From the Middle Ages until World War II, Poland was host to Europe's largest and most vibrant Jewish population. By 1970, the combination of Nazi genocide, postwar pogroms, mass emigration, and communist repression had virtually destroyed Poland's...
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.07.2006Revitalisierte Reflexe
Antisemitismus in Polen vom 19. Jahrhundert bis zur Kampagne des Innenministers Moczar 1967/68
Seit der Jedwabne-Debatte hat das Thema Antisemitismus in Polen viel Aufmerksamkeit erregt. Der vorliegende Sammelband mit Beiträgen polnischer und amerikanischer Historiker streift diese Debatte nur am Rande, ordnet das politisch höchst sensible Themenfeld jedoch in einen breiteren historischen Rahmen ein, indem er zentrale Aspekte der polnisch-jüdischen Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den Folgen der "antizionistischen" Kampagne von 1968 behandelt. Antisemitismus war ein gesamteuropäisches Problem, das aber in Polen eine besondere Ausprägung erfuhr. Der Herausgeber des Bandes, Robert Blobaum, legt daher besonderen Nachdruck darauf, den polnischen Antisemitismus und die nur schwache Opposition dagegen im jeweiligen zeitlichen und sozialen Kontext zu sehen und nicht zu einem verkürzten Stereotyp über moderne polnische Geschichte geraten zu lassen. Dieser komplexe Zugang zum Thema ist in den materialreichen Beiträgen eindrucksvoll gelungen.
Inhaltlich beziehen sich die sehr dichten und großenteils auf neu erschlossenem Archivmaterial beruhenden Aufsätze auf die sozialen, ethnischen und religiösen Motive verschiedener Pogrome (1898 in mehreren Kleinstädten Galiziens, 1918 in Lemberg), auf Hintergründe und Formen des klerikalen Antisemitismus und der Haltung der katholischen Kirche während der Okkupation, auf die antijüdische Gesetzgebung in der Zwischenkriegszeit, aber auch auf die intellektuelle Opposition gegen den Antisemitismus. Der Nachkriegszeit sind drei Beiträge gewidmet: den polnisch-jüdischen Beziehungen bis in die sechziger Jahre mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Pogrom von Kielce 1946, der infamen Kampagne von 1968 und den divergierenden Perspektiven auf Auschwitz in der jüdischen und katholischen Erinnerung. Allen Aufsätzen gemeinsam ist das Bemühen um differenzierte Erklärungen und Vermeidung einfacher Bilder. Der Antisemitismus gehört zur Geschichte eines Landes, das einst Refugium der in West- und Mitteleuropa verfolgten Juden war, in dem sich die polnisch-jüdischen Beziehungen aber seit Ende des 19. Jahrhunderts kontinuierlich verschlechterten und erst am Ende des 20. wieder deutlich aufhellten.
Der Antisemitismus war verflochten in die späte Entwicklung der industriellen Revolution, des Nationalismus und der Modernisierung in Polen. Das Eindringen des modernen Kapitalismus und die sozialen Verwerfungen in seinem Gefolge gaben ihm sein Gepräge. Die ersten Pogrome hatten primär ökonomischen, kaum religiösen und rassischen Charakter. Jüdische Händler und Handwerker schienen auf die Herausforderungen des Kapitalismus besser vorbereitet als Polen mit adligem oder bäuerlichem Hintergrund. Das galt in gewisser Weise auch für die antisemitischen Einstellungen in der polnischen Intelligenz: Sie war in den Städten mit der Konkurrenz der Juden konfrontiert und fühlte sich davon herausgefordert. Die sozialökonomischen Aspekte gaben der "jüdischen Frage" anfangs ihr Profil. Für die Nationaldemokraten wurden die Juden bald zum dämonisierten "inneren Feind", und diese Haltung färbte auch auf Liberale und die katholische Kirche ab.
Ein zunehmend aggressiver Katholizismus mit einer manichäischen Weltsicht erleichterte die wachsende rassische Fundierung des Antisemitismus. Dahinter steckte aber auch, wie Konrad Sadkowski zeigt, die Furcht des Klerus vor Verlust der eigenen Position durch eine säkulare und zivile Entwicklung Polens, in der Juden und andere Minderheiten ihren akzeptierten Platz gehabt hätten. Versuche der rechtsnationalistischen Parteien in den dreißiger Jahren, etwas Ähnliches wie die Nürnberger Gesetze in Polen einzuführen und die Massenemigration der Juden zu betreiben, auch wenn das nicht realisiert wurde, waren fatale Höhepunkte antisemitischer Tendenzen. Zu allen Zeiten artikulierten sich in Polen Gegenpositionen. Die Beiträge von Jerzy Jedlicki und Antony Polonsky dazu sind besonders instruktiv. Berühmte Literaten wie der Publizist und Übersetzer Boy-Zelenski brandmarkten mutig die antisemitischen Erscheinungen und handelten sich dafür gehässige Polemiken der nationalistischen Rechten als "künstliche Juden" ein.
Wie stark Antisemitismus und stereotype Vorstellungen einer polnisch-katholischen nationalen Identität vom historischen Kontext abhängig waren, zeigte sich nicht zuletzt im Zweiten Weltkrieg, und zwar auf zweifache Weise. Dariusz Libionka betont die überwiegende Indifferenz der katholischen Kirche gegenüber der nationalsozialistischen Judenvernichtung angesichts der eigenen existentiellen Bedrohung. Als fatal erwies sich besonders die scheinbare Bestätigung des schon aus der Zwischenkriegszeit stammenden Stereotyps der "Zydokomuna", des jüdischen Kommunismus. Die angebliche Kollaboration der Juden mit der sowjetischen Besatzung diskreditierte die Überlebenden und führte nach 1945 zu ihrer weiteren politisch-gesellschaftlichen Diskreditierung. Die Juden waren demnach verantwortlich für das ungeliebte kommunistische Regime.
Mit den aus der Sowjetunion zurückkehrenden Juden - 1946 wurden etwa 125 000 offiziell "repatriiert" - wurden offenbar die noch vorhandenen antisemitischen Reflexe revitalisiert. Die von Bozena Szaynok genauer erörterten Hintergründe des Pogroms von Kielce im Juli 1946, bei dem zirka 40 Menschen umgebracht wurden, sind zwar immer noch nicht völlig geklärt, aber die Bevölkerung war daran massiv beteiligt, selbst wenn der Pogrom vom Geheimdienst möglicherweise provoziert wurde. Gomulka nahm den Exzeß zum Anlaß, um die Entfernung von Kommunisten jüdischer Herkunft aus dem Machtapparat und die verstärkte Auswanderung der Juden zu fordern, weil sie den Kampf gegen "die Kräfte der Reaktion" behinderten. Frühere Helfer der verfolgten Juden und Begründer der "Liga für den Kampf gegen Rassismus" wurden mundtot gemacht oder wie Bartoszewski verhaftet.
Auch im polnischen "Frühling im Oktober" 1956 spielte das Argument des Imports des Stalinismus durch Juden wieder eine Rolle. Zugleich meldeten sich nun aber nach den Jahren des stalinistischen Diskussionsverbots wieder Intellektuelle wie Kolakowski zu Wort, die nachdrücklich vor antisemitischen Stimmungen warnten. Zwar verstärkte bereits Kielce die Emigration, aber erst 1967/68 mit der insbesondere vom Innenminister Moczar forcierten Kampagne gegen die "subversive zionistische fünfte Kolonne" setzte der Massenexodus der Polen jüdischer Herkunft ein. Dariusz Stola, der beste Kenner dieses traurigen Kapitels, zeigt die Verflechtung mehrerer Motive in der politischen Instrumentalisierung der Kampagne: Die Veränderung der Machtverhältnisse in der Parteiführung, der Kampf gegen die Studentenunruhen und ihre Wirkung auf andere soziale Gruppen und die Isolierung der Sympathisanten des "Prager Frühlings" spielten eine wichtige Rolle.
Bereits in den letzten Jahren vor dem Kollaps des kommunistischen Regimes hat in Polen eine breite Diskussion über ein zuvor überwiegend tabuisiertes Thema begonnen. Die Jedwabne-Debatte hat in Polen bekanntlich sehr gemischte Reaktionen hervorgerufen und gezeigt, wie schwer der Abschied von der "martyrologischen", das heißt allein auf die Opferrolle fixierten Position war. Daß diese heftige Debatte stattfand, ist ein deutlicher Beleg für die veränderte politische Landschaft in Gestalt einer pluralistischen politischen Kultur. Der Ausblick des Herausgebers in der Einleitung ist daher trotz aller Hinweise auf immer noch oder wieder grassierende antisemitische Tendenzen in Politik und Gesellschaft optimistisch: zum ersten Mal seit dem späten 19. Jahrhundert hätten nun die Gegner des Antisemitismus in Polen die Oberhand gewonnen.
CHRISTOPH KLESSMANN
Robert Blobaum (Herausgeber): Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Cornell University Press, Ithaca and London 2005. 348 S., 12,95 £.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Antisemitismus in Polen vom 19. Jahrhundert bis zur Kampagne des Innenministers Moczar 1967/68
Seit der Jedwabne-Debatte hat das Thema Antisemitismus in Polen viel Aufmerksamkeit erregt. Der vorliegende Sammelband mit Beiträgen polnischer und amerikanischer Historiker streift diese Debatte nur am Rande, ordnet das politisch höchst sensible Themenfeld jedoch in einen breiteren historischen Rahmen ein, indem er zentrale Aspekte der polnisch-jüdischen Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den Folgen der "antizionistischen" Kampagne von 1968 behandelt. Antisemitismus war ein gesamteuropäisches Problem, das aber in Polen eine besondere Ausprägung erfuhr. Der Herausgeber des Bandes, Robert Blobaum, legt daher besonderen Nachdruck darauf, den polnischen Antisemitismus und die nur schwache Opposition dagegen im jeweiligen zeitlichen und sozialen Kontext zu sehen und nicht zu einem verkürzten Stereotyp über moderne polnische Geschichte geraten zu lassen. Dieser komplexe Zugang zum Thema ist in den materialreichen Beiträgen eindrucksvoll gelungen.
Inhaltlich beziehen sich die sehr dichten und großenteils auf neu erschlossenem Archivmaterial beruhenden Aufsätze auf die sozialen, ethnischen und religiösen Motive verschiedener Pogrome (1898 in mehreren Kleinstädten Galiziens, 1918 in Lemberg), auf Hintergründe und Formen des klerikalen Antisemitismus und der Haltung der katholischen Kirche während der Okkupation, auf die antijüdische Gesetzgebung in der Zwischenkriegszeit, aber auch auf die intellektuelle Opposition gegen den Antisemitismus. Der Nachkriegszeit sind drei Beiträge gewidmet: den polnisch-jüdischen Beziehungen bis in die sechziger Jahre mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Pogrom von Kielce 1946, der infamen Kampagne von 1968 und den divergierenden Perspektiven auf Auschwitz in der jüdischen und katholischen Erinnerung. Allen Aufsätzen gemeinsam ist das Bemühen um differenzierte Erklärungen und Vermeidung einfacher Bilder. Der Antisemitismus gehört zur Geschichte eines Landes, das einst Refugium der in West- und Mitteleuropa verfolgten Juden war, in dem sich die polnisch-jüdischen Beziehungen aber seit Ende des 19. Jahrhunderts kontinuierlich verschlechterten und erst am Ende des 20. wieder deutlich aufhellten.
Der Antisemitismus war verflochten in die späte Entwicklung der industriellen Revolution, des Nationalismus und der Modernisierung in Polen. Das Eindringen des modernen Kapitalismus und die sozialen Verwerfungen in seinem Gefolge gaben ihm sein Gepräge. Die ersten Pogrome hatten primär ökonomischen, kaum religiösen und rassischen Charakter. Jüdische Händler und Handwerker schienen auf die Herausforderungen des Kapitalismus besser vorbereitet als Polen mit adligem oder bäuerlichem Hintergrund. Das galt in gewisser Weise auch für die antisemitischen Einstellungen in der polnischen Intelligenz: Sie war in den Städten mit der Konkurrenz der Juden konfrontiert und fühlte sich davon herausgefordert. Die sozialökonomischen Aspekte gaben der "jüdischen Frage" anfangs ihr Profil. Für die Nationaldemokraten wurden die Juden bald zum dämonisierten "inneren Feind", und diese Haltung färbte auch auf Liberale und die katholische Kirche ab.
Ein zunehmend aggressiver Katholizismus mit einer manichäischen Weltsicht erleichterte die wachsende rassische Fundierung des Antisemitismus. Dahinter steckte aber auch, wie Konrad Sadkowski zeigt, die Furcht des Klerus vor Verlust der eigenen Position durch eine säkulare und zivile Entwicklung Polens, in der Juden und andere Minderheiten ihren akzeptierten Platz gehabt hätten. Versuche der rechtsnationalistischen Parteien in den dreißiger Jahren, etwas Ähnliches wie die Nürnberger Gesetze in Polen einzuführen und die Massenemigration der Juden zu betreiben, auch wenn das nicht realisiert wurde, waren fatale Höhepunkte antisemitischer Tendenzen. Zu allen Zeiten artikulierten sich in Polen Gegenpositionen. Die Beiträge von Jerzy Jedlicki und Antony Polonsky dazu sind besonders instruktiv. Berühmte Literaten wie der Publizist und Übersetzer Boy-Zelenski brandmarkten mutig die antisemitischen Erscheinungen und handelten sich dafür gehässige Polemiken der nationalistischen Rechten als "künstliche Juden" ein.
Wie stark Antisemitismus und stereotype Vorstellungen einer polnisch-katholischen nationalen Identität vom historischen Kontext abhängig waren, zeigte sich nicht zuletzt im Zweiten Weltkrieg, und zwar auf zweifache Weise. Dariusz Libionka betont die überwiegende Indifferenz der katholischen Kirche gegenüber der nationalsozialistischen Judenvernichtung angesichts der eigenen existentiellen Bedrohung. Als fatal erwies sich besonders die scheinbare Bestätigung des schon aus der Zwischenkriegszeit stammenden Stereotyps der "Zydokomuna", des jüdischen Kommunismus. Die angebliche Kollaboration der Juden mit der sowjetischen Besatzung diskreditierte die Überlebenden und führte nach 1945 zu ihrer weiteren politisch-gesellschaftlichen Diskreditierung. Die Juden waren demnach verantwortlich für das ungeliebte kommunistische Regime.
Mit den aus der Sowjetunion zurückkehrenden Juden - 1946 wurden etwa 125 000 offiziell "repatriiert" - wurden offenbar die noch vorhandenen antisemitischen Reflexe revitalisiert. Die von Bozena Szaynok genauer erörterten Hintergründe des Pogroms von Kielce im Juli 1946, bei dem zirka 40 Menschen umgebracht wurden, sind zwar immer noch nicht völlig geklärt, aber die Bevölkerung war daran massiv beteiligt, selbst wenn der Pogrom vom Geheimdienst möglicherweise provoziert wurde. Gomulka nahm den Exzeß zum Anlaß, um die Entfernung von Kommunisten jüdischer Herkunft aus dem Machtapparat und die verstärkte Auswanderung der Juden zu fordern, weil sie den Kampf gegen "die Kräfte der Reaktion" behinderten. Frühere Helfer der verfolgten Juden und Begründer der "Liga für den Kampf gegen Rassismus" wurden mundtot gemacht oder wie Bartoszewski verhaftet.
Auch im polnischen "Frühling im Oktober" 1956 spielte das Argument des Imports des Stalinismus durch Juden wieder eine Rolle. Zugleich meldeten sich nun aber nach den Jahren des stalinistischen Diskussionsverbots wieder Intellektuelle wie Kolakowski zu Wort, die nachdrücklich vor antisemitischen Stimmungen warnten. Zwar verstärkte bereits Kielce die Emigration, aber erst 1967/68 mit der insbesondere vom Innenminister Moczar forcierten Kampagne gegen die "subversive zionistische fünfte Kolonne" setzte der Massenexodus der Polen jüdischer Herkunft ein. Dariusz Stola, der beste Kenner dieses traurigen Kapitels, zeigt die Verflechtung mehrerer Motive in der politischen Instrumentalisierung der Kampagne: Die Veränderung der Machtverhältnisse in der Parteiführung, der Kampf gegen die Studentenunruhen und ihre Wirkung auf andere soziale Gruppen und die Isolierung der Sympathisanten des "Prager Frühlings" spielten eine wichtige Rolle.
Bereits in den letzten Jahren vor dem Kollaps des kommunistischen Regimes hat in Polen eine breite Diskussion über ein zuvor überwiegend tabuisiertes Thema begonnen. Die Jedwabne-Debatte hat in Polen bekanntlich sehr gemischte Reaktionen hervorgerufen und gezeigt, wie schwer der Abschied von der "martyrologischen", das heißt allein auf die Opferrolle fixierten Position war. Daß diese heftige Debatte stattfand, ist ein deutlicher Beleg für die veränderte politische Landschaft in Gestalt einer pluralistischen politischen Kultur. Der Ausblick des Herausgebers in der Einleitung ist daher trotz aller Hinweise auf immer noch oder wieder grassierende antisemitische Tendenzen in Politik und Gesellschaft optimistisch: zum ersten Mal seit dem späten 19. Jahrhundert hätten nun die Gegner des Antisemitismus in Polen die Oberhand gewonnen.
CHRISTOPH KLESSMANN
Robert Blobaum (Herausgeber): Antisemitism and its Opponents in Modern Poland. Cornell University Press, Ithaca and London 2005. 348 S., 12,95 £.
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