Der psychologische Roman Anton Reiser (1785-1790) ist das bis heute bekannteste Hauptwerk von Karl Philipp Moritz und ein Schlüsseltext der deutschen Aufklärung. Mit diesem Band wird das Werk zum ersten Mal vollständig (mit allen Varianten der Vor-, Parallel- und Doppeldrucke) kritisch ediert und seine Rezeptionsgeschichte reichhaltig dargestellt.
Ein ausführlicher Kommentar rekonstruiert die Entstehungsgeschichte des Romans im Zusammenhang von Moritz' spätaufklärerisch geprägten Berliner Publikationen seit 1780 und analysiert das neuartige, zwischen Autobiographie und Roman angesiedelte Konzept des Werks. Der Kommentar erhellt einerseits zugrundeliegende literarische Muster und psychologische Parallelen zu dem gleichzeitig von Moritz begründeten Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ; andererseits analysiert er die biographischen und realgeschichtlichen Bezüge des Werks. Dabei erlauben bisher unbekannte Dokumente zu Moritz' Kindheit aus dem deutschen Quietistenzirkel umJohann Friedrich von Fleischbein (1700-1774) erstmals eine nähere Analyse des Werks als autobiographisches Konstrukt.
Ein umfangreicher Stellenkommentar weist detailliert die Bezüge des psychologischen Romans zu Moritz' Leben und Lektüre sowie zur zeitgenössischen Lokal-, Schul- und Theatergeschichte nach; darüber hinaus erhellt er die zahlreichen Verbindungen des Werks zu Moritz' sprachwissenschaftlichen, pädagogischen, psychologischen und ästhetischen Interessen im Gesamtwerk.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ein ausführlicher Kommentar rekonstruiert die Entstehungsgeschichte des Romans im Zusammenhang von Moritz' spätaufklärerisch geprägten Berliner Publikationen seit 1780 und analysiert das neuartige, zwischen Autobiographie und Roman angesiedelte Konzept des Werks. Der Kommentar erhellt einerseits zugrundeliegende literarische Muster und psychologische Parallelen zu dem gleichzeitig von Moritz begründeten Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ; andererseits analysiert er die biographischen und realgeschichtlichen Bezüge des Werks. Dabei erlauben bisher unbekannte Dokumente zu Moritz' Kindheit aus dem deutschen Quietistenzirkel umJohann Friedrich von Fleischbein (1700-1774) erstmals eine nähere Analyse des Werks als autobiographisches Konstrukt.
Ein umfangreicher Stellenkommentar weist detailliert die Bezüge des psychologischen Romans zu Moritz' Leben und Lektüre sowie zur zeitgenössischen Lokal-, Schul- und Theatergeschichte nach; darüber hinaus erhellt er die zahlreichen Verbindungen des Werks zu Moritz' sprachwissenschaftlichen, pädagogischen, psychologischen und ästhetischen Interessen im Gesamtwerk.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2007Ein Kind von teuflischer Gesinnung
Lebendiger ist das Werk von Karl Philipp Moritz nie gewesen: Die neue Werkausgabe erschließt den "Anton Reiser" neu und bietet einen Einblick in die Arbeitsweise des ersten deutschen Seelenkundlers.
Von Ernst Osterkamp
Es gibt Sätze, die treffen den Leser wie ein Schock: "mit Diesen Knaben habe ich was belebet ich Muste immer in furicht Leben Das er ins waser wirde Springen aus Bosheit / er Sagte immer von Todt machen Er wolte Sich ein Leid anthun / Überhaupt ein Kind von Teuflischer gesinung". Dies schrieb am 22. Mai 1770 der Braunschweiger Hutmacher Johann Simon Lobenstein in einem Brief über seinen ehemaligen Lehrling, den damals vierzehn Jahre alten Karl Philipp Moritz, den dessen Vater soeben wieder zu sich nach Hause geholt hatte.
Wie lange schon kennen wir diese drei Menschen als Gestalten des "psychologischen Romans" "Anton Reiser": den Knaben, dem sein Autor Karl Philipp Moritz dort den Namen Anton Reiser gegeben hat, den Vater, den Militärmusiker Johann Gottlieb Moritz, der sich ganz dem radikalpietistischen Quietismus hingibt und seinen Sohn im Geiste von dessen schwarzer Pädagogik erzieht, und den Hutmacher L. in B. mit seinem "bittersüßen Lächeln" und seinem "unerträglich intoleranten Blick", der, ebenfalls in den "religiösen Schwärmereien" des Quietismus versunken, seinen Lehrlingen und Gesellen beständig von der "Ertödtung und Vernichtung" des Ich vorschwatzt, um deren Arbeitskraft umso besser ausbeuten zu können, bis diese Doppelstrategie aus seelischer Erniedrigung und brutaler Ausbeutung bei dem Knaben Anton Reiser ihre furchtbaren Konsequenzen zeitigt und er sich in seinem "Lebensüberdruss" in den Fluss sinken lässt.
Und nun lesen wir einen Brief dieses Herrn L., der sich unter den Papieren des Quietistenführers Johann Friedrich von Fleischbein - er begegnet dem Leser des "Anton Reiser" schon auf der ersten Seite des Romans - in der Universitätsbibliothek Lausanne erhalten hat, und erfahren aus ihm, dass die Realität im Hause Lobenstein keineswegs harmloser, vielleicht sogar fürchterlicher gewesen ist, als sie dieser lebensnächste aller deutschen Romane des achtzehnten Jahrhunderts schildert. Ein Kind wird von seinem Lehrherrn bis an den Rand des Selbstmords gemartert und muss sich, als es dessen Bigotterie entflohen ist, von diesem hinterherrufen lassen: "Ein unerzognes garsterisches Kind weliches nicht ein mahl Die Menschlichkeit aus zu üben sucht."
Reanimation durch Edition.
Warum gibt es die deutsche Sehnsucht nach historisch-kritischen Ausgaben, die großen Texten der kulturellen Überlieferung ihre historische Textgestalt wiedergeben und sie im Kommentar aus ihren historisch-kulturell-lebensweltlichen Zusammenhängen heraus neu erschließen? Es gibt sie auch deshalb, damit solche ungeheuerlichen Dokumente wie der Brief des Hutmachers Lobenstein über den jungen Karl Philipp Moritz, der allen Widrigkeiten zum Trotz einer der großen deutschen Autoren der Spätaufklärung wurde, aus jahrhundertelanger Verborgenheit wieder ans Licht treten und dazu beitragen können, dass die großen Bücher leben. Denn die bedeutenden historisch-kritischen Ausgaben wollen ja nicht als Medien der historischen Distanzierung - der Einsargung von Texten in komplexe philologische Apparate - gelesen werden, sondern als Medien der entschiedenen Verlebendigung der Werke aus ihren historischen Voraussetzungen.
In diesem Sinne ist der kritischen und kommentierten Ausgabe der sämtlichen Werke von Moritz ein glänzender doppelter Auftakt gelungen: Lebendiger als in dieser Edition, in der bisher das bekannteste - "Anton Reiser" - und das doch wohl unbekannteste Buch - "Anthusa oder Roms Altertümer" - dieses spät entdeckten Klassikers der deutschen Literatur erschienen und durch überwältigend aufschlussreiche Kommentare neu zugänglich gemacht worden sind, ist Moritz' Werk nie gewesen.
Den Titel der 1791 erschienenen "Anthusa" erklärt Moritz erst auf der letzten Seite seines Werks: Anthusa, "die Blühende", sei einer der "geheimen Nahmen" des alten Rom gewesen, und tatsächlich sei zwar die Herrlichkeit des alten Rom nun "verwelkt", und doch sei aus dem Schutt der Stadt in neuerer Zeit "eine zarte Blüthe, die Blüthe der Kunst" emporgestiegen. So nähert sich denn in der "Anthusa" auch Moritz der römischen Antike mit jenem umfassenden klassizistischen Erneuerungswillen, der seit den Tagen Winckelmanns die deutsche Ästhetik bestimmte; deshalb auch kann er dem Buch den einen hoch gespannten Anspruch verratenden Untertitel "Ein Buch für die Menschheit" geben.
Die Menschheit hat freilich nur begrenzt Kenntnis von dem für sie bestimmten Buch genommen; die Herausgeberin nennt es zu Recht "nahezu vergessen". Moritz hatte 1786, als er sich auf seine Italienreise begab, ein großes altertumskundliches Werk geplant, aber das Buch, das dann fünf Jahre später erschien, blieb ganz der Darstellung der römischen Feste vorbehalten, wobei es sich mit dem Titel "Roms Altertümer" deutlich in die Tradition der "antiquitates", der bis in die Frührenaissance zurückreichenden altertumskundlichen Forschung, stellte. "Anthusa" ist also nicht nur ein Torso, sondern auch methodisch ein rückwärtsgewandtes Werk. Vor allem aber stand es um Moritz' Kenntnis der antiken Quellen, von denen er nur Ovids "Fasti" systematisch auswertete, so schlecht, dass er dazu gezwungen war, skrupellos die einschlägige Forschungsliteratur zu den religiösen Bräuchen und zur Festkultur Roms auszuschlachten.
Wie Yvonne Pauly mit glänzender Quellenkenntnis nachgewiesen hat, erklärt sich der Text "nach einer vorsichtigen Schätzung zu knapp 90 Prozent" "durch direkte oder indirekte Bezugnahme auf andere Texte"; die Herausgeberin spricht von "Zitat-Clustern". Und so liest man nicht ohne Heiterkeit ihr ernüchterndes Resümee, es sei "die Sichtung und Verarbeitung einer derartigen Menge an Vorlagen als populärwissenschaftliche Leistung trotz allem beachtlich". Es bedarf also keiner prophetischen Kraft, um vorauszusagen, dass die "Anthusa" auch in Zukunft nicht um ihrer selbst willen gelesen wird. Nun aber erschließt das Buch sich als eine wichtige Quelle nicht nur für Moritz' Verständnis der Antike, sondern auch für die Produktionsbedingungen eines Autors, der es, starr den Blick aufs Bogenhonorar geheftet, gewohnt war, seine Projekte rasch unter eilig gezimmerte Dächer zu bringen.
Die wichtigste Quelle für "Anton Reiser" war Moritz' Leben - dies in solchem Ausmaß, dass schon die Zeitgenossen Reiser und Moritz für dieselbe Person gehalten haben. "Warum sollte ich mir denn selbst unwichtig seyn? Was bin ich und hab' ich dann, als mich selber?" So hatte Moritz schon 1781 in seinem Tagebuch geschrieben. Aber Roman und Biographie des Autors sind natürlich nicht dasselbe. Da sich aber Lebenszeugnisse aus der Jugend kaum erhalten haben und auch keine Dokumente zur Entstehung oder zur Schreibmotivation überliefert sind, war es bisher außerordentlich schwer, den autobiographischen Gehalt des Romans und den literarischen Stilisierungsgrad einigermaßen präzise zu bestimmen.
Gradmesser der Selbststilisierung.
Das hat sich jetzt durch den eine eminente Forscherleistung repräsentierenden Kommentar von Christof Wingertszahn beträchtlich geändert, der die lebensweltlichen Hintergründe des Romans mit staunenswerter Tiefenschärfe ausleuchtet. Dazu tragen nicht allein die Brieffunde im Fleischbein-Nachlass bei - die wohl wichtigste archivalische Entdeckung der jüngeren Moritz-Forschung -, sondern auch zahlreiche bisher unbekannte Informationen zu den Personen und Ideologemen des radikalpietistischen Milieus, in dem Moritz aufgewachsen ist, zu den Lehrern und Mitschülern, zu den Pastoren und Theologen, zu seinen akademischen Institutionen, zu den Theaterleuten, an denen er sich orientierte, und zu den Lektüren, mit deren "Genuss" er sich, wie er 1783 schrieb, "für alles Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte". Das alles erlaubt es, die Geschichtstreue und den faktischen Lebensgehalt dieses Buches, dem Gershom Scholem eine "ungeheure, überwältigende Trauer" attestiert hat, in seiner ganzen Dichte zu erfassen.
Es erlaubt aber auch, den hohen Grad an literarischer Stilisierung, der Moritz die eigene Biographie unterzog, genauer zu bestimmen. Wingertszahn macht nicht allein auf Divergenzen zwischen den Quellen und dem Roman aufmerksam und identifiziert die Einflüsse auf Moritz in der autobiographischen Literatur von Rousseau bis Jung-Stilling, sondern er lenkt auch den Blick auf Widersprüche wie denjenigen in der Charakteristik der Titelfigur, die der Erzähler als Opfer der Verhältnisse darzustellen sucht, obgleich sie doch beständig neue Förderer und auch Freunde findet.
Dieser "psychologische Roman" ist, so dicht ihn Moritz auch mit eigener Lebenssubstanz angefüllt hat und sosehr er aus der Kraft des Autors zur seelischen Introspektion lebt, zunächst und vor allem ein Roman, der im Individuellen das Exemplarische zu erfassen sucht und so das psychologische Interesse der Spätaufklärung mit deren pädagogischem Ethos verbindet: "Und gewiss ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts stärker, als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten." Aus dieser Empfindung des ihm als Kind widerfahrenen Unrechts heraus hat Moritz gewiss manche Schatten in seinem Roman mit schwärzerer Tinte gezeichnet, als er es in seiner Autobiographie getan hätte. Das Ergebnis dieser erzählerischen Strategie aber ist einer der großen Romane der deutschen Literatur: der aus dem Geist der Spätaufklärung geborene erste deutsche Desillusionsroman.
- Karl Philipp Moritz: "Sämtliche Werke". Kritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 1: "Anton Reiser". Hrsg. von Christof Wingertszahn. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007. 2 Teile, 1122 S., geb., 234,- [Euro].
Bd. 4: "Schriften zur Mythologie und Altertumskunde". Teil 1: "Anthusa oder Roms Alterthümer". Hrsg. von Yvonne Pauly. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005. 775 S., geb., 168,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lebendiger ist das Werk von Karl Philipp Moritz nie gewesen: Die neue Werkausgabe erschließt den "Anton Reiser" neu und bietet einen Einblick in die Arbeitsweise des ersten deutschen Seelenkundlers.
Von Ernst Osterkamp
Es gibt Sätze, die treffen den Leser wie ein Schock: "mit Diesen Knaben habe ich was belebet ich Muste immer in furicht Leben Das er ins waser wirde Springen aus Bosheit / er Sagte immer von Todt machen Er wolte Sich ein Leid anthun / Überhaupt ein Kind von Teuflischer gesinung". Dies schrieb am 22. Mai 1770 der Braunschweiger Hutmacher Johann Simon Lobenstein in einem Brief über seinen ehemaligen Lehrling, den damals vierzehn Jahre alten Karl Philipp Moritz, den dessen Vater soeben wieder zu sich nach Hause geholt hatte.
Wie lange schon kennen wir diese drei Menschen als Gestalten des "psychologischen Romans" "Anton Reiser": den Knaben, dem sein Autor Karl Philipp Moritz dort den Namen Anton Reiser gegeben hat, den Vater, den Militärmusiker Johann Gottlieb Moritz, der sich ganz dem radikalpietistischen Quietismus hingibt und seinen Sohn im Geiste von dessen schwarzer Pädagogik erzieht, und den Hutmacher L. in B. mit seinem "bittersüßen Lächeln" und seinem "unerträglich intoleranten Blick", der, ebenfalls in den "religiösen Schwärmereien" des Quietismus versunken, seinen Lehrlingen und Gesellen beständig von der "Ertödtung und Vernichtung" des Ich vorschwatzt, um deren Arbeitskraft umso besser ausbeuten zu können, bis diese Doppelstrategie aus seelischer Erniedrigung und brutaler Ausbeutung bei dem Knaben Anton Reiser ihre furchtbaren Konsequenzen zeitigt und er sich in seinem "Lebensüberdruss" in den Fluss sinken lässt.
Und nun lesen wir einen Brief dieses Herrn L., der sich unter den Papieren des Quietistenführers Johann Friedrich von Fleischbein - er begegnet dem Leser des "Anton Reiser" schon auf der ersten Seite des Romans - in der Universitätsbibliothek Lausanne erhalten hat, und erfahren aus ihm, dass die Realität im Hause Lobenstein keineswegs harmloser, vielleicht sogar fürchterlicher gewesen ist, als sie dieser lebensnächste aller deutschen Romane des achtzehnten Jahrhunderts schildert. Ein Kind wird von seinem Lehrherrn bis an den Rand des Selbstmords gemartert und muss sich, als es dessen Bigotterie entflohen ist, von diesem hinterherrufen lassen: "Ein unerzognes garsterisches Kind weliches nicht ein mahl Die Menschlichkeit aus zu üben sucht."
Reanimation durch Edition.
Warum gibt es die deutsche Sehnsucht nach historisch-kritischen Ausgaben, die großen Texten der kulturellen Überlieferung ihre historische Textgestalt wiedergeben und sie im Kommentar aus ihren historisch-kulturell-lebensweltlichen Zusammenhängen heraus neu erschließen? Es gibt sie auch deshalb, damit solche ungeheuerlichen Dokumente wie der Brief des Hutmachers Lobenstein über den jungen Karl Philipp Moritz, der allen Widrigkeiten zum Trotz einer der großen deutschen Autoren der Spätaufklärung wurde, aus jahrhundertelanger Verborgenheit wieder ans Licht treten und dazu beitragen können, dass die großen Bücher leben. Denn die bedeutenden historisch-kritischen Ausgaben wollen ja nicht als Medien der historischen Distanzierung - der Einsargung von Texten in komplexe philologische Apparate - gelesen werden, sondern als Medien der entschiedenen Verlebendigung der Werke aus ihren historischen Voraussetzungen.
In diesem Sinne ist der kritischen und kommentierten Ausgabe der sämtlichen Werke von Moritz ein glänzender doppelter Auftakt gelungen: Lebendiger als in dieser Edition, in der bisher das bekannteste - "Anton Reiser" - und das doch wohl unbekannteste Buch - "Anthusa oder Roms Altertümer" - dieses spät entdeckten Klassikers der deutschen Literatur erschienen und durch überwältigend aufschlussreiche Kommentare neu zugänglich gemacht worden sind, ist Moritz' Werk nie gewesen.
Den Titel der 1791 erschienenen "Anthusa" erklärt Moritz erst auf der letzten Seite seines Werks: Anthusa, "die Blühende", sei einer der "geheimen Nahmen" des alten Rom gewesen, und tatsächlich sei zwar die Herrlichkeit des alten Rom nun "verwelkt", und doch sei aus dem Schutt der Stadt in neuerer Zeit "eine zarte Blüthe, die Blüthe der Kunst" emporgestiegen. So nähert sich denn in der "Anthusa" auch Moritz der römischen Antike mit jenem umfassenden klassizistischen Erneuerungswillen, der seit den Tagen Winckelmanns die deutsche Ästhetik bestimmte; deshalb auch kann er dem Buch den einen hoch gespannten Anspruch verratenden Untertitel "Ein Buch für die Menschheit" geben.
Die Menschheit hat freilich nur begrenzt Kenntnis von dem für sie bestimmten Buch genommen; die Herausgeberin nennt es zu Recht "nahezu vergessen". Moritz hatte 1786, als er sich auf seine Italienreise begab, ein großes altertumskundliches Werk geplant, aber das Buch, das dann fünf Jahre später erschien, blieb ganz der Darstellung der römischen Feste vorbehalten, wobei es sich mit dem Titel "Roms Altertümer" deutlich in die Tradition der "antiquitates", der bis in die Frührenaissance zurückreichenden altertumskundlichen Forschung, stellte. "Anthusa" ist also nicht nur ein Torso, sondern auch methodisch ein rückwärtsgewandtes Werk. Vor allem aber stand es um Moritz' Kenntnis der antiken Quellen, von denen er nur Ovids "Fasti" systematisch auswertete, so schlecht, dass er dazu gezwungen war, skrupellos die einschlägige Forschungsliteratur zu den religiösen Bräuchen und zur Festkultur Roms auszuschlachten.
Wie Yvonne Pauly mit glänzender Quellenkenntnis nachgewiesen hat, erklärt sich der Text "nach einer vorsichtigen Schätzung zu knapp 90 Prozent" "durch direkte oder indirekte Bezugnahme auf andere Texte"; die Herausgeberin spricht von "Zitat-Clustern". Und so liest man nicht ohne Heiterkeit ihr ernüchterndes Resümee, es sei "die Sichtung und Verarbeitung einer derartigen Menge an Vorlagen als populärwissenschaftliche Leistung trotz allem beachtlich". Es bedarf also keiner prophetischen Kraft, um vorauszusagen, dass die "Anthusa" auch in Zukunft nicht um ihrer selbst willen gelesen wird. Nun aber erschließt das Buch sich als eine wichtige Quelle nicht nur für Moritz' Verständnis der Antike, sondern auch für die Produktionsbedingungen eines Autors, der es, starr den Blick aufs Bogenhonorar geheftet, gewohnt war, seine Projekte rasch unter eilig gezimmerte Dächer zu bringen.
Die wichtigste Quelle für "Anton Reiser" war Moritz' Leben - dies in solchem Ausmaß, dass schon die Zeitgenossen Reiser und Moritz für dieselbe Person gehalten haben. "Warum sollte ich mir denn selbst unwichtig seyn? Was bin ich und hab' ich dann, als mich selber?" So hatte Moritz schon 1781 in seinem Tagebuch geschrieben. Aber Roman und Biographie des Autors sind natürlich nicht dasselbe. Da sich aber Lebenszeugnisse aus der Jugend kaum erhalten haben und auch keine Dokumente zur Entstehung oder zur Schreibmotivation überliefert sind, war es bisher außerordentlich schwer, den autobiographischen Gehalt des Romans und den literarischen Stilisierungsgrad einigermaßen präzise zu bestimmen.
Gradmesser der Selbststilisierung.
Das hat sich jetzt durch den eine eminente Forscherleistung repräsentierenden Kommentar von Christof Wingertszahn beträchtlich geändert, der die lebensweltlichen Hintergründe des Romans mit staunenswerter Tiefenschärfe ausleuchtet. Dazu tragen nicht allein die Brieffunde im Fleischbein-Nachlass bei - die wohl wichtigste archivalische Entdeckung der jüngeren Moritz-Forschung -, sondern auch zahlreiche bisher unbekannte Informationen zu den Personen und Ideologemen des radikalpietistischen Milieus, in dem Moritz aufgewachsen ist, zu den Lehrern und Mitschülern, zu den Pastoren und Theologen, zu seinen akademischen Institutionen, zu den Theaterleuten, an denen er sich orientierte, und zu den Lektüren, mit deren "Genuss" er sich, wie er 1783 schrieb, "für alles Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte". Das alles erlaubt es, die Geschichtstreue und den faktischen Lebensgehalt dieses Buches, dem Gershom Scholem eine "ungeheure, überwältigende Trauer" attestiert hat, in seiner ganzen Dichte zu erfassen.
Es erlaubt aber auch, den hohen Grad an literarischer Stilisierung, der Moritz die eigene Biographie unterzog, genauer zu bestimmen. Wingertszahn macht nicht allein auf Divergenzen zwischen den Quellen und dem Roman aufmerksam und identifiziert die Einflüsse auf Moritz in der autobiographischen Literatur von Rousseau bis Jung-Stilling, sondern er lenkt auch den Blick auf Widersprüche wie denjenigen in der Charakteristik der Titelfigur, die der Erzähler als Opfer der Verhältnisse darzustellen sucht, obgleich sie doch beständig neue Förderer und auch Freunde findet.
Dieser "psychologische Roman" ist, so dicht ihn Moritz auch mit eigener Lebenssubstanz angefüllt hat und sosehr er aus der Kraft des Autors zur seelischen Introspektion lebt, zunächst und vor allem ein Roman, der im Individuellen das Exemplarische zu erfassen sucht und so das psychologische Interesse der Spätaufklärung mit deren pädagogischem Ethos verbindet: "Und gewiss ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts stärker, als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten." Aus dieser Empfindung des ihm als Kind widerfahrenen Unrechts heraus hat Moritz gewiss manche Schatten in seinem Roman mit schwärzerer Tinte gezeichnet, als er es in seiner Autobiographie getan hätte. Das Ergebnis dieser erzählerischen Strategie aber ist einer der großen Romane der deutschen Literatur: der aus dem Geist der Spätaufklärung geborene erste deutsche Desillusionsroman.
- Karl Philipp Moritz: "Sämtliche Werke". Kritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 1: "Anton Reiser". Hrsg. von Christof Wingertszahn. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007. 2 Teile, 1122 S., geb., 234,- [Euro].
Bd. 4: "Schriften zur Mythologie und Altertumskunde". Teil 1: "Anthusa oder Roms Alterthümer". Hrsg. von Yvonne Pauly. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005. 775 S., geb., 168,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Freudig begrüßt Steffen Martus diese Ausgabe von Karl Philipp Moritz' Roman "Anton Reiser", die nun als erster Band der kritischen Werkausgabe vorliegt. Besonders lobt er die hervorragende Arbeit des Herausgebers Christoph Wingertszahn, der Moritz' berühmten Roman "nach allen Regeln der Kunst" ediert, kommentiert und mit einer Fülle von Materialien ausgestattet habe. Überblickskommentar sowie die Stellenerläuterungen übertreffen in punkto Ausführlichkeit und Materialfülle seines Erachtens alle bisherigen Ausgaben bei weitem. Neben zahlreichen Dokumenten wie Rezensionen und Materialien zur Lektüre von Moritz hebt er dabei vor allem die Archivalien aus dem Nachlass von Friedrich von Fleischbein hervor, dessen Korrespondenz höchst aufschlussreiche Informationen über Moritz und seine Familie biete. Diese von der Forschung bislang nicht beachtete Korrespondenz würdigt er als das "eigentliche Novum der Edition". Martus geht auch auf den Roman selbst ein, markiert er für ihn doch eine "Scharnierstelle in der Wissensgeschichte zwischen Früher Neuzeit und beginnender Moderne". Er unterstreicht die "wenig geschmeidige", bisweilen ruppige Darstellung, die er auch auf den pragmatischen Anspruch einer Fallgeschichte zurück führt, "die dem Leser vor allem psychologische Kenntnisse vermitteln sollte". Die Ausführlichkeit von Moritz' psychologischen Beobachtungen scheint ihm indes noch einen etwas prosaischen Hintergrund zu haben: So brachte jede Seite des "Anton Reiser" Moritz Geld ein. Bezeugt für den dritten Band des Romans sei etwa, wie Moritz ihn auf die Finanzierung seiner italienische Reise hinschrieb.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Die von Christoph Wingertszahn vorgelegte Anton Reiser-Neuausgabe ist ein bedeutender Fortschritt der Moritz-Forschung, setzt editorisch-kommentatorisch Maßstäbe auf höchstem Niveau und weckt den dringenden Wunsch nach baldigem Erscheinen weiterer Bände der Kritischen Moritzausgabe."
Eberhard Rohse in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 4/2009
"Lebendiger ist das Werk von Karl Philipp Moritz nie gewesen: Die neue Werkausgabe erschließt den "Anton Reiser neu und bietet einen Einblick in die Arbeitsweise des ersten deutschen Seelenkundlers."
Ernst Osterkamp in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.11.2007
"Der Herausgeber des Bandes, Christof Wingertszahn, Mitherausgeber der KMA und Leiter der Berliner Arbeitsstelle, hat insbesondere zur die Kindheit und Jugend Moritz' entscheidend prägenden quietistisch-separatistischen Umgebung der Familie Dokumente und Briefzeugnisse gefunden, die angesichts der biografischen Anlage des Romans eine erhellende Wirkung auf die Neulektüre ausüben. [...] Die wachsende Moritz-Leserschaft kann nur beglückwünscht werden zu dieser erfreulichen Bereicherung und Kontextualisierung des einzigartigen "Anton Reiser"."
Markus Bauer in: www.literaturkritk.de 10/2007
"Christoph Wingertszahn herausragende Arbeit liefert damit erstmals die älteste Fassung des Romans mit allen vorhandenen Varianten, einen weit ausgreifenden Überblickskommentar sowie Stellenerläuterungen, deren Ausführlichkeit und Materialfülle alle bisherigen Ausgaben bei weitem übertrifft."
Steffen Martus in: Süddeutsche Zeitung 9/2007
"Mit Christoph Wingertszahn Ausgabe des Anton Reiser liegt im Rahmen der Kritischen Moritz-Ausgabe nun das literarische Hauptwerk des Autors in mustergültiger Textgestalt und mit maßstabsetzendem Kommentar versehen vor."
Cord-Friedrich Berghahn in: Zeitschrift für Germanistik 3/2007
"Research on German literatur will much profit from this well-produced publication."
International Review of Biblical Studies 2006/2007
Eberhard Rohse in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 4/2009
"Lebendiger ist das Werk von Karl Philipp Moritz nie gewesen: Die neue Werkausgabe erschließt den "Anton Reiser neu und bietet einen Einblick in die Arbeitsweise des ersten deutschen Seelenkundlers."
Ernst Osterkamp in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 10.11.2007
"Der Herausgeber des Bandes, Christof Wingertszahn, Mitherausgeber der KMA und Leiter der Berliner Arbeitsstelle, hat insbesondere zur die Kindheit und Jugend Moritz' entscheidend prägenden quietistisch-separatistischen Umgebung der Familie Dokumente und Briefzeugnisse gefunden, die angesichts der biografischen Anlage des Romans eine erhellende Wirkung auf die Neulektüre ausüben. [...] Die wachsende Moritz-Leserschaft kann nur beglückwünscht werden zu dieser erfreulichen Bereicherung und Kontextualisierung des einzigartigen "Anton Reiser"."
Markus Bauer in: www.literaturkritk.de 10/2007
"Christoph Wingertszahn herausragende Arbeit liefert damit erstmals die älteste Fassung des Romans mit allen vorhandenen Varianten, einen weit ausgreifenden Überblickskommentar sowie Stellenerläuterungen, deren Ausführlichkeit und Materialfülle alle bisherigen Ausgaben bei weitem übertrifft."
Steffen Martus in: Süddeutsche Zeitung 9/2007
"Mit Christoph Wingertszahn Ausgabe des Anton Reiser liegt im Rahmen der Kritischen Moritz-Ausgabe nun das literarische Hauptwerk des Autors in mustergültiger Textgestalt und mit maßstabsetzendem Kommentar versehen vor."
Cord-Friedrich Berghahn in: Zeitschrift für Germanistik 3/2007
"Research on German literatur will much profit from this well-produced publication."
International Review of Biblical Studies 2006/2007