Ist der von zahlreichen UN-Gremien sowie internationalen und israelischen Menschenrechtsorganisationen gegen Israel erhobene Vorwurf der Apartheid wegen seiner Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten begründet oder bloßer Ausdruck von - vielleicht sogar antisemitisch motivierter Israelfeindlichkeit? Dieser Frage will diese Untersuchung mit Blick insbesondere auf die Situation im Westjordanland auf den Grund gehen. Dabei wird zunächst der Begriff der Apartheid in seiner rechtlichen Dimension erklärt und die betreffende Praxis anhand des südafrikanischen Präzedenzfalls kontextualisiert. Sodann wird dieser Rechtsbegriff auf die Situation in den besetzten Gebieten angewendet. Das Ergebnis fällt differenzierend und vorläufig aus. In jedem Fall ist Israel zu raten, sich ernsthaft mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen. Denn auch in diesem Fall kann es, wie zuletzt wegen eines möglichen Genozids im Gazakrieg, zu einem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof und zu strafrechtlichen Ermittlungen beim Internationalen Strafgerichtshof kommen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit der Frage, ob es sich bei dem israelischen Besatzerhandeln in Palästina um Apartheid handelt, setzt sich der Völkerrechtler Kai Ambos laut Rezensent Alexander Haneke auseinander. Haneke zeichnet zunächst mit Ambos nach, wie schwer der Vorwurf angesichts der Geschichte des Unrechtsregimes in Südafrika wiegt und weist auf offensichtliche Unterschiede zwischen beiden historischen Situationen hin. Im Zentrum des Buches steht, lernen wir, allerdings die Frage, ob die Realität in den besetzten Gebieten mit Apartheid als einem Rechtsbegriff kompatibel ist. Eindeutig festlegen möchte sich Ambos laut Haneke nicht, aber in der Tendenz sieht er in Hanekes Darstellung die Voraussetzung für eine Anwendung des juristischen Apartheidsbegriffs erfüllt, da Israel zwar ursprünglich aus einem legitimen Selbstverteidigungsrecht heraus handelte, durch Siedlungsaktivitäten inzwischen jedoch die palästinensische Bevölkerung systematisch unterdrücke. Dennoch bleiben, schließt Haneke, Zweifel, die möglicherweise bald vor dem Internationalen Gerichtshof ausgeräumt werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2024Krieg mit den Kampfbegriffen
Eine historisch-völkerrechtliche Analyse versucht, den Apartheidsvorwurf gegen Israel einzuordnen
Wie in kaum einem anderen Konflikt findet jenseits der Schlachtfelder in Nahost ein Kampf um die Meinungshoheit statt, in dem immer großkalibrigere Begriffe aufgefahren werden. Als jüngster Höhepunkt kann das Verfahren über den Völkermordvorwurf gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesehen werden. Knapp dahinter rangieren seit einigen Jahren der Begriff "Apartheid" und die Frage, inwieweit vor allem Israels Besatzungsregime im Westjordanland die Voraussetzungen dieser historisch-rechtlichen Kategorie erfüllt.
Der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos, der sich seit Jahren wissenschaftlich und als Experte in verschiedenen Verfahren mit den Rechtsfragen rund um das Besatzungsregime Israels befasst, hat sich nun der Apartheidsdiskussion genähert und eine "historisch-völkerrechtliche" Untersuchung vorgelegt. Der historische Teil ist schon deshalb wichtig, da zwar allseits bekannt ist, dass sich der Apartheidsbegriff aus der jahrzehntelangen Rassendiskriminierung in Südafrika entwickelt hat, aber viel zu selten genauer darauf geblickt wird, wie planmäßig und systematisch die Urform der Apartheid umgesetzt wurde. Ambos verschafft dem Leser einen guten Überblick über das Regime der Rassentrennung, das in den späten 1940er-Jahren mit dem Wort "Apartheid" einen Begriff bekam und in der Folge immer weiter zu einem System der maximalen Ungerechtigkeit, Repression und Ausbeutung verfeinert wurde.
Erst aus der historischen Betrachtung wird der Unrechtsmaßstab greifbar, den der Begriff Apartheid umfasst - und die heftige israelische Gegenreaktion verständlich. Besonders groß war die Empörung über einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die nicht nur das Besatzungsregime im Westjordanland als "Apartheidsstaat" bezeichnete, sondern Israel als Ganzes, weil arabische Israelis nicht die gleichen Rechte genießen wie ihre jüdischen Mitbürger. Heftigen Widerspruch erhält regelmäßig auch die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, die regelmäßig von Apartheid spricht und die israelische Politik als (post-)koloniales Siedlerprojekt begreift.
Ambos sieht indes auch auf der proisraelischen Seite häufig eine selektive Argumentation und persönliche Angriffe gegen die Personen selbst. Bei dieser Gelegenheit baut er einen ausführlichen Exkurs zur Debatte über die gängigen Antisemitismus-Definitionen ein - denn so schwer der Apartheidsvorwurf als argumentative Keule wiegt, so brachial ist oft die Gegenwehr, mit der Kritik an Israel schnell diskreditiert wird.
Doch Ambos' eigentlicher Punkt ist der Versuch einer nüchternen Subsumtion der tatsächlichen Verhältnisse in den besetzten Gebieten unter den Rechtsbegriff der Apartheid - und so nähert er sich dem zentralen Problem, dass der Tatbestand am Ende wegen seiner mangelnden Präzision in der Praxis auf erhebliche Anwendungsprobleme stößt. Wer in Israel den Apartheidsstaat sehen will, kann das gut begründen und mit dem historisch aufgeladenen Begriff die maximale moralische Verurteilung erreichen - doch auch die Gegenseite hat gute Argumente.
Einer allzu expliziten Festlegung entzieht sich Ambos zunächst, indem er nicht die Frage in den Mittelpunkt stellt, ob Israel gegen das völkerrechtliche Verbot der Apartheid verstößt. Er konzentriert sich stattdessen auf den parallel existierenden völkerstrafrechtlichen Tatbestand, mit dem einzelne Täter wegen Apartheidsverbrechen verfolgt werden können, wenn sie "im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" einer rassischen Gruppe eine "unmenschliche Handlung" begehen und dabei die Absicht haben, "dieses Regime aufrechtzuerhalten".
Bei der Frage des "institutionalisierten Regimes der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" geht Ambos dann auf die tatsächlichen Verhältnisse im Westjordanland ein. Hier hätte sich der Leser eine noch tiefer gehende Analyse der politischen und rechtlichen Prozesse gewünscht. Denn das Spezielle am Fall Israel/Palästina, das ihn fundamental vom historischen Vorbild Südafrika unterscheidet, ist die Ambivalenz und Uneindeutigkeit der Besatzung: Ursprünglich konnte Israel sie auf sein Selbstverteidigungsrecht stützen. Doch mit der aggressiven Siedlungspolitik, die die israelische Rechte vorantreibt, kam eine zweite Ebene hinzu: die einer schleichenden Annexion, mit der ein paralleles Rechtsregime zur Privilegierung der Siedler entstand, das deutliche Züge von Apartheid trägt, während die Justiz mal bremsend einschritt, mal die Verhältnisse mittelbar legitimierte. Auch hinsichtlich der Zielrichtung gibt es große Unterschiede zu Südafrika, da es den Siedlern im Kern nicht um eine dauerhafte Beherrschung der Palästinenser geht, sondern um deren Verdrängung. Ambos geht kursorisch durch einige dieser Fragen und erwähnt, dass manche Regeln mit Sicherheitserfordernissen begründet werden könnten, dass dies jedoch kein legitimer Rechtfertigungsgrund für ein Regime sein könne, "das auf Apartheid hinausläuft".
Aus all dem klingt durch, dass Ambos von einem "institutionalisierten Regime systematischer Unterdrückung und Beherrschung" - mithin von Apartheid - ausgeht. Ein solcher Schluss lasse sich "gut nachvollziehbar vertreten". Ausdrücklich festlegen will er sich aber nicht und schreibt von komplexen Fragen, die es "schwierig bis unmöglich machen, zu zweifelsfreien, definitiven Erkenntnissen zu gelangen". Die könnten im Laufe dieses Jahres kommen, wenn der Internationale Gerichtshof sein Gutachten zur Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung und dem Vorwurf der Apartheid vorlegen muss. ALEXANDER HANEKE
Kai Ambos: Apartheid in Palästina? Eine historisch- völkerrechtliche Untersuchung.
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024. 256 S., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine historisch-völkerrechtliche Analyse versucht, den Apartheidsvorwurf gegen Israel einzuordnen
Wie in kaum einem anderen Konflikt findet jenseits der Schlachtfelder in Nahost ein Kampf um die Meinungshoheit statt, in dem immer großkalibrigere Begriffe aufgefahren werden. Als jüngster Höhepunkt kann das Verfahren über den Völkermordvorwurf gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gesehen werden. Knapp dahinter rangieren seit einigen Jahren der Begriff "Apartheid" und die Frage, inwieweit vor allem Israels Besatzungsregime im Westjordanland die Voraussetzungen dieser historisch-rechtlichen Kategorie erfüllt.
Der Göttinger Völkerrechtler Kai Ambos, der sich seit Jahren wissenschaftlich und als Experte in verschiedenen Verfahren mit den Rechtsfragen rund um das Besatzungsregime Israels befasst, hat sich nun der Apartheidsdiskussion genähert und eine "historisch-völkerrechtliche" Untersuchung vorgelegt. Der historische Teil ist schon deshalb wichtig, da zwar allseits bekannt ist, dass sich der Apartheidsbegriff aus der jahrzehntelangen Rassendiskriminierung in Südafrika entwickelt hat, aber viel zu selten genauer darauf geblickt wird, wie planmäßig und systematisch die Urform der Apartheid umgesetzt wurde. Ambos verschafft dem Leser einen guten Überblick über das Regime der Rassentrennung, das in den späten 1940er-Jahren mit dem Wort "Apartheid" einen Begriff bekam und in der Folge immer weiter zu einem System der maximalen Ungerechtigkeit, Repression und Ausbeutung verfeinert wurde.
Erst aus der historischen Betrachtung wird der Unrechtsmaßstab greifbar, den der Begriff Apartheid umfasst - und die heftige israelische Gegenreaktion verständlich. Besonders groß war die Empörung über einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die nicht nur das Besatzungsregime im Westjordanland als "Apartheidsstaat" bezeichnete, sondern Israel als Ganzes, weil arabische Israelis nicht die gleichen Rechte genießen wie ihre jüdischen Mitbürger. Heftigen Widerspruch erhält regelmäßig auch die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, die regelmäßig von Apartheid spricht und die israelische Politik als (post-)koloniales Siedlerprojekt begreift.
Ambos sieht indes auch auf der proisraelischen Seite häufig eine selektive Argumentation und persönliche Angriffe gegen die Personen selbst. Bei dieser Gelegenheit baut er einen ausführlichen Exkurs zur Debatte über die gängigen Antisemitismus-Definitionen ein - denn so schwer der Apartheidsvorwurf als argumentative Keule wiegt, so brachial ist oft die Gegenwehr, mit der Kritik an Israel schnell diskreditiert wird.
Doch Ambos' eigentlicher Punkt ist der Versuch einer nüchternen Subsumtion der tatsächlichen Verhältnisse in den besetzten Gebieten unter den Rechtsbegriff der Apartheid - und so nähert er sich dem zentralen Problem, dass der Tatbestand am Ende wegen seiner mangelnden Präzision in der Praxis auf erhebliche Anwendungsprobleme stößt. Wer in Israel den Apartheidsstaat sehen will, kann das gut begründen und mit dem historisch aufgeladenen Begriff die maximale moralische Verurteilung erreichen - doch auch die Gegenseite hat gute Argumente.
Einer allzu expliziten Festlegung entzieht sich Ambos zunächst, indem er nicht die Frage in den Mittelpunkt stellt, ob Israel gegen das völkerrechtliche Verbot der Apartheid verstößt. Er konzentriert sich stattdessen auf den parallel existierenden völkerstrafrechtlichen Tatbestand, mit dem einzelne Täter wegen Apartheidsverbrechen verfolgt werden können, wenn sie "im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" einer rassischen Gruppe eine "unmenschliche Handlung" begehen und dabei die Absicht haben, "dieses Regime aufrechtzuerhalten".
Bei der Frage des "institutionalisierten Regimes der systematischen Unterdrückung und Beherrschung" geht Ambos dann auf die tatsächlichen Verhältnisse im Westjordanland ein. Hier hätte sich der Leser eine noch tiefer gehende Analyse der politischen und rechtlichen Prozesse gewünscht. Denn das Spezielle am Fall Israel/Palästina, das ihn fundamental vom historischen Vorbild Südafrika unterscheidet, ist die Ambivalenz und Uneindeutigkeit der Besatzung: Ursprünglich konnte Israel sie auf sein Selbstverteidigungsrecht stützen. Doch mit der aggressiven Siedlungspolitik, die die israelische Rechte vorantreibt, kam eine zweite Ebene hinzu: die einer schleichenden Annexion, mit der ein paralleles Rechtsregime zur Privilegierung der Siedler entstand, das deutliche Züge von Apartheid trägt, während die Justiz mal bremsend einschritt, mal die Verhältnisse mittelbar legitimierte. Auch hinsichtlich der Zielrichtung gibt es große Unterschiede zu Südafrika, da es den Siedlern im Kern nicht um eine dauerhafte Beherrschung der Palästinenser geht, sondern um deren Verdrängung. Ambos geht kursorisch durch einige dieser Fragen und erwähnt, dass manche Regeln mit Sicherheitserfordernissen begründet werden könnten, dass dies jedoch kein legitimer Rechtfertigungsgrund für ein Regime sein könne, "das auf Apartheid hinausläuft".
Aus all dem klingt durch, dass Ambos von einem "institutionalisierten Regime systematischer Unterdrückung und Beherrschung" - mithin von Apartheid - ausgeht. Ein solcher Schluss lasse sich "gut nachvollziehbar vertreten". Ausdrücklich festlegen will er sich aber nicht und schreibt von komplexen Fragen, die es "schwierig bis unmöglich machen, zu zweifelsfreien, definitiven Erkenntnissen zu gelangen". Die könnten im Laufe dieses Jahres kommen, wenn der Internationale Gerichtshof sein Gutachten zur Rechtmäßigkeit der israelischen Besatzung und dem Vorwurf der Apartheid vorlegen muss. ALEXANDER HANEKE
Kai Ambos: Apartheid in Palästina? Eine historisch- völkerrechtliche Untersuchung.
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2024. 256 S., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main