Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.19981788
Karl Philipp Moritz "Anton Reiser"
Wir sind ihm schon begegnet, er war der Entdecker Jean Pauls (er wird es sein: wir gehn hier ja diesen Krebsgang, rückwärts); jetzt hat er, ein bißchen vergleichbar fast dem armen Manne aus dem Tockenburg, drei Bände lang schon die immer noch unabgeschlossene Lebensgeschichte eines sehr armen jungen Mannes aus dem Niedersächsischen geschrieben, auch sie, wie Bräkers Geschichte, ganz autobiographisch, aber mit einem genaueren, gebildeterem Drang zur Literatur, sichtbar schon am Untertitel: "Ein psychologischer Roman". Karl Philipp Moritz, Sohn eines armen Militärmusikers, hatte eine Hutmacherlehre gemacht, dann Theologie studiert, dann war er Lehrer geworden - ein lausiges Dasein das alles seinerzeit und doch ein beinahe gewöhnlicher, aber eben entsetzlich mühseliger Weg ans Licht (und selbst den kennen wir ja nur von denen, die ihn endlich geschafft haben). Alle die Jahre hindurch, gut zu wissen für uns hier, war er, wie sein Held Anton, ein fast exaltiert begeisterter Romanleser gewesen - Fluchten vielleicht aus einer schlechten Realität, sicher sogar Fluchten: Aber was sagt das schon? Was soll so einer denn tun außer fliehn? Und muß man nicht unter den Fluchten auch unterscheiden, wohin? Ab 1783 gab er die erste große Zeitschrift einer aufgeklärten, ideologielosen Psychologie heraus, das "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" - noch heute lesenswert, denn die meisten wollen immer noch glauben, was nicht ist. Dann kamen die ersten Bände der großen, nur wenig verschlüsselten Autobiographie. Jetzt, 1788, etabliert sozusagen, ein bekannter Mann, ist er eben noch in Italien, in Rom, seit 1786, wie Goethe auch, die beiden verkehren miteinander, sie kennen sich gut, sind befreundet, eng beinahe, seit Moritz, als sie einmal einen Ausritt machen wollten (müssen aber auch die Armen aus dem Niedersächsischen Ausritte machen wollen?), vom Pferd fiel und Goethe ihn rührend betuttelte und betüterte - wahrscheinlich war dies der Grund, warum jener vom Pferde gefallen war, denn wer kennt schon die Seele, nämlich die eigne? Anfang Oktober 1788 verließ er Rom. Goethe war Ende April abgereist, und blieb dann noch zwei Monate bei diesem in Weimar. 1789 wurde er Professor in Berlin, später auch Hofrat und schrieb den vierten Teil des Anton Reiser, worin dieser schließlich zu Fuß von Erfurt nach Leipzig läuft, er will Schauspieler werden. (Karl Philipp Moritz: "Anton Reiser. Ein psychologischer Roman". Mit einem Nachwort von Benedikt Erenz und - sehr gründlichen - Anmerkungen von Kirsten Erwentraut. Artemis und Winkler, Düsseldorf und Zürich 1996. Mit den beiden Andreas-Hartknopf-Romanen. 1024 S., geb., 88,- DM.) R.V.
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Karl Philipp Moritz "Anton Reiser"
Wir sind ihm schon begegnet, er war der Entdecker Jean Pauls (er wird es sein: wir gehn hier ja diesen Krebsgang, rückwärts); jetzt hat er, ein bißchen vergleichbar fast dem armen Manne aus dem Tockenburg, drei Bände lang schon die immer noch unabgeschlossene Lebensgeschichte eines sehr armen jungen Mannes aus dem Niedersächsischen geschrieben, auch sie, wie Bräkers Geschichte, ganz autobiographisch, aber mit einem genaueren, gebildeterem Drang zur Literatur, sichtbar schon am Untertitel: "Ein psychologischer Roman". Karl Philipp Moritz, Sohn eines armen Militärmusikers, hatte eine Hutmacherlehre gemacht, dann Theologie studiert, dann war er Lehrer geworden - ein lausiges Dasein das alles seinerzeit und doch ein beinahe gewöhnlicher, aber eben entsetzlich mühseliger Weg ans Licht (und selbst den kennen wir ja nur von denen, die ihn endlich geschafft haben). Alle die Jahre hindurch, gut zu wissen für uns hier, war er, wie sein Held Anton, ein fast exaltiert begeisterter Romanleser gewesen - Fluchten vielleicht aus einer schlechten Realität, sicher sogar Fluchten: Aber was sagt das schon? Was soll so einer denn tun außer fliehn? Und muß man nicht unter den Fluchten auch unterscheiden, wohin? Ab 1783 gab er die erste große Zeitschrift einer aufgeklärten, ideologielosen Psychologie heraus, das "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" - noch heute lesenswert, denn die meisten wollen immer noch glauben, was nicht ist. Dann kamen die ersten Bände der großen, nur wenig verschlüsselten Autobiographie. Jetzt, 1788, etabliert sozusagen, ein bekannter Mann, ist er eben noch in Italien, in Rom, seit 1786, wie Goethe auch, die beiden verkehren miteinander, sie kennen sich gut, sind befreundet, eng beinahe, seit Moritz, als sie einmal einen Ausritt machen wollten (müssen aber auch die Armen aus dem Niedersächsischen Ausritte machen wollen?), vom Pferd fiel und Goethe ihn rührend betuttelte und betüterte - wahrscheinlich war dies der Grund, warum jener vom Pferde gefallen war, denn wer kennt schon die Seele, nämlich die eigne? Anfang Oktober 1788 verließ er Rom. Goethe war Ende April abgereist, und blieb dann noch zwei Monate bei diesem in Weimar. 1789 wurde er Professor in Berlin, später auch Hofrat und schrieb den vierten Teil des Anton Reiser, worin dieser schließlich zu Fuß von Erfurt nach Leipzig läuft, er will Schauspieler werden. (Karl Philipp Moritz: "Anton Reiser. Ein psychologischer Roman". Mit einem Nachwort von Benedikt Erenz und - sehr gründlichen - Anmerkungen von Kirsten Erwentraut. Artemis und Winkler, Düsseldorf und Zürich 1996. Mit den beiden Andreas-Hartknopf-Romanen. 1024 S., geb., 88,- DM.) R.V.
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