Verlag Antike, Frankfurt am Main 2005. 432 Seiten, 54,90 Euro.
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