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80 Jahre nach dem Holocaust: Ein Buch, das uns die Augen öffnet
Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist - die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich, renommierter Historiker und Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags, zeigt, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen,…mehr

Produktbeschreibung
80 Jahre nach dem Holocaust: Ein Buch, das uns die Augen öffnet

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich die Lage für Juden in Deutschland geworden ist - die Debatte hat auch offengelegt, dass antijüdische Einstellungen schon lange in der Mitte der Gesellschaft existieren. Peter Longerich, renommierter Historiker und Mitautor des 2012 veröffentlichten ersten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestags, zeigt, dass wir den gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland nicht begreifen können, wenn wir ihn vor allem als Sündenbock-Phänomen verstehen, wie es hierzulande in Schule und Hochschule gelehrt wird. Denn der Blick in die Geschichte offenbart, dass das Verhältnis zum Judentum bis heute vor allem ein Spiegel des deutschen Selbstbildes und der Suche nach nationaler Identität geblieben ist. Ein brisantes Buch, das mitten in die aktuelle Debatte stößt.
Autorenporträt
Peter Longerich, geboren 1955, lehrte als Professor für moderne Geschichte am Royal Holloway College der Universität London und war Gründer des dortigen Holocaust Research Centre. Von 2013 bis 2018 war er an der Universität der Bundeswehr in München tätig. Er war einer der beiden Sprecher des ersten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus des Deutschen Bundestags und Mitautor der Konzeption des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Seine Bücher über die 'Politik der Vernichtung' (1998) und ihre Resonanz in der deutschen Bevölkerung, 'Davon haben wir nichts gewusst!' (2006), sind Standardwerke. Seine Biographien über 'Heinrich Himmler' (2008), 'Joseph Goebbels' (2010) und 'Hitler' (2015) fanden weltweit Beachtung. Zuletzt erschienen 'Wannseekonferenz' (2016), 'Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte' (2021) sowie 'Die Sportpalast-Rede 1943. Goebbels und der totale Krieg' (2021)
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Die SZ lässt Peter Longerichs Antisemitismus-Buch vom Historiker Wolfgang Benz rezensieren, der seinerseits lange das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung leitete. Benz schätzt seinen Kollegen Longerich als verdienten Historiker für die Geschichte des Nationalsozialismus, und dessen voluminösen Band kann er allen empfehlen, denen an Gelehrsamkeit und Differenzierung in einer komplexen Materie gelegen ist. Allerdings macht Benz auch deutlich, dass Longerich nicht viel Neues zur Erforschung des Antisemitismus beitragen kann. Das Feld ist gut bestellt. Und Longerichs Konzentration auf das 19. Jahrhundert, in dem sich der Judaismus des Mittelalters in einen modern-rassistischen wandelte, ist in Benz' Augen etwas zu kurz gegriffen. Den Antisemitismus als "religiöses und soziales Ressentiment" oder "als politische und ökonomische Methode zur Ausgrenzung" sieht er in dem Band nicht ergründet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2021

Wo beginnt der deutsche Sonderweg?
Eine Reportage und eine gewichtige historische Studie zum Antisemitismus in Deutschland

Alle Statistiken, die amtliche des Innenministeriums wie die Berichte und Zählungen von Stiftungen und Vereinen, die das Thema verfolgen, zeigen einen klaren Trend: Die Zahl antisemitischer Straftaten und Vorkommnisse ist in den vergangenen Jahren steil angestiegen. Dazu kommt noch ein großes Dunkelfeld, auf das manchmal ein grelles Schlaglicht fällt, etwa wenn den Hintergründen des Attentats von Halle nachrecherchiert wird. Dass dabei der Hass, der sich im Internet austobt, eine wichtige Rolle spielt, ist offensichtlich. Genauso wie sich immer wieder zeigt, dass Verschwörungstheorien, die bei "Querdenkern" und anderen Protestgruppen kursieren, fast durchweg einen antisemitischen Kern haben.

Wie eng Rechtsextremismus und Antisemitismus zusammenhängen, bedarf keiner besonderen Erläuterung. Doch ist Antisemitismus, wie die beiden Journalisten Eva Gruberová und Helmut Zeller schreiben, tatsächlich schon "salonfähig" geworden? Das wird man bestreiten können: Wer sich antisemitisch äußert, kann, jedenfalls im öffentlichen Leben, weder mit Sympathien noch mit Gehör rechnen. Das schließt allerdings nicht aus, dass in der Gesellschaft antisemitische Stereotypen verbreitet sind oder dass es Netzwerke von Rechtsradikalen und Antisemiten auch im öffentlichen Dienst gibt - ein Phänomen, das lange verdrängt wurde und erst seit kurzem in den Fokus der Politik geraten ist.

Gruberová und Zeller sprechen im Untertitel ihres Reportagebuches, das sie durch ganz Deutschland geführt hat - zu jüdischen Gemeinden, in Schulen, zu Muslimen, in rechtsextremistische "Hotspots" -, vom "Judenhass" als "Wiederkehr einer deutschen Krankheit". Auch das ist nicht richtig, wie Ronen Steinke in seiner exzellenten Analyse (F.A.Z. vom 11. Juli 2020) nachgewiesen hat: Der Antisemitismus war seit Beginn in der Bundesrepublik präsent, von der man hätte annehmen sollen, dass sie mit der fortschreitenden Aufklärung über die NS-Zeit und nach Prozessen wegen des Mordes an den europäischen Juden dagegen immunisiert worden sei. Man darf auch bezweifeln, dass es sich nur um eine "deutsche" Krankheit handelt, denn antisemitische Vorfälle und mörderische Attentate hat es auch in anderen europäischen Ländern gegeben - ein Blick nach Frankreich genügt.

Ungewollte Folgen der Debatten um Emanzipation

Ob der Antisemitismus in Deutschland eine besondere Geschichte hat, für die manchmal der Begriff des "eliminatorischen" (Daniel Goldhagen) oder Vernichtungs-Antisemitismus verwendet wird (so auch bei Gruberová und Zeller), ist Gegenstand der Studie des Historikers Peter Longerich. Sein Buch ist im wahrsten Sinne des Wortes ein dicker Brocken und beruht auf stupender Quellenkenntnis. Der Autor ist als Kenner des "Dritten Reichs" und seiner "Judenpolitik" ausgewiesen, und deshalb wird man seinem Urteil, dass es sich bei der Ausbreitung des Antisemitismus im neunzehnten Jahrhundert um ein gesamteuropäisches Phänomen gehandelt habe, "mit sehr starken - jeweils unterschiedlichen - nationalen Wurzeln", Gewicht beimessen müssen.

In seiner Geschichte, die mit der Aufklärung beginnt und bis in die Gegenwart reicht, zeigt Longerich, dass der Antisemitismus "heterogen und eklektisch" war und ist. Es ist gerade seine Wandlungs- und vielfältige Anschlussfähigkeit, die seine Entwicklung und seinen Fortbestand bis heute möglich gemacht hat. So weist Longerich darauf hin, dass schon der frühe, von religiösen Motiven ("Gottesmord") getragene Antisemitismus auch säkulare Elemente enthielt, genauso wie sich im "modernen" Antisemitismus vielerlei Motive vermischen und überlagern, ganz ungeachtet der Widersprüche und Gegensätze, die es zwischen ihnen gibt.

Longerichs Generalthese lautet, dass die "Judenfrage" in Deutschland im Zuge der Nationwerdung entstanden, geradezu geschaffen worden sei, paradoxerweise parallel zu den Bemühungen zur "bürgerlichen Verbesserung der Juden". Das war der Titel einer programmatischen Schrift aus dem Jahr 1781, die zum Auftakt einer über Jahrzehnte geführten Debatte wurde. In dieser wurde von allen Seiten die Frage beleuchtet, "ob die Angehörigen der jüdischen Minderheit nach religionsethischen, moralischen, kulturellen, ethnischen und sonstigen Kriterien die notwendigen Voraussetzungen erfüllten, um sich als gleichberechtigte deutsche Staatsbürger zu qualifizieren". Damit, meint Longerich, habe die "Judenfrage" im öffentlichen Bewusstsein "eine solche Dimension und Bedeutung erlangt, dass sie mit der formalen Gleichstellung nicht erledigt war, sondern auf andere Weise immer und immer wieder neu aufgeworfen werden" konnte.

Longerich verfolgt diese Debatte, die bald unter dem Stichwort "Emanzipation" geführt wurde, ungemein detailliert durch ihre vielen Verästelungen und Entwicklungen, die schließlich im rassistischen, völkischen Antisemitismus mündeten, und er erörtert auch ihre Ergebnisse: Trotz vieler antisemitischer Schriften und Vereine wurde den Juden, schrittweise und phasenverschoben in den verschiedenen Ländern, die zuerst den Norddeutschen Bund, dann das Deutsche Reich bildeten, schließlich die rechtliche Gleichstellung gewährt.

Es ist seine These, dass im Kaiserreich der Antisemitismus - ein Begriff, der erst 1879 geprägt wurde - im Grunde mit einem anrüchigen Odium behaftet blieb, auch wenn es schon früh Vertreibungs- und Vernichtungsphantasien gab. Das klingt doch etwas exkulpierend angesichts des von dem prominenten Historiker Heinrich von Treitschke im Berliner Antisemitismusstreit (1879) zitierten Spruchs aus den Kreisen "der höchsten Bildung": "Die Juden sind unser Unglück!"

Unangenehme Fragen zu heutigen Formen der Aufklärung

Was das Kaiserreich von der Weimarer Republik unterschied, war allerdings, dass der Antisemitismus nicht zur politischen Systemkritik wurde, er blieb gewissermaßen kaiser- und reichstreu. Seine volle Ausprägung und Wirkkraft, glaubt Longerich, sei erst in der Weimarer Republik zutage getreten, als der Antisemitismus von der Rechten zum Synonym für die Beseitigung des verhassten "Weimarer Systems" umgemünzt wurde, also eine revolutionäre Stoßrichtung bekam.

Der Mord an Rathenau kann dafür als Symbol stehen, Parteien - etwa die Deutschnationale Volkspartei - nahmen Juden nicht mehr als Mitglieder auf, der gesellschaftliche Ausschluss der Juden und Boykottbewegungen gegen sie begannen, und zwar schon lange vor 1933. Den deutschen Sonderweg des Antisemitismus sieht Longerich schließlich darin, "dass es der NSDAP als Speerspitze der antisemitischen Bewegung gelang, an die Macht zu kommen, die nun als erstes daranging, eine alles umfassende judenfeindliche Politik durchzusetzen" - im Unterschied zum faschistischen Italien. Im Gegensatz zu Goldhagens These vom "eliminatorischen" Antisemitismus der Nationalsozialisten sieht Longerich den Weg zur Judenvernichtung als improvisiert an, jedenfalls nicht als kontinuierliche Radikalisierung mit dem von vornherein geplanten Ziel der "Endlösung".

Im letzten Teil seines Buches beschreibt Longerich das Fortleben des Antisemitismus in Deutschland nach dem Krieg am Leitfaden von Ereignissen wie dem ersten Mord an einem jüdischen Repräsentanten in Erlangen (1980) bis zum als Massenmord geplanten Anschlag auf die Synagoge in Halle (2019). Dazu kommen zentrale Debatten: ganz früh etwa über den Regisseur Veit Harlan ("Jud Süß"), es gab den Frankfurter Theaterstreit und den Historikerstreit, und es gab heftige Diskussionen über die Wehrmachtsausstellung oder über Martin Walsers Rede zur Verleihung des Friedenspreises. Begleitet wurde das von einer zunehmend maßlosen Kritik am Staat Israel und seiner Besatzungspolitik.

Abschließend weist Longerich auf Leerstellen bei der Erforschung des Antisemitismus hin. So sieht er beispielsweise eine frappierende "Diskrepanz zwischen den Kenntnissen über das Ausmaß des muslimischen Antisemitismus und der verstärkten Medienaufmerksamkeit" für ihn. Longerich konstatiert, dass Antisemitismus in Deutschland wesentlich stärker verbreitet sei als in anderen westeuropäischen Ländern. Und er stellt auch unangenehme Fragen, die für Streit sorgen könnten, etwa ob die Anstrengungen zur historischen Vermittlung des Themas in der Schule kontraproduktiv sein könnten und, generell, ob die Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus zielführend und wirksam seien. Die Berichte und Reportagen von Gruberová und Zeller machen solche Überlegungen plausibel. Und niemand weiß wirklich Antworten auf die in beiden Büchern ausdrücklich oder implizit gestellten Fragen.

GÜNTHER NONNENMACHER

Eva Gruberová

und Helmut Zeller:

"Diagnose: Judenhass". Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit.

C. H. Beck Verlag,

München 2021. 279 S., geb., 16,95 [Euro].

Peter Longerich:

"Antisemitismus". Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute.

Siedler Verlag, München 2021. 631 S., geb., 34,- [Euro].

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»Eine glänzende Studie über die Antisemiten und ihre Erfolgsspur in der deutschen Geschichte...Longerich präsentiert präzise Fakten und bringt diese in Zusammenhänge.« taz - die tageszeitung