Ein mitreißendes Porträt des bissigen Journalisten und launigen Bohemiens Anton Kuh.Walter Schüblers Biographie porträtiert den extravaganten Lebenskünstler Anton Kuh in all seinen Facetten: den streitbaren Publizisten, der die laufenden Wiener und Berliner Ereignisse mit polemischer Verve glossierte; den hellwachen Chronisten der 1910er, 1920er und 1930er Jahre; den bekennenden »Linksler«, der in der Auseinandersetzung mit den Nazis Kopf und Kragen riskierte; den »Gegenteils-Fex«, der sich einen Spaß daraus machte, Karl Kraus über Jahre zu frotzeln; den Bohemien, der - programmatisch taktlos - keine Gelegenheit ausließ zu provozieren; den aufgekratzten Neurastheniker, der geradezu selbstmörderisch lebte; den fulminanten Stegreif-Redner, der seine Gedankengänge heißlaufen ließ und damit sein Publikum zu Beifallsstürmen hinriss.Diese erste Biographie des »Sprechstellers« rekonstruiert auch dessen Hauptwerk - die Stegreif-Reden - und wirft alles über den Haufen, was an Gerüchten über die vermeintliche Wiener »Lokalgröße« immer noch kursiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Arithmetisches Mittel aus Nietzsche und Bauchredner
Im Schauer der Gedankenblitze und Bonmots: Walter Schübler legt eine Biographie von Anton Kuh vor.
Von Daniela Strigl
Wie schreibt man die Biographie eines Autors, der an Geistesgegenwart, Witz und stilistischem Funkeln die meisten seiner Zunft- und Zeitgenossen überragte? Und der dennoch heute dazu verdammt scheint, das Etikett eines "Kaffeehausliteraten" und Kabarettisten zu tragen. Walter Schübler hat sich im Falle des Anton Kuh für das extensive Zitat entschieden. Wer immer Kuh kommentiert, kritisiert oder verunglimpft, vermittelt etwas von der "akustischen Atmosphäre" der Zeit, die den "Sprechsteller" aus Wien groß und dann wieder klein gemacht hat. "Auf den ,O-Ton' zu setzen, wenn Kuh am Wort ist, lag umso naher: Ihn zu referieren ist nicht annähernd so unterhaltsam wie ihn zu zitieren." Zum Beispiel: "Österreich: eine Schweiz der Komfortlosigkeit." - "Neue Generation: Sie wissen nicht, wo Gott wohnt, aber sie haben ihn alle schon interviewt." - "Wie sich der kleine Moritz die Weltgeschichte vorstellt - genau so ist sie!"
So soll diese Biographie, mit Lessing gesprochen, "nach den Quellen" schmecken, und das tut sie auch, was sie in der Tat unterhaltsam, mitunter hochkomisch, aber auch nicht ganz leicht verdaulich macht. Denn zum einen stellt die Dichte, in der Kuhs Gedankenblitze und Bonmots auf den Leser herniederprasseln, über die Distanz eine gewisse Herausforderung dar, zum anderen ist der Biograph selbst keineswegs ohne ästhetische Ambition, vielmehr ein von und mit seinem Gegenstand Begeisterter und Entflammter, der seinem Pegasus eher die Sporen gibt als eine Parade. Einige Sätze gehörten entschachtelt, auch hat das Lektorat wohl einige Wiederholungen übersehen, die überaus passende österreichische Sprach-Note indes nicht angetastet: Wir lesen "stier" (pleite), "entrisch" (unheimlich) und "Feber", allerdings nicht "Jänner", sondern "Januar".
Walter Schübler ist aber nicht nur ein geistreicher Schreiber, sondern vor allem ein Literaturwissenschaftler von stupendem Fleiß und enormer Akribie. Sieben Bände Kuh hat er bereits herausgegeben, 1500 Texte, von denen er vier Fünftel erst ausfindig machen und identifizieren musste (F.A.Z. vom 6. Januar 2017). Die Biographie ist so etwas wie der Schlussstein zu diese Werkedition, die Scharfsinn und Hellsicht eines großen Autors zugänglich macht, der mit dem mikroskopischen Monokel des Feuilletonisten die eigene Person in den Augen der Nachwelt paradox verkleinert hat. Geboren 1890 in Wien als Sohn eines aus Prag zugewanderten Journalisten, publizierte Kuh früh im "Prager Tagblatt", dann im "Frieden" und in der "Stunde" - das Blatt des erpresserischen Imre Békessy -, im "Berliner Tageblatt", im "Simplicissimus", in der "Weltbühne" und vielen anderen Blättern. 1926 übersiedelte er nach Berlin, von dort emigrierte er 1933 über Wien nach Paris und London, 1938 nach dem Anschluss Österreichs, den er in Wien erlebte, über Brünn nach New York, wo er 1941 an einem Herzinfarkt starb.
Zu Beginn skizziert der Biograph in einer "Personsbeschreibung" Kuhs Charakterkopf, am Ende versorgt eine prägnante Zeittafel den Leser mit dem, was man so Lebensstationen nennt. Dazwischen breitet Schübler mit Lust und Liebe und chronologischer Ordnung die Hauptfelder des Kuhschen OEuvres aus: das Feuilleton, die Theaterkritik, den Kaffeehausdisput, die Schauspielerei, insbesondere die überzeugende lebenslange Darstellung eines Dandys und Schnorrerkönigs, eines Bohemiens von volatilem Geist und ohne festen Wohnsitz (Kuh war sein Lebtag Hotelgast, seine Adresse zeitweilig "Wien, 1. Bezirk, Café Central"); und die Kunst der Stegreifrede, mit der Kuh, nach eigenem Befund als das "arithmetische Mittel aus Nietzsche und einem Bauchredner", ab 1917 von Prag bis Berlin die Säle füllte und von der naturgemäß kaum schriftliche Zeugnisse überliefert sind.
Das Setting immerhin ist bekannt: "ein Tisch, ein Stuhl, auf dem Tisch - ab Mitte der zwanziger Jahre - eine Flasche Kognak, manchmal ein Glas dazu, das er sich ab und zu randvoll einschenkt. Kuh nimmt Platz, redet sich warm, kommt in Bewegung, steht auf, steht hinter dem Stuhl, gestikuliert, geht dann anderthalb, zwei Stunden herum, sprechend, ringend, die Worte aus den Gesten schöpfend", immer wieder "unterbrochen von spontanem Beifall, von Zeit zu Zeit ein Zwischenruf, der schlagfertig pariert wird".
Ganze zweieinhalb Stunden dauert Kuhs von Tumulten begleitete Abrechnung mit Karl Kraus und seinen Jüngern 1925 im Wiener Konzerthaus, die unter dem Titel "Der Affe Zarathustras" ausnahmsweise auch gedruckt wird. Unter den Fehden, die der Biograph minutiös, belegreich und um Fairness bemüht nachzeichnet, ist jene mit dem "unglückseligen Amokläufer des Wortes" nicht nur die bekannteste, sondern auch die ergiebigste. Der jahrelang geübte "Unterhaltungssport" der "Frotzelung des Kraus" -, getreu Kuhs Devise "Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich" - enthüllt Charakterzüge des einen wie des anderen. Es ist Kraus' sakrosankte Urteilsmacht und ihre hysterische Anbetung, die den "Gegenteils-Fex" und "notorischen Spielverderber" (Eigendefinition) fuchtig macht. Daraus wird der Schlagabtausch zweier Wiener Juden, die ihr Waffenarsenal bedenkenlos vom antisemitischen Diskurs der Zeit borgen, während ihre gemeinsamen Gegner aufrüsten.
Schübler zeigt eindrücklich, wie der "physiologisch linksstehende Mensch" (Kuh über Kuh) dem Rechtsdrall mit immer größerer Deutlichkeit entgegentritt, unter Verzicht auf das, was sein Publikum von ihm erwartet: Witzakrobatik. 1932, zum hundertsten Todestag des Dichterfürsten, betitelt er seine Vorträge mit "Was würde Goethe dazu sagen" und "Goethe und die Reichspräsidentenwahl". Noch widerlicher als das deutsche Pflaster erscheint Kuh das unberechenbare Wiener Parkett, wobei ihm ein anderes Metaphernfeld näher liegt: "Wenn schon Reaktion, dann lieber Asphalt und nicht Dreck." In einem Milieu durchaus praktizierter Handgreiflichkeit wusste der Polemiker zu differenzieren: "Eine Ohrfeige darf nichts als das klatschende Endglied einer Kette unausgesprochener, schlüssiger Argumente sein. Wenn sie nicht wie ein Bonmot zündet, gehört sie vors Bezirksgericht."
Naturgemäß weniger als für das Literarische und das Politische interessiert Schübler sich für Anton Kuhs Privatleben. Immerhin ist die Rede von der Auflösung einer Verlobung im Jahr 1919 - Kuh war der jungen Frau aus dem Umkreis Peter Altenbergs ein gar zu unzuverlässiger Patron - und en passant auch von einer späten Heirat im New Yorker Exil. Die Frau ist zwanzig Jahre jünger und heißt Thea Tausig, "geb. Goldmann" oder "geb. Sahavi", so genau weiß man das offenbar nicht. Ansonsten deutet Schübler an, dass Kuh sein aufklärerisches Engagement für die "Sachlichkeit der Triebe" im Sinne des anarchistischen Psychoanalytikers Otto Gross nicht nur in Vorträgen ("Die sexuelle Revolution") vertreten habe. Geradezu nonchalant, sozusagen in Klammern, erwähnt er Kuhs "in jungen Jahren (auch) gelebte Homosexualität", auf die Kraus mit den Worten eines persiflierten Kraus-Gegners ziemlich plump angespielt habe: "Ich komme von rückwärts gegen ihn, da kenn ich mich aus!" Und das obwohl er sich einiges darauf zugutehielt, private Blößen seiner Kontrahenten nicht öffentlich auszustellen. "Ethospetetos" nannte Kuh solche Moralverdopplung.
Walter Schübler: "Anton Kuh". Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
572 S., Abb., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Schauer der Gedankenblitze und Bonmots: Walter Schübler legt eine Biographie von Anton Kuh vor.
Von Daniela Strigl
Wie schreibt man die Biographie eines Autors, der an Geistesgegenwart, Witz und stilistischem Funkeln die meisten seiner Zunft- und Zeitgenossen überragte? Und der dennoch heute dazu verdammt scheint, das Etikett eines "Kaffeehausliteraten" und Kabarettisten zu tragen. Walter Schübler hat sich im Falle des Anton Kuh für das extensive Zitat entschieden. Wer immer Kuh kommentiert, kritisiert oder verunglimpft, vermittelt etwas von der "akustischen Atmosphäre" der Zeit, die den "Sprechsteller" aus Wien groß und dann wieder klein gemacht hat. "Auf den ,O-Ton' zu setzen, wenn Kuh am Wort ist, lag umso naher: Ihn zu referieren ist nicht annähernd so unterhaltsam wie ihn zu zitieren." Zum Beispiel: "Österreich: eine Schweiz der Komfortlosigkeit." - "Neue Generation: Sie wissen nicht, wo Gott wohnt, aber sie haben ihn alle schon interviewt." - "Wie sich der kleine Moritz die Weltgeschichte vorstellt - genau so ist sie!"
So soll diese Biographie, mit Lessing gesprochen, "nach den Quellen" schmecken, und das tut sie auch, was sie in der Tat unterhaltsam, mitunter hochkomisch, aber auch nicht ganz leicht verdaulich macht. Denn zum einen stellt die Dichte, in der Kuhs Gedankenblitze und Bonmots auf den Leser herniederprasseln, über die Distanz eine gewisse Herausforderung dar, zum anderen ist der Biograph selbst keineswegs ohne ästhetische Ambition, vielmehr ein von und mit seinem Gegenstand Begeisterter und Entflammter, der seinem Pegasus eher die Sporen gibt als eine Parade. Einige Sätze gehörten entschachtelt, auch hat das Lektorat wohl einige Wiederholungen übersehen, die überaus passende österreichische Sprach-Note indes nicht angetastet: Wir lesen "stier" (pleite), "entrisch" (unheimlich) und "Feber", allerdings nicht "Jänner", sondern "Januar".
Walter Schübler ist aber nicht nur ein geistreicher Schreiber, sondern vor allem ein Literaturwissenschaftler von stupendem Fleiß und enormer Akribie. Sieben Bände Kuh hat er bereits herausgegeben, 1500 Texte, von denen er vier Fünftel erst ausfindig machen und identifizieren musste (F.A.Z. vom 6. Januar 2017). Die Biographie ist so etwas wie der Schlussstein zu diese Werkedition, die Scharfsinn und Hellsicht eines großen Autors zugänglich macht, der mit dem mikroskopischen Monokel des Feuilletonisten die eigene Person in den Augen der Nachwelt paradox verkleinert hat. Geboren 1890 in Wien als Sohn eines aus Prag zugewanderten Journalisten, publizierte Kuh früh im "Prager Tagblatt", dann im "Frieden" und in der "Stunde" - das Blatt des erpresserischen Imre Békessy -, im "Berliner Tageblatt", im "Simplicissimus", in der "Weltbühne" und vielen anderen Blättern. 1926 übersiedelte er nach Berlin, von dort emigrierte er 1933 über Wien nach Paris und London, 1938 nach dem Anschluss Österreichs, den er in Wien erlebte, über Brünn nach New York, wo er 1941 an einem Herzinfarkt starb.
Zu Beginn skizziert der Biograph in einer "Personsbeschreibung" Kuhs Charakterkopf, am Ende versorgt eine prägnante Zeittafel den Leser mit dem, was man so Lebensstationen nennt. Dazwischen breitet Schübler mit Lust und Liebe und chronologischer Ordnung die Hauptfelder des Kuhschen OEuvres aus: das Feuilleton, die Theaterkritik, den Kaffeehausdisput, die Schauspielerei, insbesondere die überzeugende lebenslange Darstellung eines Dandys und Schnorrerkönigs, eines Bohemiens von volatilem Geist und ohne festen Wohnsitz (Kuh war sein Lebtag Hotelgast, seine Adresse zeitweilig "Wien, 1. Bezirk, Café Central"); und die Kunst der Stegreifrede, mit der Kuh, nach eigenem Befund als das "arithmetische Mittel aus Nietzsche und einem Bauchredner", ab 1917 von Prag bis Berlin die Säle füllte und von der naturgemäß kaum schriftliche Zeugnisse überliefert sind.
Das Setting immerhin ist bekannt: "ein Tisch, ein Stuhl, auf dem Tisch - ab Mitte der zwanziger Jahre - eine Flasche Kognak, manchmal ein Glas dazu, das er sich ab und zu randvoll einschenkt. Kuh nimmt Platz, redet sich warm, kommt in Bewegung, steht auf, steht hinter dem Stuhl, gestikuliert, geht dann anderthalb, zwei Stunden herum, sprechend, ringend, die Worte aus den Gesten schöpfend", immer wieder "unterbrochen von spontanem Beifall, von Zeit zu Zeit ein Zwischenruf, der schlagfertig pariert wird".
Ganze zweieinhalb Stunden dauert Kuhs von Tumulten begleitete Abrechnung mit Karl Kraus und seinen Jüngern 1925 im Wiener Konzerthaus, die unter dem Titel "Der Affe Zarathustras" ausnahmsweise auch gedruckt wird. Unter den Fehden, die der Biograph minutiös, belegreich und um Fairness bemüht nachzeichnet, ist jene mit dem "unglückseligen Amokläufer des Wortes" nicht nur die bekannteste, sondern auch die ergiebigste. Der jahrelang geübte "Unterhaltungssport" der "Frotzelung des Kraus" -, getreu Kuhs Devise "Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich" - enthüllt Charakterzüge des einen wie des anderen. Es ist Kraus' sakrosankte Urteilsmacht und ihre hysterische Anbetung, die den "Gegenteils-Fex" und "notorischen Spielverderber" (Eigendefinition) fuchtig macht. Daraus wird der Schlagabtausch zweier Wiener Juden, die ihr Waffenarsenal bedenkenlos vom antisemitischen Diskurs der Zeit borgen, während ihre gemeinsamen Gegner aufrüsten.
Schübler zeigt eindrücklich, wie der "physiologisch linksstehende Mensch" (Kuh über Kuh) dem Rechtsdrall mit immer größerer Deutlichkeit entgegentritt, unter Verzicht auf das, was sein Publikum von ihm erwartet: Witzakrobatik. 1932, zum hundertsten Todestag des Dichterfürsten, betitelt er seine Vorträge mit "Was würde Goethe dazu sagen" und "Goethe und die Reichspräsidentenwahl". Noch widerlicher als das deutsche Pflaster erscheint Kuh das unberechenbare Wiener Parkett, wobei ihm ein anderes Metaphernfeld näher liegt: "Wenn schon Reaktion, dann lieber Asphalt und nicht Dreck." In einem Milieu durchaus praktizierter Handgreiflichkeit wusste der Polemiker zu differenzieren: "Eine Ohrfeige darf nichts als das klatschende Endglied einer Kette unausgesprochener, schlüssiger Argumente sein. Wenn sie nicht wie ein Bonmot zündet, gehört sie vors Bezirksgericht."
Naturgemäß weniger als für das Literarische und das Politische interessiert Schübler sich für Anton Kuhs Privatleben. Immerhin ist die Rede von der Auflösung einer Verlobung im Jahr 1919 - Kuh war der jungen Frau aus dem Umkreis Peter Altenbergs ein gar zu unzuverlässiger Patron - und en passant auch von einer späten Heirat im New Yorker Exil. Die Frau ist zwanzig Jahre jünger und heißt Thea Tausig, "geb. Goldmann" oder "geb. Sahavi", so genau weiß man das offenbar nicht. Ansonsten deutet Schübler an, dass Kuh sein aufklärerisches Engagement für die "Sachlichkeit der Triebe" im Sinne des anarchistischen Psychoanalytikers Otto Gross nicht nur in Vorträgen ("Die sexuelle Revolution") vertreten habe. Geradezu nonchalant, sozusagen in Klammern, erwähnt er Kuhs "in jungen Jahren (auch) gelebte Homosexualität", auf die Kraus mit den Worten eines persiflierten Kraus-Gegners ziemlich plump angespielt habe: "Ich komme von rückwärts gegen ihn, da kenn ich mich aus!" Und das obwohl er sich einiges darauf zugutehielt, private Blößen seiner Kontrahenten nicht öffentlich auszustellen. "Ethospetetos" nannte Kuh solche Moralverdopplung.
Walter Schübler: "Anton Kuh". Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
572 S., Abb., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018Zwickel gegen Monokel
Anton Kuh war der beste Aphoristiker des 20. Jahrhunderts. Seine Freunde und Feinde der Wiener Kaffeehaus-Moderne
waren allerdings lauter. Walter Schübler, Autor einer großen Biografie, tritt glücklicherweise hinter den Porträtierten zurück
VON FABIAN WOLFF
Vor ein paar Jahren fand an der FU Berlin ein Symposium zum „jüdischen Witz“ statt, das natürlich – noch nicht die Pointe – nicht wirklich witzig war. Die Anführungszeichen um das Thema waren dick gedruckt, trotzdem schlichen sich immer wieder Kitsch und Pathos ein, die dann des Saales verwiesen wurden. So traf es einen Vertreter des Jüdischen Museums Wien, der einen Vortrag über „Wiener und Berliner jüdische Künstler in Kabarett und Revue“ hielt, und dabei alle zwischen gläubig und atheistisch, zionistisch und getauft, deutsch und österreichisch in einen großen Topf warf, aus dem dann „jüdischer Humor“ gereicht werden sollte. Vor ihm saß der große amerikanische Germanist Sander Gilman, der nach dem Vortrag ansetzte: „Ich möchte mich für diese Parodie auf einen Antisemiten, der glaubt, trennscharf zwischen Deutschen und Juden unterscheiden zu können, vielmals bedanken! Die war köstlich!“, gefolgt von der Muah-Geste, die Leute machen, wenn sie einen italienischen Chefkoch imitieren.
Der Schriftsteller, Journalist und Redner Anton Kuh, einer jener Künstler, die der Museumsmann hatte ehren wollen, hätte viel aus dieser Szene gemacht. Für genauen Spott war er einerseits immer zu haben, andererseits bestand er in scharfer Abgrenzung darauf, „Jud“ zu sein, „ohne das wehrhaft-pathetische Suffix e“.
Diese Selbstpositionierung, eine Karriere zwischen Wien, Prag, Berlin und New York, Freund- und Feindschaft mit den Größen der Wiener Kaffeehaus-Moderne – Kuhs Leben und Werk bietet genug Substanz für eine Biografie, die der österreichische Literaturwissenschaftler und Kuh-Forscher Walter Schübler nach einer Werkausgabe 2016 jetzt endlich geschrieben hat. Endlich jedenfalls für jene, die wissen, dass es sich um den besten Aphoristiker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert handelt, vielleicht um den witzigsten Schreiber seiner Generation. Alle anderen kennen Kuh, wenn überhaupt, als Nebenfigur.
Dass Kuh („alle Witze schon gemacht“) das Potenzial zur beredten, manchmal geschwätzigen Hauptfigur hat, belegt Schübler schon mit einer fulminanten Eröffnung, in der er Selbst- und Fremdbeschreibungen montiert, die von seinem „bekennenden Neurasthenikertum“, seinem sanft prätentiösen Monokel und seinem betont jiddelnden Deutsch zeugen. Natürliches Dandytum verbindet sich mit einer Grundwiderständigkeit, die Ausdruck in seinen Artikeln und Essays findet, aber vor allem in legendären Stegreifreden.
Kuh improvisiert, entwickelt spontane Gedanken zu kulturellen und philosophischen Themen, verbindet sie mit vorformulierten Ideen und hat stets im Blick, ob sich das Publikum langweilt. Man kann ihn als Ahnen von amerikanischem Stand-up sehen, von Lenny Bruce und Richard Pryor. Das wäre jedenfalls die Art von großer These, die Schübler eben nicht aufstellt.
Kuh, schon als Jugendlicher ambitioniert, spricht von einer Wedekind-Kindheit. Sein Vater war der Zeitungsredakteur Emil Kuh, sein Großvater, David Kuh, heroischer Vertreter des Liberalismus in Prag. Schübler lässt Kuh von einem verwirrenden Besuch einer Statue für den Großvater auf dem Prager Friedhof erzählen, mit der Inschrift „Alle Ehre von der Treue kommt“. „Leitartikler vorgeschrittenen Alters musterten mich missratenen Erben des Liberalismus, inwieweit ich durch den Ausspruch bewegt würde. Es war eine Luft um uns von Rütlischwur und Ritterschlag. Soviel Pathos war ich nicht gewachsen – ich entlief den Pionieren des Deutschtums in ein tschechisches Beisl.“ Schübler setzt diese Erinnerung an den Anfang (in eine Fußnote), denn eine bessere Urszene lässt sich kaum denken: die innerlich-äußere Physiognomik als Typologie („Leitartikler“), die Abneigung für falsche Erhabenheit und patriotischen Dünkel, schließlich die fast zärtliche Missbilligung, die nie ganz in Verachtung umschlägt, für all jene Juden, die so gerne richtige Deutsche wären.
Der „stolze, gedemütigte Jecke“ (wie Maxim Biller, der harte Hund, einst den Historiker Peter Gay nannte, nicht unbedingt treffend), der gute Bürger mosaischen Glaubens, der Deutschland liebt, Goethe liest, wie selbstverständlich sein Leben im Ersten Weltkrieg opfert und das böse Unheil nicht kommen sehen will – er ist inzwischen selbst ein Klischee geworden wie der wandernde wurzellose Ahasver, der keine Heimat findet. Es gab in ganz Europa Juden, die ihr Jüdischsein nicht verleugneten, nicht ablegen oder vergessen wollten, aber auch keine Zionisten waren. Kuh war einer von ihnen.
Schübler macht nicht viel aus diesen Dramen, vielleicht das Österreichischste an diesem Buch. Aber er nimmt sie als Motiv ernst, das sich durch Kuhs gesamtes Werk zieht, sein Leben sowieso, und viele Freundschaften und Feindschaften erklären kann. Die bekannteste ist die Fehde mit Karl Kraus, Herausgeber und über Jahrzehnte alleiniger Autor der „Fackel“.
Es ist nicht schwer, sich die amerikanische Sachbuchversion dieser Geschichte vorzustellen: Zwickel gegen Monokel – Kraus, Kuh und der Streit, der Wien entzweite. Begonnen hatte er mit Kraus’ Versuch, den Herausgeber Imre Békessy zu „erledigen“, ihn wegen seines halbseidenen Vorgehens und der Boulevardmethoden seiner Zeitung „Die Stunde“ aus Wien zu treiben. Tatsächlich wird sein Anzeigenchef 1926 wegen Erpressung verhaftet, Békessy ist gerade auf Kur und geht nach Paris. Kraus feiert sich als Retter der Stadt. Kuh ist einer der Autoren der „Stunde“. Er nimmt sich Kraus, „den mit den roten Hefterln“, im als Protokoll erhaltenen Vortrag „Der Affe Zarathustras“ vor, auf den Kraus – was trifft, trifft zu – mit einer Beleidigungsklage reagiert.
Es ist ein bemerkenswertes Dokument, eine grundsätzliche Zerlegung von Kraus als „Intelligenzplebejer“ und seines fanatischen Publikums, darunter Elias Canetti und Bruno Kreisky. Eine Zuschauerin will für Kraus Partei ergreifen, worauf Kuh mit „Die Kraus-Verehrung der Frauen gehört tatsächlich nur vor den Arzt, sie gehört nicht mehr vor mein Tribunal“ reagiert. Schübler erwähnt diese außergewöhnliche Szene leider nicht. Es ist einer der seltenen Momente, in der einem der Hauptakteure der Wiener Moderne auffällt, dass Misogynie, ob als verwissenschaftlichter Frauenhass von Otto Weininger oder einfach als Selbstverständlichkeit, quasi eine Hintergrundmusik der Zeit ist. Kraus pfeift sie schrill in der „Fackel“, auch Kuh summt sie gelegentlich.
Über Kraus hat der Historiker Arno Lustiger einmal geschrieben, dass es kein Wunder sei, dass ihm, der einst den Rassentheoretiker Houston Stewart Chamberlain publiziert hatte, „zu Hitler nichts einfällt“. Kuh deutet etwas ähnliches an, als er vor seinem Vortrag ob des fanatischen Tumults der Hefterl-Jünger bemerkt: „Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe.“ Schübler sieht sich hier ausnahmsweise genötigt, kurz zu intervenieren, und zu versichern, dass Kuh die beiden keineswegs vergleichen wollte.
Einen Beleidigungsprozess gegen die Biografie könnte Kraus eh nicht mehr anstrengen, er stirbt im Juni 1936, einen Monat vor Beginn des Spanisches Bürgerkrieges. Kuh lebt nach 1933 wieder in Wien, flieht nach dem Anschluss, schafft es bis nach New York und stirbt dort 1941 an einem Herzinfarkt. Alma Mahler-Werfel, wahrlich keine Freundin des Typs, den Kuh verkörpert, bemerkt, „dass jetzt alles einen grauen Ton bekommt.“
Kuh zu lesen bedeutet, wenigstens die Farben Braun und Schwarz in neuen Schattierungen zu sehen. Als Chronist des aufkommenden Faschismus, der früh die Verbindung von Bürgertum, Deutschtum und autoritärer Politik erkannte, hat Kuh so große Verdienste wie als Aphoristiker, in seinen besten Momenten ist er beides, mit Echo ins Heute. In einer Besprechung des Romans „Die Geächteten“ des Rathenau-Mörders Ernst von Salomon schreibt er: „Aber das ist ja der Knacks: die sich heut’ noch ,geächtet’ nennen, wer ächtet sie?“
Es ist natürlich etwas, österreichisch oder jiddisch gesprochen, narrisch, Literatur aus der Welt von Gestern lesen zu wollen, um auf Zeitgenossen zu stoßen. Trotzdem ist Kuh ungewöhnlich heutig: als von Auftrag zu Auftrag lebender Pointenkünstler wie als moralischer Diasporit und Kritiker, der darauf besteht, anders als die Deutschen zu sein. Kuh führte ein Leben auf der Flucht vor der Kartoffel. Schübler spricht das nicht aus, so wie er die großen Diskurse aus Kuhs Zeit sowieso eher im Hintergrund belässt. Aber er lässt es – vielleicht teuerster Verdienst einer Biografie – Kuh selbst aussprechen.
„Aber das ist ja
der Knacks: die sich
heut’ noch
,geächtet‘ nennen,
wer ächtet sie?“
Kuh zu lesen bedeutet, die
Farben Braun und Schwarz in
neuen Schattierungen zu sehen
Walter Schübler:
Anton Kuh. Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
575 Seiten, 34,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Anton Kuh war der beste Aphoristiker des 20. Jahrhunderts. Seine Freunde und Feinde der Wiener Kaffeehaus-Moderne
waren allerdings lauter. Walter Schübler, Autor einer großen Biografie, tritt glücklicherweise hinter den Porträtierten zurück
VON FABIAN WOLFF
Vor ein paar Jahren fand an der FU Berlin ein Symposium zum „jüdischen Witz“ statt, das natürlich – noch nicht die Pointe – nicht wirklich witzig war. Die Anführungszeichen um das Thema waren dick gedruckt, trotzdem schlichen sich immer wieder Kitsch und Pathos ein, die dann des Saales verwiesen wurden. So traf es einen Vertreter des Jüdischen Museums Wien, der einen Vortrag über „Wiener und Berliner jüdische Künstler in Kabarett und Revue“ hielt, und dabei alle zwischen gläubig und atheistisch, zionistisch und getauft, deutsch und österreichisch in einen großen Topf warf, aus dem dann „jüdischer Humor“ gereicht werden sollte. Vor ihm saß der große amerikanische Germanist Sander Gilman, der nach dem Vortrag ansetzte: „Ich möchte mich für diese Parodie auf einen Antisemiten, der glaubt, trennscharf zwischen Deutschen und Juden unterscheiden zu können, vielmals bedanken! Die war köstlich!“, gefolgt von der Muah-Geste, die Leute machen, wenn sie einen italienischen Chefkoch imitieren.
Der Schriftsteller, Journalist und Redner Anton Kuh, einer jener Künstler, die der Museumsmann hatte ehren wollen, hätte viel aus dieser Szene gemacht. Für genauen Spott war er einerseits immer zu haben, andererseits bestand er in scharfer Abgrenzung darauf, „Jud“ zu sein, „ohne das wehrhaft-pathetische Suffix e“.
Diese Selbstpositionierung, eine Karriere zwischen Wien, Prag, Berlin und New York, Freund- und Feindschaft mit den Größen der Wiener Kaffeehaus-Moderne – Kuhs Leben und Werk bietet genug Substanz für eine Biografie, die der österreichische Literaturwissenschaftler und Kuh-Forscher Walter Schübler nach einer Werkausgabe 2016 jetzt endlich geschrieben hat. Endlich jedenfalls für jene, die wissen, dass es sich um den besten Aphoristiker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert handelt, vielleicht um den witzigsten Schreiber seiner Generation. Alle anderen kennen Kuh, wenn überhaupt, als Nebenfigur.
Dass Kuh („alle Witze schon gemacht“) das Potenzial zur beredten, manchmal geschwätzigen Hauptfigur hat, belegt Schübler schon mit einer fulminanten Eröffnung, in der er Selbst- und Fremdbeschreibungen montiert, die von seinem „bekennenden Neurasthenikertum“, seinem sanft prätentiösen Monokel und seinem betont jiddelnden Deutsch zeugen. Natürliches Dandytum verbindet sich mit einer Grundwiderständigkeit, die Ausdruck in seinen Artikeln und Essays findet, aber vor allem in legendären Stegreifreden.
Kuh improvisiert, entwickelt spontane Gedanken zu kulturellen und philosophischen Themen, verbindet sie mit vorformulierten Ideen und hat stets im Blick, ob sich das Publikum langweilt. Man kann ihn als Ahnen von amerikanischem Stand-up sehen, von Lenny Bruce und Richard Pryor. Das wäre jedenfalls die Art von großer These, die Schübler eben nicht aufstellt.
Kuh, schon als Jugendlicher ambitioniert, spricht von einer Wedekind-Kindheit. Sein Vater war der Zeitungsredakteur Emil Kuh, sein Großvater, David Kuh, heroischer Vertreter des Liberalismus in Prag. Schübler lässt Kuh von einem verwirrenden Besuch einer Statue für den Großvater auf dem Prager Friedhof erzählen, mit der Inschrift „Alle Ehre von der Treue kommt“. „Leitartikler vorgeschrittenen Alters musterten mich missratenen Erben des Liberalismus, inwieweit ich durch den Ausspruch bewegt würde. Es war eine Luft um uns von Rütlischwur und Ritterschlag. Soviel Pathos war ich nicht gewachsen – ich entlief den Pionieren des Deutschtums in ein tschechisches Beisl.“ Schübler setzt diese Erinnerung an den Anfang (in eine Fußnote), denn eine bessere Urszene lässt sich kaum denken: die innerlich-äußere Physiognomik als Typologie („Leitartikler“), die Abneigung für falsche Erhabenheit und patriotischen Dünkel, schließlich die fast zärtliche Missbilligung, die nie ganz in Verachtung umschlägt, für all jene Juden, die so gerne richtige Deutsche wären.
Der „stolze, gedemütigte Jecke“ (wie Maxim Biller, der harte Hund, einst den Historiker Peter Gay nannte, nicht unbedingt treffend), der gute Bürger mosaischen Glaubens, der Deutschland liebt, Goethe liest, wie selbstverständlich sein Leben im Ersten Weltkrieg opfert und das böse Unheil nicht kommen sehen will – er ist inzwischen selbst ein Klischee geworden wie der wandernde wurzellose Ahasver, der keine Heimat findet. Es gab in ganz Europa Juden, die ihr Jüdischsein nicht verleugneten, nicht ablegen oder vergessen wollten, aber auch keine Zionisten waren. Kuh war einer von ihnen.
Schübler macht nicht viel aus diesen Dramen, vielleicht das Österreichischste an diesem Buch. Aber er nimmt sie als Motiv ernst, das sich durch Kuhs gesamtes Werk zieht, sein Leben sowieso, und viele Freundschaften und Feindschaften erklären kann. Die bekannteste ist die Fehde mit Karl Kraus, Herausgeber und über Jahrzehnte alleiniger Autor der „Fackel“.
Es ist nicht schwer, sich die amerikanische Sachbuchversion dieser Geschichte vorzustellen: Zwickel gegen Monokel – Kraus, Kuh und der Streit, der Wien entzweite. Begonnen hatte er mit Kraus’ Versuch, den Herausgeber Imre Békessy zu „erledigen“, ihn wegen seines halbseidenen Vorgehens und der Boulevardmethoden seiner Zeitung „Die Stunde“ aus Wien zu treiben. Tatsächlich wird sein Anzeigenchef 1926 wegen Erpressung verhaftet, Békessy ist gerade auf Kur und geht nach Paris. Kraus feiert sich als Retter der Stadt. Kuh ist einer der Autoren der „Stunde“. Er nimmt sich Kraus, „den mit den roten Hefterln“, im als Protokoll erhaltenen Vortrag „Der Affe Zarathustras“ vor, auf den Kraus – was trifft, trifft zu – mit einer Beleidigungsklage reagiert.
Es ist ein bemerkenswertes Dokument, eine grundsätzliche Zerlegung von Kraus als „Intelligenzplebejer“ und seines fanatischen Publikums, darunter Elias Canetti und Bruno Kreisky. Eine Zuschauerin will für Kraus Partei ergreifen, worauf Kuh mit „Die Kraus-Verehrung der Frauen gehört tatsächlich nur vor den Arzt, sie gehört nicht mehr vor mein Tribunal“ reagiert. Schübler erwähnt diese außergewöhnliche Szene leider nicht. Es ist einer der seltenen Momente, in der einem der Hauptakteure der Wiener Moderne auffällt, dass Misogynie, ob als verwissenschaftlichter Frauenhass von Otto Weininger oder einfach als Selbstverständlichkeit, quasi eine Hintergrundmusik der Zeit ist. Kraus pfeift sie schrill in der „Fackel“, auch Kuh summt sie gelegentlich.
Über Kraus hat der Historiker Arno Lustiger einmal geschrieben, dass es kein Wunder sei, dass ihm, der einst den Rassentheoretiker Houston Stewart Chamberlain publiziert hatte, „zu Hitler nichts einfällt“. Kuh deutet etwas ähnliches an, als er vor seinem Vortrag ob des fanatischen Tumults der Hefterl-Jünger bemerkt: „Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe.“ Schübler sieht sich hier ausnahmsweise genötigt, kurz zu intervenieren, und zu versichern, dass Kuh die beiden keineswegs vergleichen wollte.
Einen Beleidigungsprozess gegen die Biografie könnte Kraus eh nicht mehr anstrengen, er stirbt im Juni 1936, einen Monat vor Beginn des Spanisches Bürgerkrieges. Kuh lebt nach 1933 wieder in Wien, flieht nach dem Anschluss, schafft es bis nach New York und stirbt dort 1941 an einem Herzinfarkt. Alma Mahler-Werfel, wahrlich keine Freundin des Typs, den Kuh verkörpert, bemerkt, „dass jetzt alles einen grauen Ton bekommt.“
Kuh zu lesen bedeutet, wenigstens die Farben Braun und Schwarz in neuen Schattierungen zu sehen. Als Chronist des aufkommenden Faschismus, der früh die Verbindung von Bürgertum, Deutschtum und autoritärer Politik erkannte, hat Kuh so große Verdienste wie als Aphoristiker, in seinen besten Momenten ist er beides, mit Echo ins Heute. In einer Besprechung des Romans „Die Geächteten“ des Rathenau-Mörders Ernst von Salomon schreibt er: „Aber das ist ja der Knacks: die sich heut’ noch ,geächtet’ nennen, wer ächtet sie?“
Es ist natürlich etwas, österreichisch oder jiddisch gesprochen, narrisch, Literatur aus der Welt von Gestern lesen zu wollen, um auf Zeitgenossen zu stoßen. Trotzdem ist Kuh ungewöhnlich heutig: als von Auftrag zu Auftrag lebender Pointenkünstler wie als moralischer Diasporit und Kritiker, der darauf besteht, anders als die Deutschen zu sein. Kuh führte ein Leben auf der Flucht vor der Kartoffel. Schübler spricht das nicht aus, so wie er die großen Diskurse aus Kuhs Zeit sowieso eher im Hintergrund belässt. Aber er lässt es – vielleicht teuerster Verdienst einer Biografie – Kuh selbst aussprechen.
„Aber das ist ja
der Knacks: die sich
heut’ noch
,geächtet‘ nennen,
wer ächtet sie?“
Kuh zu lesen bedeutet, die
Farben Braun und Schwarz in
neuen Schattierungen zu sehen
Walter Schübler:
Anton Kuh. Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
575 Seiten, 34,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Daniela Strigl erfährt in Walter Schüblers Biografie über den Wiener Feuilletonisten und Stegreifbonmotisten Anton Kuh wenig Privates, dafür umso mehr über Kuhs Arbeit. Auch wenn Schübler das hochachtungsvolle Zitieren der Kuhschen Gedankenblitze laut Strigl mitunter etwas übertreibt, seine chronologische und literaturwissenschaftlich bewanderte Sicht auf das Werk verschafft ihr Erkenntnis und Freude. Kuhs Fehden mit Karl Kraus, sein Einsatz gegen die politische Rechte im Wien der 30er Jahre, sein Scharfsinn und seine Hellsicht versetzen die Rezensentin ins Staunen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Walter Schübler, Autor einer großen Biografie, tritt glücklicherweise hinter den Porträtierten zurück« (Fabian Wolff, Süddeutsche Zeitung, 27.11.2018) »Walter Schübler ist (...) nicht nur ein geistreicher Schreiber, sondern vor allem ein Literaturwissenschaftler von stupendem Fleiß und enormer Akribie.« (Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2018) »ein intellektuelles Panorama« (Thomas Miessgang, Die ZEIT Österreich, 13.12.2018) »ein ungemein anregendes Buch (Ronald Pohl, Der Standard, 22.11.2018) »Walter Schübler zeigt (...), dass Anton Kuh keine unbedeutende Lokalgröße oder ein politisches Leichtgewicht war.« (scilog.fwf.ac.at, 04.06.2018) »eine hervorragende philologisch-historisch-biographische Leistung, die weit über das Modell der Lebensbeschreibung eines einzelnen Menschen hinausgeht. Ein in jeder Hinsicht imponierendes Werk« (Hubert Lengauer, literaturhaus.at, 07.01.2019) »Walter Schübler versteht es aus diesen Äußerungen und den Reaktionen darauf ein beeindruckendes und genaues Zeitbild zu entwerfen.« (SAXLiteratur, Februar 2019) »Eine (...) mustergültige Biographie« (Erich Klein, Anzeiger/27, Februar 2019) »Eine äußerst lesenswerte Biographie« (Paul Hübscher, literatur.ch, 17.02.2019) »Walter Schübler schafft es schon auf den ersten Seiten seiner exzellent recherchierten Biographie, Anton Kuh plastisch und eindrucksvoll zu porträtieren.« (Stefan Tuczek, literaturkritik.de, März 2019) »Die Biografie von Walter Schübler ist spannend, urkomisch, stellenweise unübersichtlich, manchmal kompliziert und immer sehr inspirierend.« (Wolfgang Luef, Süddeutsche Zeitung Österreich Newsletter, 30.04.2019) »eine gewitzte, sprachlich souveräne Biografie.« (Alfred Pfoser, Falter, 22.03.2019) »Großartig (...) anschaulich, lebendig, immer dicht dem Autor auf den Fersen« (Felix Klopotek, konkret, Juni 2019) »Nur die Meisterschaft des Arrangements kann (...) eine biographisch-bibliotgraphische Zeitreise zu einem Erlebnis werden lassen, das nach vollendeter Lektüre noch lange nachwirkt.« (Max Bloch, Exil, Nr. 1/2 2018)