Karl Philipp Moritz stellt in dem autobiographischen Roman Anton Reiser (1785–1790) dar, wie sein alter ego Anton Reiser unter dem Einfluß einer religiösen Sekte zum »völligen Hypochondristen« wird. Moritz’ Vater und sein Lehrherr, der Hutmacher Lobenstein, waren Anhänger des Quietisten Johann Friedrich von Fleischbein (1700–1774), dieser wiederum ein fanatischer Parteigänger der französischen Mystikerin Jeanne-Marie Guyon du Chesnoy (1648–1717). Der Alltag und das Umfeld der Quietisten Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland waren bisher fast unbekannt. Nun erlaubt der neuaufgefundene Fleischbein-Nachlaß eine neue Sichtweise auf den Roman Anton Reiser und das praktische Leben der deutschen Quietisten. Besonders zur Zeit von Moritz’ Lehre bei Lobenstein in Braunschweig verbreitete Fleischbein als Ziel der deutschen Guyon-Anhänger, wie »Michelein« zu leben und sich in sogenannter kindlicher Einfalt wie ein »Lumpen im Maul des Hunds« zerzausen zu lassen. Das Programm blieb nicht ohne Folgen für den jungen Moritz, der von seinem Lehrherrn bis aufs Blut gepeinigt wurde. Im Mai 1770 verurteilte der hartherzige Hutmacher seinen Gehilfen: »von Den Ersten augenblik an war mir Der Knabe Fremd und blib mir Fremd / und zu lez wurde gar ein Satan Daraus / O was ist Der Mensch nach Den Fal Vor eine unglickliche Cräatur / Der Knabe Hat mir recht zum Lehrer gedint / wen ich Die Eigenheit in Ihrer Erschröklichen gestalt Erblicket habe derrer Grausamkeit Erschröklicher ist als Die Teufel Selbst / Ich Habe maniches mahl ein lautes Geschrey in meinem Herzen Darüber anfangen mögen«. Die vorliegende Studie dokumentiert Moritz’ Aufenthalt bei Lobenstein durch neuaufgefundene Briefe des Hutmachers und entwirft zum ersten Mal anhand zahlreicher Funde ein realistisches Bild der Guyonisten um den »Seelenführer« Fleischbein. "Neues Material, neue Fakten zu einem Klassiker der Weltliteratur – das kommt nicht alle Tage vor! Ein Buch, das auch sehr neugierig macht auf die kritische Berliner Moritz-Ausgabe, deren erster Band (natürlich Anton Reiser) im Herbst beim Tübinger Niemeyer Verlag erscheint." ZEIT
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ist Karl Philipp Moritz' Roman "Anton Reiser" autobiografisch? Und wenn ja, gilt das auch für Moritz' Jugend? Es gilt, jubelt Rezensent Alexander Kosenina. Bisher hat man es nur vermutet, doch jetzt hat Christof Wingertszahn in Lausanne Briefe aufgestöbert, die es beweisen. Die Briefe stammen von dem Hutmacher Lobenstein, der im Roman seinen Lehrling Anton auf das schändlichste quält und demütigt. Den Herrn gab es wirklich, und er schrieb u.a. einen Brief an den "quietistischen Seelenführer" Johann Friedrich von Fleischbein, dem er detailliert beschreibt, wie er den 'kleinen Carl' bestraft hat, um ihm 'grim und bosheit' auszutreiben. Diesen und einen zweiten Brief, der an Fleischbeins Financier, den Freiherr von Klinckowström gerichtet war, hat Wingertszahn im Nachlass Fischbeins gefunden: ein "Triumph der Archivforschung", freut sich Kosenina. Ebenfalls im Buch finden sich "flankierende Zeugnisse", die zeigen, warum das Kind Karl so 'verstockt' war. Der Quietismus, dem Lobenstein anhing, war geprägt von "radikaler Lebensfeindschaft und Auslöschung der Individualität". Kosenina nennt das "quietistische Erziehungsdiktatur". Erst mit diesem von Wingertszahn dargebotenem Hintergrundwissen, erklärt der Rezensent, könne der Leser wirklich nachvollziehen, wie sehr Moritz gelitten haben muss und welch "bittere Rache" er in seinem Roman nahm.
© Perlentaucher Medien GmbH
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