Übergriffe gegen jüdische Einrichtungen in Frankreich, antisemitische Ressentiments in Deutschland, judenfeindliche Parolen in Polen, antizionistische Demonstrationen im Iran, Ritualmordlegenden im arabischen Fernsehen, antisemitische Hasspropaganda im Internet, verbreitet von rechtsextremen Gruppen wie von Islamisten Mehr als sechzig Jahre nach der Shoah scheint eine neue Welle antisemitischer Vorurteile Europa und die muslimisch geprägte Welt zu überschwemmen. Vielfältig wie ihre Erscheinungsformen sind die Ursachen dieses neuen Antisemitismus. Sie reichen von Fragen nationaler Identität über ethnische und soziale Spannungen in europäischen Großstädten bis hin zu ungelösten politischen Konflikten im Nahen Osten. Am Ende steht ein kaum zu entwirrendes Knäuel von traditionellen Stereotypen, Israelkritik und Antisemitismus, das sich immer wieder in gewaltsamen Aktionen Bahn bricht. Der vorliegende Sammelband sucht dieses Knäuel zu entwirren, Ursachen zu benennen und aufzudecken.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.01.2007Mit neuer Färbung
Der globalisierte Antisemitismus als Mobilisierungsmechanismus unzufriedener Massen
Der Antisemitismus ist wie ein Zombie und kriecht immer wieder aus irgendwelchen intellektuellen Löchern ans Tageslicht. Zudem nimmt er vor dem Hintergrund der Globalisierung eine neue Färbung an und vergiftet das ohnehin schwieriger gewordene Verhältnis Politik - Religion. Seine Attraktivität als Mobilisierungsmechanismus unzufriedener Massen hat zugenommen, insbesondere in Ländern, deren Führungseliten sich in Opposition zur westlichen Werteordnung sehen oder sich in direktem Konflikt mit Israel befinden.
Die Katholische Akademie des Bistums Essen hat im Jahr 2005 zwei Tagungen zum europäischen und arabischen Antisemitismus veranstaltet. Daraus entstand der vorliegende Sammelband. Er ist wie die meisten seiner Art durch eine gewisse Zufälligkeit der thematischen Akzentsetzungen gekennzeichnet. Das beschwert zwar nicht unbedingt die Lektüre der Beiträge, verhilft aber auch nicht gerade zu einem stimmigen Bild des vielleicht doch gar nicht so "komplexen Phänomens" des Antisemitismus. Freilich ist der politische Diskurs über den Antisemitismus komplex, ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis der Antisemiten, für welche die Juden früher wie heute, in der Diaspora wie in Israel sozusagen als genetisch anders und deshalb als irreversibel bedrohlich erscheinen. Diese Andersartigkeit ist aber, wie man heute sagt, ein Konstrukt, und dazu eines, das sich als "Gerücht" (Adorno) in politischen Konflikten so leicht und rasch verbreiten lässt wie ein chemischer Kampfstoff im Krieg.
Im ersten Teil des Bandes nehmen die Autoren die Auseinandersetzungen über die Definition des Antisemitismus auf. Dabei stoßen sie immer wieder auf Fragen wie: Welche Verbindung gibt es zwischen dem mittelalterlichen, hauptsächlich religiös motivierten Judenhass und der modernen, aus den Krisen von Nationalismus und Kapitalismus hervorbrechenden Judenfeindschaft? Wie könnte man zwischen einem ideologisch verblendeten Antisemitismus und einem streitbaren, aber nicht von vornherein zu disqualifizierenden Antizionismus unterscheiden? Lohnt es sich, in die Schärfe dieser Trennlinie intellektuelle Energie zu investieren? Die Antworten auf solche Fragen fallen nicht leicht, und weil das so ist, fühlt sich der eine oder andere Autor zum Schluss bemüßigt - vor allem Klaus Holz führt das vor -, nach etlichen subtilen und anregenden Überlegungen ein paar politisch korrekte Pflöcke mit dem Holzhammer einzuschlagen. Das hätte nicht sein müssen.
Die zweite Gruppe von Aufsätzen geht auf Antizionismus und Antisemitismus in der arabischen Öffentlichkeit ein. Gefragt wird nach den Möglichkeiten, den tief eingefressenen politischen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern von antisemitischen Stereotypen und Deutungsmustern freizuhalten. Der israelisch-palästinensische Konflikt überschattet seit langem die Region. Auf ihn sind inzwischen so viele andere Konflikte und Probleme in den arabischen Gesellschaften projiziert worden, dass die Antwort auf diese Frage ziemlich betrüblich ausfällt. Der nahezu ungebremste Erfolg des Antisemitismus im islamistischen Diskurs hänge nicht zuletzt mit den Misserfolgen des arabischen Nationalismus und der arabischen Linken zusammen, bemerkt etwa Stefan Wild völlig zu Recht. Am Schluss des Bandes befasst sich Dirk Ansorge mit der Geschichte des Antisemitismus in der katholischen Kirche und mit der Haltung des Vatikans zum Staat Israel. Dabei plädiert er für eine (wie nicht unüblich in theologischen Diskursen) etwas vage bleibende "christliche Theologie des Landes Israel". Machte sie dem kirchlich gesponserten Antisemitismus, etwa in Polen, den Garaus, wäre sie gewiss zu begrüßen.
Nach der Lektüre bleibt als Fazit der beunruhigende Gedanke, dass sich inzwischen eine Art globalisierter Antisemitismus herausgebildet hat, gesellschaftsfähig in unterschiedlichen Teilen der Welt. Und selbst dort, wo er nicht gesellschaftsfähig ist, sondern mit guten Gründen geächtet wird, bleibt er lebendig. Sonst brauchten Synagogen in westlichen Demokratien keinen Polizeischutz.
WILFRIED VON BREDOW
Dirk Ansorge (Herausgeber): Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt. Ursachen und Wechselbeziehungen eines komplexen Phänomens. Bonifatius Verlag, Paderborn, und Verlag Otto Lembeck, Frankfurt am Main 2006. 318 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der globalisierte Antisemitismus als Mobilisierungsmechanismus unzufriedener Massen
Der Antisemitismus ist wie ein Zombie und kriecht immer wieder aus irgendwelchen intellektuellen Löchern ans Tageslicht. Zudem nimmt er vor dem Hintergrund der Globalisierung eine neue Färbung an und vergiftet das ohnehin schwieriger gewordene Verhältnis Politik - Religion. Seine Attraktivität als Mobilisierungsmechanismus unzufriedener Massen hat zugenommen, insbesondere in Ländern, deren Führungseliten sich in Opposition zur westlichen Werteordnung sehen oder sich in direktem Konflikt mit Israel befinden.
Die Katholische Akademie des Bistums Essen hat im Jahr 2005 zwei Tagungen zum europäischen und arabischen Antisemitismus veranstaltet. Daraus entstand der vorliegende Sammelband. Er ist wie die meisten seiner Art durch eine gewisse Zufälligkeit der thematischen Akzentsetzungen gekennzeichnet. Das beschwert zwar nicht unbedingt die Lektüre der Beiträge, verhilft aber auch nicht gerade zu einem stimmigen Bild des vielleicht doch gar nicht so "komplexen Phänomens" des Antisemitismus. Freilich ist der politische Diskurs über den Antisemitismus komplex, ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis der Antisemiten, für welche die Juden früher wie heute, in der Diaspora wie in Israel sozusagen als genetisch anders und deshalb als irreversibel bedrohlich erscheinen. Diese Andersartigkeit ist aber, wie man heute sagt, ein Konstrukt, und dazu eines, das sich als "Gerücht" (Adorno) in politischen Konflikten so leicht und rasch verbreiten lässt wie ein chemischer Kampfstoff im Krieg.
Im ersten Teil des Bandes nehmen die Autoren die Auseinandersetzungen über die Definition des Antisemitismus auf. Dabei stoßen sie immer wieder auf Fragen wie: Welche Verbindung gibt es zwischen dem mittelalterlichen, hauptsächlich religiös motivierten Judenhass und der modernen, aus den Krisen von Nationalismus und Kapitalismus hervorbrechenden Judenfeindschaft? Wie könnte man zwischen einem ideologisch verblendeten Antisemitismus und einem streitbaren, aber nicht von vornherein zu disqualifizierenden Antizionismus unterscheiden? Lohnt es sich, in die Schärfe dieser Trennlinie intellektuelle Energie zu investieren? Die Antworten auf solche Fragen fallen nicht leicht, und weil das so ist, fühlt sich der eine oder andere Autor zum Schluss bemüßigt - vor allem Klaus Holz führt das vor -, nach etlichen subtilen und anregenden Überlegungen ein paar politisch korrekte Pflöcke mit dem Holzhammer einzuschlagen. Das hätte nicht sein müssen.
Die zweite Gruppe von Aufsätzen geht auf Antizionismus und Antisemitismus in der arabischen Öffentlichkeit ein. Gefragt wird nach den Möglichkeiten, den tief eingefressenen politischen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern von antisemitischen Stereotypen und Deutungsmustern freizuhalten. Der israelisch-palästinensische Konflikt überschattet seit langem die Region. Auf ihn sind inzwischen so viele andere Konflikte und Probleme in den arabischen Gesellschaften projiziert worden, dass die Antwort auf diese Frage ziemlich betrüblich ausfällt. Der nahezu ungebremste Erfolg des Antisemitismus im islamistischen Diskurs hänge nicht zuletzt mit den Misserfolgen des arabischen Nationalismus und der arabischen Linken zusammen, bemerkt etwa Stefan Wild völlig zu Recht. Am Schluss des Bandes befasst sich Dirk Ansorge mit der Geschichte des Antisemitismus in der katholischen Kirche und mit der Haltung des Vatikans zum Staat Israel. Dabei plädiert er für eine (wie nicht unüblich in theologischen Diskursen) etwas vage bleibende "christliche Theologie des Landes Israel". Machte sie dem kirchlich gesponserten Antisemitismus, etwa in Polen, den Garaus, wäre sie gewiss zu begrüßen.
Nach der Lektüre bleibt als Fazit der beunruhigende Gedanke, dass sich inzwischen eine Art globalisierter Antisemitismus herausgebildet hat, gesellschaftsfähig in unterschiedlichen Teilen der Welt. Und selbst dort, wo er nicht gesellschaftsfähig ist, sondern mit guten Gründen geächtet wird, bleibt er lebendig. Sonst brauchten Synagogen in westlichen Demokratien keinen Polizeischutz.
WILFRIED VON BREDOW
Dirk Ansorge (Herausgeber): Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt. Ursachen und Wechselbeziehungen eines komplexen Phänomens. Bonifatius Verlag, Paderborn, und Verlag Otto Lembeck, Frankfurt am Main 2006. 318 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zufrieden zeigt sich Wilfried von Bredow mit diesem Sammelband über das Phänomen des globalisierten Antisemitismus, der aus zwei Tagungen der Katholischen Akademie des Bistums Essen hervorgegangen ist. Wie viele derartige Sammelbände fällt auch der Vorliegende seines Erachtens thematisch etwas heterogen aus. Dies mindere zwar nicht die Qualität der einzelnen Beiträge, verhelfe aber "auch nicht gerade zu einem stimmigen Bild des vielleicht doch gar nicht so 'komplexen Phänomens' des Antisemitismus." Als wirklich komplex betrachtet Bredow demgegenüber den politischen Diskurs über den Antisemitismus, was auch die Beiträge des Bandes bezeugen - etwa wenn es im ersten Teil des Bandes um die Auseinandersetzungen über die Definition des Antisemitismus geht. Besonders aufschlussreich scheinen ihm die Aufsätze über Antizionismus und Antisemitismus in der arabischen Öffentlichkeit sowie ein Beitrag über die Geschichte des Antisemitismus in der katholischen Kirche und die Haltung des Vatikans zum Staat Israel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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