Ist der von zahlreichen UN-Gremien sowie internationalen und israelischen Menschenrechtsorganisationen gegen Israel erhobene Vorwurf der Apartheid wegen seiner Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten begründet oder bloßer Ausdruck von - vielleicht sogar antisemitisch motivierter Israelfeindlichkeit? Dieser Frage will diese Untersuchung mit Blick insbesondere auf die Situation im Westjordanland auf den Grund gehen. Dabei wird zunächst der Begriff der Apartheid in seiner rechtlichen Dimension erklärt und die betreffende Praxis anhand des südafrikanischen Präzedenzfalls kontextualisiert. Sodann wird dieser Rechtsbegriff auf die Situation in den besetzten Gebieten angewendet. Das Ergebnis fällt differenzierend und vorläufig aus. In jedem Fall ist Israel zu raten, sich ernsthaft mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen. Denn auch in diesem Fall kann es, wie zuletzt wegen eines möglichen Genozids im Gazakrieg, zu einem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof und zu strafrechtlichen Ermittlungen beim Internationalen Strafgerichtshof kommen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit der Frage, ob es sich bei dem israelischen Besatzerhandeln in Palästina um Apartheid handelt, setzt sich der Völkerrechtler Kai Ambos laut Rezensent Alexander Haneke auseinander. Haneke zeichnet zunächst mit Ambos nach, wie schwer der Vorwurf angesichts der Geschichte des Unrechtsregimes in Südafrika wiegt und weist auf offensichtliche Unterschiede zwischen beiden historischen Situationen hin. Im Zentrum des Buches steht, lernen wir, allerdings die Frage, ob die Realität in den besetzten Gebieten mit Apartheid als einem Rechtsbegriff kompatibel ist. Eindeutig festlegen möchte sich Ambos laut Haneke nicht, aber in der Tendenz sieht er in Hanekes Darstellung die Voraussetzung für eine Anwendung des juristischen Apartheidsbegriffs erfüllt, da Israel zwar ursprünglich aus einem legitimen Selbstverteidigungsrecht heraus handelte, durch Siedlungsaktivitäten inzwischen jedoch die palästinensische Bevölkerung systematisch unterdrücke. Dennoch bleiben, schließt Haneke, Zweifel, die möglicherweise bald vor dem Internationalen Gerichtshof ausgeräumt werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.04.2024Gradmesser der Besatzung
Betreibt Israel in den besetzten Gebieten ein Apartheid-Regime?
Der Völkerrechtler Kai Ambos versucht sich an einer Antwort.
Wenn Journalisten eine Überschrift als Frage formulieren, dann in der Regel deshalb, weil sie den Inhalt der Überschrift nicht beweisen können, weshalb diese in Form einer Aussage nicht haltbar wäre. „Jede Überschrift, die mit einem Fragezeichen endet“, so hat der britische Journalist Ian Betteridge einmal als Faustregel formuliert, „kann mit einem Nein beantwortet werden.“
Denselben Erfahrungssatz gibt es auch in der Welt der wissenschaftlichen Aufsätze, dort ist er als „Hinchliffe’s Rule“ bekannt. Das Buch, das nun der renommierte Göttinger Rechtsprofessor Kai Ambos vorgelegt hat, „Apartheid in Palästina?“, hat auffälligerweise auch ein solches Fragezeichen am Ende. Der Untertitel lautet: „Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung“. Auf das Urteil des Juristen, der auch als Richter am Kosovo-Sondertribunal arbeitet, ist man gespannt.
Ambos beginnt mit einer differenzierten und gut lesbaren Beschreibung der Rechtslage. Apartheid ist zwar international geächtet. Aber es ist gleichzeitig ein schwammiger Begriff. Die im Jahr 1973 verabschiedete Apartheid-Konvention bezeichnet Apartheid als die „unmenschlichen Handlungen, die zu dem Zweck begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken“.
Das sind Begriffe, die, wenn es konkret wird, viel Interpretationsspielraum lassen. Zumal wenn es um unausgesprochene politische Absichten geht, über deren Nachweis man vor Gericht oft streiten kann. Die Apartheid-Konvention ist, trotz einmütiger Verurteilung des Rassismus, deshalb nur von 109 Staaten weltweit unterzeichnet worden. Wobei kein G-7-Staat dabei ist, auch nicht Deutschland.
Seit der Jahrtausendwende blüht zwar die strafrechtliche Verfolgung von Menschheitsverbrechen auf. Auch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ist der Begriff der Apartheid verankert worden. Wobei aber auch hier unklar bleibt, in welchen Fällen eine Unterdrückung von Teilen der Zivilbevölkerung – strafbar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – zusätzlich auch noch als Apartheid eingestuft wird. „Primär symbolisch“ nennt Ambos diesen neuen Straftatbestand – und zeigt Verständnis für Deutschland, das, als es 2002 um die Umsetzung des IStGH-Statuts in nationales Recht ging, deshalb den Tatbestand der Apartheid nicht übernommen hat. Andere Staaten wie die USA, Russland und fast alle arabischen sowie Israel sind dem IStGH gar nicht beigetreten.
„Die mangelnde Präzision des Apartheid-Verbrechens ist wohl auch der Hauptgrund für die praktisch nicht vorhandene Gerichtspraxis“, schreibt Ambos. Sprich: Kein internationales Gericht hat bislang je diesen Begriff angewendet. Das zumindest dürfte sich bald ändern: Der Internationale Gerichtshof, der im Jahr 2022 von der UN-Generalversammlung beauftragt worden ist, ein umfassendes Gutachten zur israelischen Besatzung zu erstatten, beschreitet jetzt dieses Neuland.
Historisch, das ist der zweite Teil von Ambos’ Buch, stammt der Begriff der Apartheid natürlich aus Südafrika. Dort bezeichnete er – in der Sprache der Täter – eine extreme Form der Segregation, ähnlich den Südstaaten der USA in den 1950er-Jahren. So galt bis Anfang der 1990er-Jahre in Südafrika ein Verbot von „Mischehen“, auch von sexuellen Beziehungen, „durchaus mit den Nürnberger Gesetzen vergleichbar“, wie Ambos schreibt. Das Schulsystem gönnte den Schwarzen nur die grundlegendste Bildung. Rassentrennung herrschte überall, in Gebäuden, bei der Post, bei Toiletten, weiße Notärzte behandelten keine schwarzen Verletzten.
In den heute von Israel besetzten Palästinensergebieten, das heißt vor allem im Westjordanland, können zwar alle Bewohner in denselben Läden einkaufen und zu denselben Ärzten gehen – aber hier lenkt Ambos den Blick vor allem auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Hauszerstörungen, die in bestimmten Zonen geltenden Bauverbote für Palästinenser. Solche Maßnahmen, erläutert Ambos, könnten als Rassendiskriminierung gewertet werden – nach der weiten Definition der UN, die eine Diskriminierung auch aufgrund der nationalen Zugehörigkeit einschließe.
Einige Völkerrechtler meinen, dass die Segregation in den Palästinensergebieten heute zwar anders sei als im historischen Südafrika, aber in gewisser Weise sogar brutaler. Ambos zitiert etwa den Kanadier Michael Lynk, der bis 2022 UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten war. Gewiss: Palästinenser fänden heute keine „Whites only“-Schilder an Bushaltestellen vor wie einst Schwarze in Südafrika, schreibt er. „Andererseits gibt es gnadenlose Merkmale der ,apartness’ Herrschaft Israels in den besetzten Gebieten, die in Südafrika so nicht praktiziert wurde, wie zum Beispiel getrennte Autobahnen, hohe Mauern und ausgedehnte Kontrollpunkte“.
Fachleute, die an dieser Stelle zögern, gibt es zwar auch. So wie etwa der britische Völkerstrafrechtler und Rechtsanwalt Joshua Kern, der einwendet, Mauern und Kontrollpunkte seien eine Folge der Intifada, also von Terroranschlägen auf Israelis – und außerdem könne man Israel nicht ohne Weiteres die „Absicht“ unterstellen, „eine andere rassische Gruppe“ zu beherrschen, wenn sich der Staat 2005 freiwillig aus dem Gazastreifen zurückgezogen habe und in den 1990er-Jahren auch den Palästinensern im Westjordanland teilweise ihre politische Selbstbestimmung gegeben habe. Aber solche Stimmen muss man in Ambos’ Fußnotenapparat suchen.
Und was ist nun Ambos’ eigene Antwort auf seine Fragezeichen-Überschrift? Ein Nein? Hier, im kurzen, dritten Teil des Buches, wird es überraschend vage. Israels böser Wille, die – wie es in der Apartheid-Definition heißt – Absicht, „die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten“, sei tatsächlich eine offene Frage, konzediert Ambos. Es „lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Informationen gut nachvollziehbar vertreten“, schreibt er, dass Israel ein Apartheid-Regime installiert habe. Deutlicher will er aber nicht werden.
Es „sollte klar geworden sein, dass der Apartheid-Vorwurf sich in seiner (völker)rechtlich begründeten Dimension nicht als ,antisemitisch’ abtun und erledigen lässt“, betont der Autor aber noch. Und begründet das vor allem damit, dass dieser Vorwurf „auch von israelisch-jüdischen Kreisen geteilt“ werde; zumindest, wie er dann auch wieder einschränkt, von manchen Personen.
RONEN STEINKE
Südafrika erfand diese Art
der Segregation
Kai Ambos:
Apartheid in Palästina? Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung.
Westend-Verlag, Frankfurt 2024. 256 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Betreibt Israel in den besetzten Gebieten ein Apartheid-Regime?
Der Völkerrechtler Kai Ambos versucht sich an einer Antwort.
Wenn Journalisten eine Überschrift als Frage formulieren, dann in der Regel deshalb, weil sie den Inhalt der Überschrift nicht beweisen können, weshalb diese in Form einer Aussage nicht haltbar wäre. „Jede Überschrift, die mit einem Fragezeichen endet“, so hat der britische Journalist Ian Betteridge einmal als Faustregel formuliert, „kann mit einem Nein beantwortet werden.“
Denselben Erfahrungssatz gibt es auch in der Welt der wissenschaftlichen Aufsätze, dort ist er als „Hinchliffe’s Rule“ bekannt. Das Buch, das nun der renommierte Göttinger Rechtsprofessor Kai Ambos vorgelegt hat, „Apartheid in Palästina?“, hat auffälligerweise auch ein solches Fragezeichen am Ende. Der Untertitel lautet: „Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung“. Auf das Urteil des Juristen, der auch als Richter am Kosovo-Sondertribunal arbeitet, ist man gespannt.
Ambos beginnt mit einer differenzierten und gut lesbaren Beschreibung der Rechtslage. Apartheid ist zwar international geächtet. Aber es ist gleichzeitig ein schwammiger Begriff. Die im Jahr 1973 verabschiedete Apartheid-Konvention bezeichnet Apartheid als die „unmenschlichen Handlungen, die zu dem Zweck begangen werden, die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten und aufrechtzuerhalten und diese systematisch zu unterdrücken“.
Das sind Begriffe, die, wenn es konkret wird, viel Interpretationsspielraum lassen. Zumal wenn es um unausgesprochene politische Absichten geht, über deren Nachweis man vor Gericht oft streiten kann. Die Apartheid-Konvention ist, trotz einmütiger Verurteilung des Rassismus, deshalb nur von 109 Staaten weltweit unterzeichnet worden. Wobei kein G-7-Staat dabei ist, auch nicht Deutschland.
Seit der Jahrtausendwende blüht zwar die strafrechtliche Verfolgung von Menschheitsverbrechen auf. Auch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ist der Begriff der Apartheid verankert worden. Wobei aber auch hier unklar bleibt, in welchen Fällen eine Unterdrückung von Teilen der Zivilbevölkerung – strafbar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit – zusätzlich auch noch als Apartheid eingestuft wird. „Primär symbolisch“ nennt Ambos diesen neuen Straftatbestand – und zeigt Verständnis für Deutschland, das, als es 2002 um die Umsetzung des IStGH-Statuts in nationales Recht ging, deshalb den Tatbestand der Apartheid nicht übernommen hat. Andere Staaten wie die USA, Russland und fast alle arabischen sowie Israel sind dem IStGH gar nicht beigetreten.
„Die mangelnde Präzision des Apartheid-Verbrechens ist wohl auch der Hauptgrund für die praktisch nicht vorhandene Gerichtspraxis“, schreibt Ambos. Sprich: Kein internationales Gericht hat bislang je diesen Begriff angewendet. Das zumindest dürfte sich bald ändern: Der Internationale Gerichtshof, der im Jahr 2022 von der UN-Generalversammlung beauftragt worden ist, ein umfassendes Gutachten zur israelischen Besatzung zu erstatten, beschreitet jetzt dieses Neuland.
Historisch, das ist der zweite Teil von Ambos’ Buch, stammt der Begriff der Apartheid natürlich aus Südafrika. Dort bezeichnete er – in der Sprache der Täter – eine extreme Form der Segregation, ähnlich den Südstaaten der USA in den 1950er-Jahren. So galt bis Anfang der 1990er-Jahre in Südafrika ein Verbot von „Mischehen“, auch von sexuellen Beziehungen, „durchaus mit den Nürnberger Gesetzen vergleichbar“, wie Ambos schreibt. Das Schulsystem gönnte den Schwarzen nur die grundlegendste Bildung. Rassentrennung herrschte überall, in Gebäuden, bei der Post, bei Toiletten, weiße Notärzte behandelten keine schwarzen Verletzten.
In den heute von Israel besetzten Palästinensergebieten, das heißt vor allem im Westjordanland, können zwar alle Bewohner in denselben Läden einkaufen und zu denselben Ärzten gehen – aber hier lenkt Ambos den Blick vor allem auf die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Hauszerstörungen, die in bestimmten Zonen geltenden Bauverbote für Palästinenser. Solche Maßnahmen, erläutert Ambos, könnten als Rassendiskriminierung gewertet werden – nach der weiten Definition der UN, die eine Diskriminierung auch aufgrund der nationalen Zugehörigkeit einschließe.
Einige Völkerrechtler meinen, dass die Segregation in den Palästinensergebieten heute zwar anders sei als im historischen Südafrika, aber in gewisser Weise sogar brutaler. Ambos zitiert etwa den Kanadier Michael Lynk, der bis 2022 UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten war. Gewiss: Palästinenser fänden heute keine „Whites only“-Schilder an Bushaltestellen vor wie einst Schwarze in Südafrika, schreibt er. „Andererseits gibt es gnadenlose Merkmale der ,apartness’ Herrschaft Israels in den besetzten Gebieten, die in Südafrika so nicht praktiziert wurde, wie zum Beispiel getrennte Autobahnen, hohe Mauern und ausgedehnte Kontrollpunkte“.
Fachleute, die an dieser Stelle zögern, gibt es zwar auch. So wie etwa der britische Völkerstrafrechtler und Rechtsanwalt Joshua Kern, der einwendet, Mauern und Kontrollpunkte seien eine Folge der Intifada, also von Terroranschlägen auf Israelis – und außerdem könne man Israel nicht ohne Weiteres die „Absicht“ unterstellen, „eine andere rassische Gruppe“ zu beherrschen, wenn sich der Staat 2005 freiwillig aus dem Gazastreifen zurückgezogen habe und in den 1990er-Jahren auch den Palästinensern im Westjordanland teilweise ihre politische Selbstbestimmung gegeben habe. Aber solche Stimmen muss man in Ambos’ Fußnotenapparat suchen.
Und was ist nun Ambos’ eigene Antwort auf seine Fragezeichen-Überschrift? Ein Nein? Hier, im kurzen, dritten Teil des Buches, wird es überraschend vage. Israels böser Wille, die – wie es in der Apartheid-Definition heißt – Absicht, „die Herrschaft einer rassischen Gruppe über eine andere rassische Gruppe zu errichten“, sei tatsächlich eine offene Frage, konzediert Ambos. Es „lässt sich auf der Grundlage der vorliegenden Informationen gut nachvollziehbar vertreten“, schreibt er, dass Israel ein Apartheid-Regime installiert habe. Deutlicher will er aber nicht werden.
Es „sollte klar geworden sein, dass der Apartheid-Vorwurf sich in seiner (völker)rechtlich begründeten Dimension nicht als ,antisemitisch’ abtun und erledigen lässt“, betont der Autor aber noch. Und begründet das vor allem damit, dass dieser Vorwurf „auch von israelisch-jüdischen Kreisen geteilt“ werde; zumindest, wie er dann auch wieder einschränkt, von manchen Personen.
RONEN STEINKE
Südafrika erfand diese Art
der Segregation
Kai Ambos:
Apartheid in Palästina? Eine historisch-völkerrechtliche Untersuchung.
Westend-Verlag, Frankfurt 2024. 256 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2024Krieg mit den Kampfbegriffen
Eine historisch-völkerrechtliche Analyse versucht, den Apartheidsvorwurf gegen Israel einzuordnen
Wie in kaum einem anderen Konflikt findet jenseits der Schlachtfelder in Nahost ein Kampf um die Meinungshoheit statt, in dem immer großkalibrigere Begriffe aufgefahren werden. Als jüngster Höhepunkt kann das Verfahren über den Völkermordvorwurf gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesehen werden. Knapp dahinter rangieren seit einigen Jahren der Begriff "Apartheid" und die Frage, inwieweit vor allem Israels Besatzungsregime im Westjordanland die Voraussetzungen dieser historisch-rechtlichen Kategorie erfüllt.
Der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos, der sich seit Jahren wissenschaftlich und als Experte in verschiedenen Verfahren mit den Rechtsfragen rund um das Besatzungsregime Israels befasst, hat sich nun der Apartheidsdiskussion genähert und eine "historisch-völkerrechtliche" Untersuchung vorgelegt. Der historische Teil ist schon deshalb wichtig, da zwar allseits bekannt ist, dass sich der Apartheidsbegriff aus der jahrzehntelangen Rassendiskriminierung in Südafrika entwickelt hat, aber viel zu selten genauer darauf geblickt wird, wie planmäßig und systematisch die Urform der Apartheid umgesetzt wurde. Ambos verschafft dem Leser einen guten Überblick über das Regime der Rassentrennung, das in den späten 1940er-Jahren mit dem Wort "Apartheid" einen Begriff bekam und in der Folge immer weiter zu einem System der maximalen Ungerechtigkeit, Repression und Ausbeutung verfeinert wurde.
Erst aus der historischen Betrachtung wird der Unrechtsmaßstab greifbar, den der Begriff Apartheid umfasst - und die heftige israelische Gegenreaktion verständlich. Besonders groß war die Empörung über einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die nicht nur das Besatzungsregime im Westjordanland als "Apartheidsstaat" bezeichnete, sondern Israel als Ganzes, weil arabische Israelis nicht die gleichen Rechte genießen wie ihre jüdischen Mitbürger. Heftigen Widerspruch erhält regelmäßig auch die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, die regelmäßig von Apartheid spricht und die israelische Politik als (post-)koloniales Siedlerprojekt begreift.
Ambos sieht indes auch auf der proisraelischen Seite häufig eine selektive Argumentation und persönliche Angriffe gegen die Personen selbst. Bei dieser Gelegenheit baut er einen ausführlichen Exkurs zur Debatte über die gängigen Antisemitismus-Definitionen ein - denn so schwer der Apartheidsvorwurf als argumentative Keule wiegt, so brachial ist oft die Gegenwehr, mit der Kritik an Israel schnell diskreditiert wird.
Doch Ambos' eigentlicher Punkt ist der Versuch einer nüchternen Subsumtion der tatsächlichen Verhältnisse in den besetzten Gebieten unter den Rechtsbegriff der Apartheid - und so nähert er sich dem zentralen Problem, dass der Tatbestand am Ende wegen seiner mangelnden Präzision in der Praxis auf erhebliche Anwendungsprobleme stößt. Wer in Israel den Apartheidsstaat sehen will, kann das gut begründen und mit dem historisch aufgeladenen Begriff die maximale moralische Verurteilung erreichen - doch auch die Gegenseite hat gute Argumente.
Einer allzu expliziten Festlegung entzieht sich Ambos zunächst, indem er nicht die Frage in den Mittelpunkt stellt, ob Israel gegen das völkerrechtliche Verbot der Apartheid verstößt. Er konzentriert sich stattdessen auf den parallel existierenden völkerstrafrechtlichen Tatbestand, mit dem einzelne Täter wegen Apartheidsverbrechen verfolgt werden können, wenn sie "im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" einer rassischen Gruppe eine "unmenschliche Handlung" begehen und dabei die Absicht haben, "dieses Regime aufrechtzuerhalten".
Bei der Frage des "institutionalisierten Regimes der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" geht Ambos dann auf die tatsächlichen Verhältnisse im Westjordanland ein. Hier hätte sich der Leser eine noch tiefer gehende Analyse der politischen und rechtlichen Prozesse gewünscht. Denn das Spezielle am Fall Israel/Palästina, das ihn fundamental vom historischen Vorbild Südafrika unterscheidet, ist die Ambivalenz und Uneindeutigkeit der Besatzung: Ursprünglich konnte Israel sie auf sein Selbstverteidigungsrecht stützen. Doch mit der aggressiven Siedlungspolitik, die die israelische Rechte vorantreibt, kam eine zweite Ebene hinzu: die einer schleichenden Annexion, mit der ein paralleles Rechtsregime zur Privilegierung der Siedler entstand, das deutliche Züge von Apartheid trägt, während die Justiz mal bremsend einschritt, mal die Verhältnisse mittelbar legitimierte. Auch hinsichtlich der Zielrichtung gibt es große Unterschiede zu Südafrika, da es den Siedlern im Kern nicht um eine dauerhafte Beherrschung der Palästinenser geht, sondern um deren Verdrängung. Ambos geht kursorisch durch einige dieser Fragen und erwähnt, dass manche Regeln mit Sicherheitserfordernissen begründet werden könnten, dass dies jedoch kein legitimer Rechtfertigungsgrund für ein Regime sein könne, "das auf Apartheid hinausläuft".
Aus all dem klingt durch, dass Ambos von einem "institutionalisierten Regime systematischer Unterdrückung und Beherrschung" - mithin von Apartheid - ausgeht. Ein solcher Schluss lasse sich "gut nachvollziehbar vertreten". Ausdrücklich festlegen will er sich aber nicht und schreibt von komplexen Fragen, die es "schwierig bis unmöglich machen, zu zweifelsfreien, definitiven Erkenntnissen zu gelangen". Die könnten im Laufe dieses Jahres kommen, wenn der Internationale Gerichtshof sein Gutachten zur Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung und dem Vorwurf der Apartheid vorlegen muss. ALEXANDER HANEKE
Kai Ambos: Apartheid in Palästina? Eine historisch- völkerrechtliche Untersuchung.
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024. 256 S., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine historisch-völkerrechtliche Analyse versucht, den Apartheidsvorwurf gegen Israel einzuordnen
Wie in kaum einem anderen Konflikt findet jenseits der Schlachtfelder in Nahost ein Kampf um die Meinungshoheit statt, in dem immer großkalibrigere Begriffe aufgefahren werden. Als jüngster Höhepunkt kann das Verfahren über den Völkermordvorwurf gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesehen werden. Knapp dahinter rangieren seit einigen Jahren der Begriff "Apartheid" und die Frage, inwieweit vor allem Israels Besatzungsregime im Westjordanland die Voraussetzungen dieser historisch-rechtlichen Kategorie erfüllt.
Der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos, der sich seit Jahren wissenschaftlich und als Experte in verschiedenen Verfahren mit den Rechtsfragen rund um das Besatzungsregime Israels befasst, hat sich nun der Apartheidsdiskussion genähert und eine "historisch-völkerrechtliche" Untersuchung vorgelegt. Der historische Teil ist schon deshalb wichtig, da zwar allseits bekannt ist, dass sich der Apartheidsbegriff aus der jahrzehntelangen Rassendiskriminierung in Südafrika entwickelt hat, aber viel zu selten genauer darauf geblickt wird, wie planmäßig und systematisch die Urform der Apartheid umgesetzt wurde. Ambos verschafft dem Leser einen guten Überblick über das Regime der Rassentrennung, das in den späten 1940er-Jahren mit dem Wort "Apartheid" einen Begriff bekam und in der Folge immer weiter zu einem System der maximalen Ungerechtigkeit, Repression und Ausbeutung verfeinert wurde.
Erst aus der historischen Betrachtung wird der Unrechtsmaßstab greifbar, den der Begriff Apartheid umfasst - und die heftige israelische Gegenreaktion verständlich. Besonders groß war die Empörung über einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die nicht nur das Besatzungsregime im Westjordanland als "Apartheidsstaat" bezeichnete, sondern Israel als Ganzes, weil arabische Israelis nicht die gleichen Rechte genießen wie ihre jüdischen Mitbürger. Heftigen Widerspruch erhält regelmäßig auch die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, die regelmäßig von Apartheid spricht und die israelische Politik als (post-)koloniales Siedlerprojekt begreift.
Ambos sieht indes auch auf der proisraelischen Seite häufig eine selektive Argumentation und persönliche Angriffe gegen die Personen selbst. Bei dieser Gelegenheit baut er einen ausführlichen Exkurs zur Debatte über die gängigen Antisemitismus-Definitionen ein - denn so schwer der Apartheidsvorwurf als argumentative Keule wiegt, so brachial ist oft die Gegenwehr, mit der Kritik an Israel schnell diskreditiert wird.
Doch Ambos' eigentlicher Punkt ist der Versuch einer nüchternen Subsumtion der tatsächlichen Verhältnisse in den besetzten Gebieten unter den Rechtsbegriff der Apartheid - und so nähert er sich dem zentralen Problem, dass der Tatbestand am Ende wegen seiner mangelnden Präzision in der Praxis auf erhebliche Anwendungsprobleme stößt. Wer in Israel den Apartheidsstaat sehen will, kann das gut begründen und mit dem historisch aufgeladenen Begriff die maximale moralische Verurteilung erreichen - doch auch die Gegenseite hat gute Argumente.
Einer allzu expliziten Festlegung entzieht sich Ambos zunächst, indem er nicht die Frage in den Mittelpunkt stellt, ob Israel gegen das völkerrechtliche Verbot der Apartheid verstößt. Er konzentriert sich stattdessen auf den parallel existierenden völkerstrafrechtlichen Tatbestand, mit dem einzelne Täter wegen Apartheidsverbrechen verfolgt werden können, wenn sie "im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" einer rassischen Gruppe eine "unmenschliche Handlung" begehen und dabei die Absicht haben, "dieses Regime aufrechtzuerhalten".
Bei der Frage des "institutionalisierten Regimes der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" geht Ambos dann auf die tatsächlichen Verhältnisse im Westjordanland ein. Hier hätte sich der Leser eine noch tiefer gehende Analyse der politischen und rechtlichen Prozesse gewünscht. Denn das Spezielle am Fall Israel/Palästina, das ihn fundamental vom historischen Vorbild Südafrika unterscheidet, ist die Ambivalenz und Uneindeutigkeit der Besatzung: Ursprünglich konnte Israel sie auf sein Selbstverteidigungsrecht stützen. Doch mit der aggressiven Siedlungspolitik, die die israelische Rechte vorantreibt, kam eine zweite Ebene hinzu: die einer schleichenden Annexion, mit der ein paralleles Rechtsregime zur Privilegierung der Siedler entstand, das deutliche Züge von Apartheid trägt, während die Justiz mal bremsend einschritt, mal die Verhältnisse mittelbar legitimierte. Auch hinsichtlich der Zielrichtung gibt es große Unterschiede zu Südafrika, da es den Siedlern im Kern nicht um eine dauerhafte Beherrschung der Palästinenser geht, sondern um deren Verdrängung. Ambos geht kursorisch durch einige dieser Fragen und erwähnt, dass manche Regeln mit Sicherheitserfordernissen begründet werden könnten, dass dies jedoch kein legitimer Rechtfertigungsgrund für ein Regime sein könne, "das auf Apartheid hinausläuft".
Aus all dem klingt durch, dass Ambos von einem "institutionalisierten Regime systematischer Unterdrückung und Beherrschung" - mithin von Apartheid - ausgeht. Ein solcher Schluss lasse sich "gut nachvollziehbar vertreten". Ausdrücklich festlegen will er sich aber nicht und schreibt von komplexen Fragen, die es "schwierig bis unmöglich machen, zu zweifelsfreien, definitiven Erkenntnissen zu gelangen". Die könnten im Laufe dieses Jahres kommen, wenn der Internationale Gerichtshof sein Gutachten zur Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung und dem Vorwurf der Apartheid vorlegen muss. ALEXANDER HANEKE
Kai Ambos: Apartheid in Palästina? Eine historisch- völkerrechtliche Untersuchung.
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024. 256 S., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main