Uns genau gegenüber, auf der anderen Seite des Erdballs, leben bekanntlich unsere Antipoden. "Gegenfüßler" heißt das übersetzt, und würden wir uns genau unter unseren Füßen in die Tiefe graben, kämen wir vielleicht wirklich unter den Fußsohlen eines Australiers (oder Kängurus) heraus. In Wirklichkeit geht das natürlich nicht. Aber im Gedicht. Und im Bilderbuch.Achtung Vorleser: Wer sich nicht sicher ist, warum unsere Gegenfüßler nicht das Gefühl haben, auf dem Kopf zu stehen, findet die Antwort im Young Oxford Buch der Astronomie, Vorschauseite 24/25. Kinder im Bilderbuchalter werden das wissen wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.1999Auf der anderen Seite der Welt mit den Füßen auf dem Boden ankommen
Ein Kind blickt auf einen Tisch, genauer: auf den obersten von mehreren großen Bögen weißen Papiers. Darauf hat es zwei schwarze Punkte gezeichnet. Links steht: "ein blatt". Blättern wir um, so erfahren wir, daß unter dem Blatt wieder ein Blatt ist und darunter noch ein anderes und darunter ein letztes. Nachdem das Kind eine Schlangenlinie, dann die Schultern und schließlich die Zipfelmütze gezeichnet hat, ist auf dem untersten Blatt der Weihnachtsmann fertig.
Was müßte man alles sagen, um einem Kind zu vermitteln, wie schön und wie erstaunlich Ernst Jandls Gedichte sind? Norman Junge sagt gar nichts, er zeichnet sie, offenbar in Fortsetzung: Nach "Immer höher" und "Fünfter sein" ist "Antipoden" das dritte gemeinsame Bilderbuch.
Das Kind begibt sich von seinem Stuhl unter den Tisch, unter dem ein Boden und darunter wieder ein Zimmer liegt. Dort sehen zwei Menschen fern. Unter dem Zimmer ist ein Keller, hierin verschwindet das Kind, aber unter dem Keller ist der Erdball. Nun wird es wirklich Zeit zu sagen, daß das Kind nie allein ist. Ein Känguruh ist stets bei ihm, es trägt rote Boxhandschuhe und kommentiert mit teils verhaltenen, teils ausschweifenden Gesten die Entstehung des Weihnachtsmanns sowie die weitere Reise nach unten. Kind und Känguruh erleben das, was wir alle gerne erlebten: noch unter den Keller gehen zu können, in und durch den Erdball zu gelangen, um auf der anderen Seite auf den Füßen anzukommen und dennoch auf dem Kopf zu stehen.
Bereits der Titel deutet darauf hin: "Antipoden". Als Wort nicht allen kleinen Kindern bekannt, erschließt sich seine Bedeutung als Bildergeschichte bald in seiner ganzen Dimension. Das Gegenteil von etwas ist stets auch Teil dessen, wovon es eigentlich diametral unterschieden werden soll.
Auf der anderen Seite der Erde ist auch die Welt, wie wir und das Kind sie kennen. Das Buch zeigt sie richtig herum, also auf dem Kopf. Auch hier ist ein Haus, in dem das Kind durch den Keller immer weiter nach unten gelangt. Ganz unten im Zimmer ist wieder ein Tisch, und unter diesem, also obenauf, liegen Bögen weißen Papiers. Das Kind, das aus seiner Weihnachtswelt nach unten reiste, findet sich zwar nicht von Schnee umgeben, dafür aber von zahlreichen Känguruhs. Als es zum obersten Blatt unter dem Tisch vorstößt und dann wieder zu den darunter liegenden, entsteht trotzdem ein Schneemann.
Jandls Gedicht ist konsequent, es entschlüsselt sich erst am Ende, wobei das Ende auch der Anfang sein könnte, aber das weiß man ja erst dann. Für uns, die Leser, stimmt wenigstens der Schneemann - falls wir nicht auf die Idee kommen, das Buch umzudrehen. Dann zeigte uns das Kind wieder wie zu Beginn das oberste Blatt, alles hätte seine Ordnung. Aber das war vor der Reise.
PEER ZUMBANSEN.
Ernst Jandl und Norman Junge: "Antipoden. Auf der anderen Seite der Welt". Beltz & Gelberg, Weinheim 1999. 41 S., geb., 26,50 DM. Ab 4 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Kind blickt auf einen Tisch, genauer: auf den obersten von mehreren großen Bögen weißen Papiers. Darauf hat es zwei schwarze Punkte gezeichnet. Links steht: "ein blatt". Blättern wir um, so erfahren wir, daß unter dem Blatt wieder ein Blatt ist und darunter noch ein anderes und darunter ein letztes. Nachdem das Kind eine Schlangenlinie, dann die Schultern und schließlich die Zipfelmütze gezeichnet hat, ist auf dem untersten Blatt der Weihnachtsmann fertig.
Was müßte man alles sagen, um einem Kind zu vermitteln, wie schön und wie erstaunlich Ernst Jandls Gedichte sind? Norman Junge sagt gar nichts, er zeichnet sie, offenbar in Fortsetzung: Nach "Immer höher" und "Fünfter sein" ist "Antipoden" das dritte gemeinsame Bilderbuch.
Das Kind begibt sich von seinem Stuhl unter den Tisch, unter dem ein Boden und darunter wieder ein Zimmer liegt. Dort sehen zwei Menschen fern. Unter dem Zimmer ist ein Keller, hierin verschwindet das Kind, aber unter dem Keller ist der Erdball. Nun wird es wirklich Zeit zu sagen, daß das Kind nie allein ist. Ein Känguruh ist stets bei ihm, es trägt rote Boxhandschuhe und kommentiert mit teils verhaltenen, teils ausschweifenden Gesten die Entstehung des Weihnachtsmanns sowie die weitere Reise nach unten. Kind und Känguruh erleben das, was wir alle gerne erlebten: noch unter den Keller gehen zu können, in und durch den Erdball zu gelangen, um auf der anderen Seite auf den Füßen anzukommen und dennoch auf dem Kopf zu stehen.
Bereits der Titel deutet darauf hin: "Antipoden". Als Wort nicht allen kleinen Kindern bekannt, erschließt sich seine Bedeutung als Bildergeschichte bald in seiner ganzen Dimension. Das Gegenteil von etwas ist stets auch Teil dessen, wovon es eigentlich diametral unterschieden werden soll.
Auf der anderen Seite der Erde ist auch die Welt, wie wir und das Kind sie kennen. Das Buch zeigt sie richtig herum, also auf dem Kopf. Auch hier ist ein Haus, in dem das Kind durch den Keller immer weiter nach unten gelangt. Ganz unten im Zimmer ist wieder ein Tisch, und unter diesem, also obenauf, liegen Bögen weißen Papiers. Das Kind, das aus seiner Weihnachtswelt nach unten reiste, findet sich zwar nicht von Schnee umgeben, dafür aber von zahlreichen Känguruhs. Als es zum obersten Blatt unter dem Tisch vorstößt und dann wieder zu den darunter liegenden, entsteht trotzdem ein Schneemann.
Jandls Gedicht ist konsequent, es entschlüsselt sich erst am Ende, wobei das Ende auch der Anfang sein könnte, aber das weiß man ja erst dann. Für uns, die Leser, stimmt wenigstens der Schneemann - falls wir nicht auf die Idee kommen, das Buch umzudrehen. Dann zeigte uns das Kind wieder wie zu Beginn das oberste Blatt, alles hätte seine Ordnung. Aber das war vor der Reise.
PEER ZUMBANSEN.
Ernst Jandl und Norman Junge: "Antipoden. Auf der anderen Seite der Welt". Beltz & Gelberg, Weinheim 1999. 41 S., geb., 26,50 DM. Ab 4 J.
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