Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2020Das Chaos ist der Motor dieser Kunst
Ein Roman wie ein Kaleidoskop und wie von zwei verrückten Dichtern geschrieben: Colum McCann erzählt in "Apeirogon" vom Nahost-Konflikt.
Von Hubert Spiegel
Acht Jahrhunderte hat Saladins Minbar in der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg überdauert. Dann reiste ein geistig verwirrter Fanatiker von Australien nach Jerusalem, übergoss die hölzerne Gebetskanzel mit Benzin und zündete sie an. Ein einzigartiges Kunstwerk, das vielen Menschen in der islamischen Welt als heilig galt, war vernichtet.
Die kunstvolle Konstruktion aus dem zwölften Jahrhundert hatte ohne Nägel, Schrauben oder Leim das Gewicht vieler Generationen von Predigern getragen, aber niemand wusste, wie die sechzehntausend Einzelteile des Minbar ineinandergefügt waren. Handwerker aus aller Welt mussten sich zusammentun, damit in einer 37 Jahre währenden Anstrengung die Kanzel originalgetreu rekonstruiert werden konnte. Entscheidend dabei war ein beduinischer Bauingenieur, der herausgefunden hatte, dass "die vielen tausend Holzteile nicht von einem Rahmen, sondern allein durch ihre harmonische Anordnung zusammengehalten wurden".
Dem irischen Schriftsteller Colum McCann dient die Geschichte von Saladins Minbar als einer von zahllosen kleinen und kleinsten Splittern, aus denen er seinen jüngsten Roman zusammengesetzt hat. Er folgt dabei der titelgebenden geometrischen Figur namens Apeirogon und erschafft auf sechshundert Seiten eine Erzählstruktur, die ihrerseits streng geometrisch aufgebaut ist: Auf fünfhundert Kapitel mit aufsteigender Numerierung folgen fünfhundert Kapitel mit abnehmender Numerierung. Getrennt sind sie durch eine Art Nullpunkt, ein nicht beziffertes Kapitel, das exakt in der Mitte des Romans angesiedelt ist, so dass die Summe aller Kapitel die Zahl 1001 ergibt. Sie verweist vor allem auf die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die im Roman in unterschiedlichen Zusammenhängen erwähnt werden. Ein Beispiel von vielen: Als der Mossad 1973 in Rom einen palästinensischen Dichter liquidiert, der in das Attentat während der Olympischen Spiele von München verwickelt gewesen sein soll, dringen zwölf Kugeln in den Körper des Mannes ein. Das dreizehnte Projektil bleibt in dem Buch stecken, das der Dichter in der Brusttasche seines Jacketts trug. Es war eine Ausgabe der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die er ins Italienische übertragen wollte.
McCann webt ein raffiniertes Geflecht aus Leitmotiven, Assoziationen, Wiederholungen und Parallelismen, das indes nur auf den ersten Blick einem höheren Konstruktionsprinzip unterworfen ist. Die äußere, spiegelbildlich aufgebaute Struktur der Kapitelabfolge scheint die Detailfülle zu bändigen und tatsächlich in eine harmonische Anordnung zu überführen, wie sie dem Minbar des Saladin zugrunde lag. Aber im Inneren des Romans, auf der Handlungsebene, herrschen ganz andere Kräfte: die des Zufalls und des Chaos. Das ist nur folgerichtig, denn die Geschichte, die McCann erzählen will, ist eine Geschichte, in der Schmerz und Leid willkürlich und unvorhersehbar über die Menschen kommen, in der Opfer sich in Täter verwandeln und Täter zu Opfern werden. Das Chaos sei der Motor Israels, heißt es an einer Stelle des Romans. Deshalb muss das Chaos auch der Motor dieses Buches sein.
Im Zentrum von "Apeirogon" stehen zwei ungleiche Zwillinge: Rami ist Israeli, als Grafikdesigner erfolgreich und Vater von Smadar, die als Dreizehnjährige ums Leben kommt, als palästinensische Selbstmordattentäter sich in einer Einkaufsstraße in die Luft sprengen. Bassam lebt mit seiner palästinensischen Familie in den besetzten Gebieten und ist der Vater der kleinen Abir, die vor ihrer Schule vom Gummigeschoss eines israelischen Grenzpolizisten tödlich am Kopf getroffen wird, als sie zehn Jahre alt ist. Zwei tote Kinder stehen zwischen den Vätern und ein Konflikt, der einen Teil der Welt in ein Pulverfass verwandelt hat. Was der Israeli und der Palästinenser gemeinsam haben, sind Schmerz, Ohnmacht, Hass, Rachedurst, Verzweiflung. Darüber werden Bassam und Rami zu Freunden, zu Brüdern.
Nein, realistisch klingt das nicht, aber es ist eine wahre Geschichte. "Apeirogon" ist ein Hybrid-Roman, wie sein Autor sagt: Er handelt von realen Figuren, die in historischen Situationen agieren, fügt aber Fiktives und Spekulatives hinzu. McCann beschreibt, was war, und erfindet hinzu, was hätte sein können. Er hat nicht nur die wahre Geschichte der trauernden Väter recherchiert, die gemeinsam bei Friedensorganisationen wie "Combatants for Peace" für Versöhnung eintraten, sondern greift zahlreiche Aspekte des Nahost-Konflikts auf. Dieser großartige Roman lebt von Schlagzeilen, Wikipedia-Einträgen, Augenzeugenberichten, absurden, kaum glaubhaften Alltagsdetails, dem Wissen aus Geschichtsbüchern und aus Archiven. Vor allem aber lebt er von dem Willen, Schmerz in Trost, Verzweiflung in Hoffnung und Hass in Freundschaft zu verwandeln.
McCann löst die Chronologie des Geschehens auf, wechselt die Perspektiven, arbeitet mit zahllosen Rückblenden und lässt fast keine sich anbietende Abzweigung unbeachtet. "Apeirogon" ist ein Roman wie ein Kaleidoskop: erschaffen, um durcheinandergeschüttelt zu werden. Man kann sich dieses Buch wie ein Epos vorstellen, das ein verzweifelter Dichter mit einem Vorschlaghammer zertrümmert hat. Dann kam ein anderer, nicht weniger verrückter Dichter und schuf aus den 1001 Scherben einen Roman. Er nannte ihn "Apeirogon": eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten. Beide Dichter heißen Colum McCann. Jorge Luis Borges, der blinde Dichter, der in den siebziger Jahren mit einem Fes auf dem Kopf aus dem muslimischen Teil Jerusalems durch den jüdischen Teil der Stadt spazierte, hat einmal gesagt, dass zwei einander gegenüberstehende Spiegel genügten, um ein Labyrinth zu erschaffen. Mit Vernunft allein ist ihm nicht zu entkommen.
Colum McCann: "Apeirogon". Roman.
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 608 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Roman wie ein Kaleidoskop und wie von zwei verrückten Dichtern geschrieben: Colum McCann erzählt in "Apeirogon" vom Nahost-Konflikt.
Von Hubert Spiegel
Acht Jahrhunderte hat Saladins Minbar in der Al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg überdauert. Dann reiste ein geistig verwirrter Fanatiker von Australien nach Jerusalem, übergoss die hölzerne Gebetskanzel mit Benzin und zündete sie an. Ein einzigartiges Kunstwerk, das vielen Menschen in der islamischen Welt als heilig galt, war vernichtet.
Die kunstvolle Konstruktion aus dem zwölften Jahrhundert hatte ohne Nägel, Schrauben oder Leim das Gewicht vieler Generationen von Predigern getragen, aber niemand wusste, wie die sechzehntausend Einzelteile des Minbar ineinandergefügt waren. Handwerker aus aller Welt mussten sich zusammentun, damit in einer 37 Jahre währenden Anstrengung die Kanzel originalgetreu rekonstruiert werden konnte. Entscheidend dabei war ein beduinischer Bauingenieur, der herausgefunden hatte, dass "die vielen tausend Holzteile nicht von einem Rahmen, sondern allein durch ihre harmonische Anordnung zusammengehalten wurden".
Dem irischen Schriftsteller Colum McCann dient die Geschichte von Saladins Minbar als einer von zahllosen kleinen und kleinsten Splittern, aus denen er seinen jüngsten Roman zusammengesetzt hat. Er folgt dabei der titelgebenden geometrischen Figur namens Apeirogon und erschafft auf sechshundert Seiten eine Erzählstruktur, die ihrerseits streng geometrisch aufgebaut ist: Auf fünfhundert Kapitel mit aufsteigender Numerierung folgen fünfhundert Kapitel mit abnehmender Numerierung. Getrennt sind sie durch eine Art Nullpunkt, ein nicht beziffertes Kapitel, das exakt in der Mitte des Romans angesiedelt ist, so dass die Summe aller Kapitel die Zahl 1001 ergibt. Sie verweist vor allem auf die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die im Roman in unterschiedlichen Zusammenhängen erwähnt werden. Ein Beispiel von vielen: Als der Mossad 1973 in Rom einen palästinensischen Dichter liquidiert, der in das Attentat während der Olympischen Spiele von München verwickelt gewesen sein soll, dringen zwölf Kugeln in den Körper des Mannes ein. Das dreizehnte Projektil bleibt in dem Buch stecken, das der Dichter in der Brusttasche seines Jacketts trug. Es war eine Ausgabe der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die er ins Italienische übertragen wollte.
McCann webt ein raffiniertes Geflecht aus Leitmotiven, Assoziationen, Wiederholungen und Parallelismen, das indes nur auf den ersten Blick einem höheren Konstruktionsprinzip unterworfen ist. Die äußere, spiegelbildlich aufgebaute Struktur der Kapitelabfolge scheint die Detailfülle zu bändigen und tatsächlich in eine harmonische Anordnung zu überführen, wie sie dem Minbar des Saladin zugrunde lag. Aber im Inneren des Romans, auf der Handlungsebene, herrschen ganz andere Kräfte: die des Zufalls und des Chaos. Das ist nur folgerichtig, denn die Geschichte, die McCann erzählen will, ist eine Geschichte, in der Schmerz und Leid willkürlich und unvorhersehbar über die Menschen kommen, in der Opfer sich in Täter verwandeln und Täter zu Opfern werden. Das Chaos sei der Motor Israels, heißt es an einer Stelle des Romans. Deshalb muss das Chaos auch der Motor dieses Buches sein.
Im Zentrum von "Apeirogon" stehen zwei ungleiche Zwillinge: Rami ist Israeli, als Grafikdesigner erfolgreich und Vater von Smadar, die als Dreizehnjährige ums Leben kommt, als palästinensische Selbstmordattentäter sich in einer Einkaufsstraße in die Luft sprengen. Bassam lebt mit seiner palästinensischen Familie in den besetzten Gebieten und ist der Vater der kleinen Abir, die vor ihrer Schule vom Gummigeschoss eines israelischen Grenzpolizisten tödlich am Kopf getroffen wird, als sie zehn Jahre alt ist. Zwei tote Kinder stehen zwischen den Vätern und ein Konflikt, der einen Teil der Welt in ein Pulverfass verwandelt hat. Was der Israeli und der Palästinenser gemeinsam haben, sind Schmerz, Ohnmacht, Hass, Rachedurst, Verzweiflung. Darüber werden Bassam und Rami zu Freunden, zu Brüdern.
Nein, realistisch klingt das nicht, aber es ist eine wahre Geschichte. "Apeirogon" ist ein Hybrid-Roman, wie sein Autor sagt: Er handelt von realen Figuren, die in historischen Situationen agieren, fügt aber Fiktives und Spekulatives hinzu. McCann beschreibt, was war, und erfindet hinzu, was hätte sein können. Er hat nicht nur die wahre Geschichte der trauernden Väter recherchiert, die gemeinsam bei Friedensorganisationen wie "Combatants for Peace" für Versöhnung eintraten, sondern greift zahlreiche Aspekte des Nahost-Konflikts auf. Dieser großartige Roman lebt von Schlagzeilen, Wikipedia-Einträgen, Augenzeugenberichten, absurden, kaum glaubhaften Alltagsdetails, dem Wissen aus Geschichtsbüchern und aus Archiven. Vor allem aber lebt er von dem Willen, Schmerz in Trost, Verzweiflung in Hoffnung und Hass in Freundschaft zu verwandeln.
McCann löst die Chronologie des Geschehens auf, wechselt die Perspektiven, arbeitet mit zahllosen Rückblenden und lässt fast keine sich anbietende Abzweigung unbeachtet. "Apeirogon" ist ein Roman wie ein Kaleidoskop: erschaffen, um durcheinandergeschüttelt zu werden. Man kann sich dieses Buch wie ein Epos vorstellen, das ein verzweifelter Dichter mit einem Vorschlaghammer zertrümmert hat. Dann kam ein anderer, nicht weniger verrückter Dichter und schuf aus den 1001 Scherben einen Roman. Er nannte ihn "Apeirogon": eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten. Beide Dichter heißen Colum McCann. Jorge Luis Borges, der blinde Dichter, der in den siebziger Jahren mit einem Fes auf dem Kopf aus dem muslimischen Teil Jerusalems durch den jüdischen Teil der Stadt spazierte, hat einmal gesagt, dass zwei einander gegenüberstehende Spiegel genügten, um ein Labyrinth zu erschaffen. Mit Vernunft allein ist ihm nicht zu entkommen.
Colum McCann: "Apeirogon". Roman.
Aus dem Englischen von Volker Oldenburg.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 608 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nothing like any book you've ever read ... Think of discovering an entirely unprecedented, and profoundly true, narrative form. Think about feeling that the very idea of the novel, of what it can be and what it's capable of containing, has been expanded, forever ... All I can really tell you is, read McCann's book. It's an important book