Die Offenbarung des Johannes gibt viele Rätsel auf: Was bedeutet die Zahl 666? Wer ist die große Hure Babylon? Wie kündigt sich das Weltende an? Und wer hat das Buch überhaupt geschrieben? Elaine Pagels betrachtet die Schrift im Vergleich mit anderen frühchristlichen Apokalypsen, erklärt ihre einzigartige politische Bedeutung und bietet so einen neuen Schlüssel zum Verständnis des geheimnisvollsten Buches der Bibel. Das Buch mit den sieben Siegeln und die Apokalyptischen Reiter, die Synagoge des Satan und das Lamm Gottes, das Tausendjährige Reich, der kosmische Endkampf und das Jüngste Gericht: Was wäre das Christentum ohne diese Bilder, Hoffnungen und Ängste, die sich alle in der Offenbarung des Johannes finden? Und doch galt dieses ursprünglich jüdische Buch lange als häretisch. Elaine Pagels zeigt, wie es am Ende des ersten Jahrhunderts entstanden ist, wer die Anhänger der unterschiedlichen Offenbarungen waren und warum ihre Schriften unterdrückt und bis zu ihrer Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert vergessen wurden. Was die Johannes-Apokalypse als einzige rettete, war ihre flexible politische Einsetzbarkeit: Die "Bösen" waren ursprünglich die Anhänger des Apostels Paulus, konnten aber auch die Juden, Römer, Häretiker oder Heiden sein. Krieg, Verfolgung und Katastrophen erhalten durch die Apokalypse plötzlich einen Sinn. Gerade das macht sie bis heute zum allergefährlichsten Buch der Bibel.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2013Was hat dieser Wutbürger hier zu suchen?
Antike Offenbarungstexte gab es viele, aber dieser eine wurde in die Heilige Schrift aufgenommen: Die Religionsgeschichtlerin Elaine Pagels liest die Apokalypse des Johannes als Text einer Kriegszeit, der besser gar nicht in der Bibel stünde.
Kaum ein biblisches Buch fasziniert so wie die Apokalypse des Johannes. Die machtvollen Bilder von den sieben Posaunen, den apokalyptischen Reitern oder der Hure Babylon wurden immer wieder auf konkrete historische Situationen bezogen. Ob in den Bauernkriegen der Reformationszeit, bei den napoleonischen Feldzügen oder nach den Ereignissen des 11. September 2001 - das schroffe Gegenüber zwischen Gott und Satan bietet einen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. Gerade durch die polyvalente Bildwelt der Johannesoffenbarung und den klaren Dualismus wird eine Krisensituation in all ihrer Komplexität auf eine klare Formel reduziert: Wo andere angesichts der Katastrophe verstummen, weiß der Apokalyptiker die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Elaine Pagels, Professorin für Religionsgeschichte in Princeton, nähert sich der Offenbarung des Johannes mit großer Skepsis und unter historischem Blickwinkel. Immer wieder zieht sie Vergleiche zur amerikanischen Geschichte, sei es zum Unabhängigkeitskrieg oder zur Rede von der "Achse des Bösen", um die Problematik dieses "gefährlichsten Buches" der Bibel vor Augen zu führen. Ausgangspunkt ist die Frage, wer dieses Buch geschrieben hat und wie es überhaupt Teil der Bibel werden konnte, obwohl es doch zahlreiche andere Offenbarungstexte gab, denen Pagels - wie zu zeigen sein wird - erheblich mehr Sympathie entgegenbringt.
Diese Frage wird mittels einer rein historischen Lesart der Johannesoffenbarung angegangen. Wo die neutestamentliche Forschung höchst differenziert über die literarische Struktur des Textes, die Theologie des Johannes und den komplexen soziokulturellen Hintergrund des Textes diskutiert, bietet Pagels klare Antworten: Johannes war ein Jude, der um 90 nach Christus wegen eines Kriegs in seiner Heimat Judäa auf die Insel Patmos vor der kleinasiatischen Küste floh und dort seine Visionen hatte. Dementsprechend ist die Johannesoffenbarung ein "Text aus einer Kriegszeit" mit konkreten zeitgeschichtlichen Bezügen: Die vier apokalyptischen Reiter in Offb 6,1-8 beziehen sich auf die Ereignisse des Jahres 68 nach Christus, als nacheinander vier römische Kaiser gekrönt und ermordet wurden, der große Berg, der beim Ertönen der zweiten Posaune ins Meer stürzte (Offb 8,8 f.), war der Vesuv, der 79 nach Christus ausgebrochen ist, und mit der Zahl 666 in Offb 13,18 ist Kaiser Nero gemeint. Im Zuge dieser zeitgeschichtlichen Interpretation erscheint Johannes nicht als theologisch gebildeter Prophet, sondern als emotionaler Einzelgänger.
Selbst aus der jüdischen Tradition stammend und nicht des Hochgriechischen mächtig, saß er nach seiner traumatischen Flucht aus Jerusalem im Jahr 70, als die Römer den Tempel zerstörten, in Kleinasien und wartete auf die Rückkehr Jesu, den er als Messias verehrte. Die römische Monumentalarchitektur eines Augustus, Nero oder Tiberius wirkte auf ihn, folgt man Elaine Pagels, wie eine "teuflische Parodie auf die Wahrheit Gottes", so dass er, "von Rachegedanken erfüllt", sich der heiligen Schriften Israels erinnerte und einen Text verfasste, der immer mehr in das Zentrum des antiken Christentums rückte und schließlich zum letzten Buch der Bibel wurde.
Elaine Pagels geht es in ihrem Buch um die große Linie. Sie spannt einen inhaltlichen Bogen von den alttestamentlichen Propheten über Johannes und seine Offenbarungsschrift bis zur Einführung des Christentums als Staatsreligion unter Konstantin dem Großen im vierten Jahrhundert. Allein dies zeigt schon, dass entgegen dem deutschen Buchtitel nicht die komplexe Bildwelt der Johannesoffenbarung im Vordergrund steht; diese wird nur im ersten von fünf Kapiteln ausgedeutet. Pagels folgt vielmehr streng ihrer Grundthese, auch wenn dies eine Reduktion des Blickwinkels bedeutet. So werden die alttestamentlichen Bezüge der Johannesoffenbarung auf den Kampf zwischen Gut und Böse als Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Chaos-Drachen reduziert, obwohl gerade dieses Thema im Alten Testament nur am Rande vorkommt.
Andere Bezüge, die belegen, dass die Bildwelt der Johannesoffenbarung eben nicht Punkt für Punkt historisch gelesen werden kann, sondern Johannes wichtige Motive alttestamentlicher Prophetie aufgreift, werden nicht thematisiert (zum Beispiel die vier Tiere in Daniel 7, vgl. Offb 13,1-4, oder der Ansturm von Gog und Magog in Hesekiel 38-39, vgl. Offb 20,7-10). Pagels will jedoch den Nachweis führen, dass die Johannesoffenbarung ein "Text aus einer Kriegszeit" ist, mit einer "wütenden Rhetorik". Diese speist sich aus einer doppelten Abgrenzung: gegen Rom als Reich des Bösen und gegen andere Anhänger Jesu, vor allem aus dem Kreis des Paulus.
Damit ist der Boden bereitet für Pagels' eigentliches Thema: Warum wurde die Vision dieses in seiner Bildwelt geradezu brutalen Propheten überhaupt in die Bibel aufgenommen, wenn es doch zahlreiche andere Offenbarungen gab, die wesentlich geeigneter gewesen wären? Elaine Pagels widmet ein ganzes Kapitel dem Textmaterial von Nag Hammadi und bewegt sich damit im Fahrwasser ihrer eigenen Forschungen. Pagels gilt zu Recht als internationale Spezialistin für die 1945 im ägyptischen Nag Hammadi gefundenen Handschriften.
Die Texte, die zum Teil sogar Ende des ersten Jahrhunderts und damit zeitlich nicht weit entfernt von der Johannesoffenbarung entstanden sind, belegen eine Tradition, die bei der Göttlichkeit des Menschen ansetzt und so auch heute noch ein Vorbild für spirituell Suchende sein kann: "Es kommt nicht auf die intellektuellen Fähigkeiten an, sondern auf einen inneren Zustand der Erkenntnis und der wahren Einsicht." An diesem Punkt wird deutlich, wie stark Pagels' bisherige Forschungen zur Gnosis und zum Buddhismus das vorliegende Buch prägen. Denn auf einer Tiefenebene schwingt die These mit, dass durchaus die Möglichkeit bestand, die Geschichte des Christentums anders zu schreiben, sofern man die Texte aus Nag Hammadi mit einbezogen hätte. Jedoch führten die politischen Ereignisse des späten zweiten bis vierten Jahrhunderts zu einer Bevorzugung der Offenbarung des Johannes gegenüber den anderen Offenbarungsbüchern, denn die Christen sahen ihre eigene krisenhafte Situation in der Johannesoffenbarung beschrieben.
Das Buch ist das Werk einer Historikerin, das doch zu sehr an der Oberfläche bleibt, in vielen Details ungenau ist. In ihrem Verständnis des Johannes greift Elaine Pagels eine These ihrer neutestamentlichen Kollegin Adela Yabro Collins (Yale) auf, die angesichts dessen, dass man nicht mehr von einer großen Christenverfolgung unter Domitian sprechen kann und sich die christlichen und jüdischen Gruppen im ersten Jahrhundert mit der römischen Kultur weitgehend arrangiert hatten, auf die subjektiv empfundene Krise des Johannes verweist. Mag diese Krise auch durch Ausgrenzungserfahrungen hervorgerufen sein, Johannes erscheint als Integrationsverweigerer gegenüber der reichsrömisch-kleinasiatischen Welt, der in der Darstellung von Elaine Pagels zum Wüterich mutiert. Da scheint es konsequent, dass Pagels die komplexe Theologie der Johannesoffenbarung mit ihrer theokratischen Zuspitzung nicht beschreibt. Das heilvolle Ende der Schreckensvisionen wird nur am Rande erwähnt, obwohl der Text gerade in der Vorstellung des himmlischen Jerusalems (Offb 21) sein inhaltliches Ziel findet.
Auf diese Weise wird die Offenbarung des Johannes zum Produkt eines antiken Wutbürgers, dessen Visionen im Laufe der Jahrhunderte eine "religiöse Wut bestärkt" haben, wie Johannes sie selbst empfand: "Die Wut derer, die unterdrückt werden und auf Rache sinnen, gegen jene, die ihr Volk foltern und töten." Das Problem ist, dass sich dies für das Jahr 90 nach Christus, in dem Pagels zufolge Johannes seine Offenbarung geschrieben hat, historisch nicht plausibel machen lässt. Doch bei allem historischen Anstrich der Argumentation geht es Pagels letztlich um mehr. Sie will eine möglichst bruchlose Linie aufzeigen zwischen dem religiösen Eiferer Johannes und allen späteren religiösen Fanatikern der Kirchengeschichte, die sich auf die Offenbarung des Johannes beziehen.
Elaine Pagels hat ein sehr amerikanisches Buch geschrieben. Es setzt mit einer Anspielung auf die in den Vereinigten Staaten populären "Left Behind"-Romane von Tim LaHaye (F.A.Z. vom 27. März 2002) ein und schließt mit der Aufforderung an die Leser, auf die "eigene Stimme zu hören" und "nach neuen Offenbarungen zu suchen". Bedauerlich ist, dass die von Pagels sprachlich brillante und von Rita Seuß kongenial übersetzte Darstellung an vielen Punkten ungenau ist. Dabei fällt nicht weiter ins Gewicht, dass Pagels Klischees bemüht (so war Kleopatra natürlich "frühreif, hochintelligent und von unwiderstehlicher Anziehungskraft"). Lästig sind die vielen Ungenauigkeiten, wie etwa jene, dass der Prophet Ezechiel im Jahr 592 bereits die Zerstörung des Jerusalemer Tempels miterlebt hatte - die erst fünf Jahre später stattfand.
Doch spielt dies alles keine Rolle angesichts des Credos der Autorin: Das Christentum hätte die Möglichkeit gehabt, aus dem Pool antiker Offenbarungen etwas anderes in die Bibel aufzunehmen als die Johannesoffenbarung, etwas, das dem heutigen spirituell suchenden Menschen viel näher kommt. Darüber lässt sich trefflich streiten. Das letzte Buch der Bibel aber ist noch lange nicht entschlüsselt.
BERND U. SCHIPPER
Elaine Pagels: "Apokalypse". Das letzte Buch der Bibel wird entschlüsselt.
Aus dem Englischen von Rita Seuß. C. H. Beck Verlag, München 2013. 219 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Antike Offenbarungstexte gab es viele, aber dieser eine wurde in die Heilige Schrift aufgenommen: Die Religionsgeschichtlerin Elaine Pagels liest die Apokalypse des Johannes als Text einer Kriegszeit, der besser gar nicht in der Bibel stünde.
Kaum ein biblisches Buch fasziniert so wie die Apokalypse des Johannes. Die machtvollen Bilder von den sieben Posaunen, den apokalyptischen Reitern oder der Hure Babylon wurden immer wieder auf konkrete historische Situationen bezogen. Ob in den Bauernkriegen der Reformationszeit, bei den napoleonischen Feldzügen oder nach den Ereignissen des 11. September 2001 - das schroffe Gegenüber zwischen Gott und Satan bietet einen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. Gerade durch die polyvalente Bildwelt der Johannesoffenbarung und den klaren Dualismus wird eine Krisensituation in all ihrer Komplexität auf eine klare Formel reduziert: Wo andere angesichts der Katastrophe verstummen, weiß der Apokalyptiker die Zeichen der Zeit zu erkennen.
Elaine Pagels, Professorin für Religionsgeschichte in Princeton, nähert sich der Offenbarung des Johannes mit großer Skepsis und unter historischem Blickwinkel. Immer wieder zieht sie Vergleiche zur amerikanischen Geschichte, sei es zum Unabhängigkeitskrieg oder zur Rede von der "Achse des Bösen", um die Problematik dieses "gefährlichsten Buches" der Bibel vor Augen zu führen. Ausgangspunkt ist die Frage, wer dieses Buch geschrieben hat und wie es überhaupt Teil der Bibel werden konnte, obwohl es doch zahlreiche andere Offenbarungstexte gab, denen Pagels - wie zu zeigen sein wird - erheblich mehr Sympathie entgegenbringt.
Diese Frage wird mittels einer rein historischen Lesart der Johannesoffenbarung angegangen. Wo die neutestamentliche Forschung höchst differenziert über die literarische Struktur des Textes, die Theologie des Johannes und den komplexen soziokulturellen Hintergrund des Textes diskutiert, bietet Pagels klare Antworten: Johannes war ein Jude, der um 90 nach Christus wegen eines Kriegs in seiner Heimat Judäa auf die Insel Patmos vor der kleinasiatischen Küste floh und dort seine Visionen hatte. Dementsprechend ist die Johannesoffenbarung ein "Text aus einer Kriegszeit" mit konkreten zeitgeschichtlichen Bezügen: Die vier apokalyptischen Reiter in Offb 6,1-8 beziehen sich auf die Ereignisse des Jahres 68 nach Christus, als nacheinander vier römische Kaiser gekrönt und ermordet wurden, der große Berg, der beim Ertönen der zweiten Posaune ins Meer stürzte (Offb 8,8 f.), war der Vesuv, der 79 nach Christus ausgebrochen ist, und mit der Zahl 666 in Offb 13,18 ist Kaiser Nero gemeint. Im Zuge dieser zeitgeschichtlichen Interpretation erscheint Johannes nicht als theologisch gebildeter Prophet, sondern als emotionaler Einzelgänger.
Selbst aus der jüdischen Tradition stammend und nicht des Hochgriechischen mächtig, saß er nach seiner traumatischen Flucht aus Jerusalem im Jahr 70, als die Römer den Tempel zerstörten, in Kleinasien und wartete auf die Rückkehr Jesu, den er als Messias verehrte. Die römische Monumentalarchitektur eines Augustus, Nero oder Tiberius wirkte auf ihn, folgt man Elaine Pagels, wie eine "teuflische Parodie auf die Wahrheit Gottes", so dass er, "von Rachegedanken erfüllt", sich der heiligen Schriften Israels erinnerte und einen Text verfasste, der immer mehr in das Zentrum des antiken Christentums rückte und schließlich zum letzten Buch der Bibel wurde.
Elaine Pagels geht es in ihrem Buch um die große Linie. Sie spannt einen inhaltlichen Bogen von den alttestamentlichen Propheten über Johannes und seine Offenbarungsschrift bis zur Einführung des Christentums als Staatsreligion unter Konstantin dem Großen im vierten Jahrhundert. Allein dies zeigt schon, dass entgegen dem deutschen Buchtitel nicht die komplexe Bildwelt der Johannesoffenbarung im Vordergrund steht; diese wird nur im ersten von fünf Kapiteln ausgedeutet. Pagels folgt vielmehr streng ihrer Grundthese, auch wenn dies eine Reduktion des Blickwinkels bedeutet. So werden die alttestamentlichen Bezüge der Johannesoffenbarung auf den Kampf zwischen Gut und Böse als Auseinandersetzung zwischen Gott und dem Chaos-Drachen reduziert, obwohl gerade dieses Thema im Alten Testament nur am Rande vorkommt.
Andere Bezüge, die belegen, dass die Bildwelt der Johannesoffenbarung eben nicht Punkt für Punkt historisch gelesen werden kann, sondern Johannes wichtige Motive alttestamentlicher Prophetie aufgreift, werden nicht thematisiert (zum Beispiel die vier Tiere in Daniel 7, vgl. Offb 13,1-4, oder der Ansturm von Gog und Magog in Hesekiel 38-39, vgl. Offb 20,7-10). Pagels will jedoch den Nachweis führen, dass die Johannesoffenbarung ein "Text aus einer Kriegszeit" ist, mit einer "wütenden Rhetorik". Diese speist sich aus einer doppelten Abgrenzung: gegen Rom als Reich des Bösen und gegen andere Anhänger Jesu, vor allem aus dem Kreis des Paulus.
Damit ist der Boden bereitet für Pagels' eigentliches Thema: Warum wurde die Vision dieses in seiner Bildwelt geradezu brutalen Propheten überhaupt in die Bibel aufgenommen, wenn es doch zahlreiche andere Offenbarungen gab, die wesentlich geeigneter gewesen wären? Elaine Pagels widmet ein ganzes Kapitel dem Textmaterial von Nag Hammadi und bewegt sich damit im Fahrwasser ihrer eigenen Forschungen. Pagels gilt zu Recht als internationale Spezialistin für die 1945 im ägyptischen Nag Hammadi gefundenen Handschriften.
Die Texte, die zum Teil sogar Ende des ersten Jahrhunderts und damit zeitlich nicht weit entfernt von der Johannesoffenbarung entstanden sind, belegen eine Tradition, die bei der Göttlichkeit des Menschen ansetzt und so auch heute noch ein Vorbild für spirituell Suchende sein kann: "Es kommt nicht auf die intellektuellen Fähigkeiten an, sondern auf einen inneren Zustand der Erkenntnis und der wahren Einsicht." An diesem Punkt wird deutlich, wie stark Pagels' bisherige Forschungen zur Gnosis und zum Buddhismus das vorliegende Buch prägen. Denn auf einer Tiefenebene schwingt die These mit, dass durchaus die Möglichkeit bestand, die Geschichte des Christentums anders zu schreiben, sofern man die Texte aus Nag Hammadi mit einbezogen hätte. Jedoch führten die politischen Ereignisse des späten zweiten bis vierten Jahrhunderts zu einer Bevorzugung der Offenbarung des Johannes gegenüber den anderen Offenbarungsbüchern, denn die Christen sahen ihre eigene krisenhafte Situation in der Johannesoffenbarung beschrieben.
Das Buch ist das Werk einer Historikerin, das doch zu sehr an der Oberfläche bleibt, in vielen Details ungenau ist. In ihrem Verständnis des Johannes greift Elaine Pagels eine These ihrer neutestamentlichen Kollegin Adela Yabro Collins (Yale) auf, die angesichts dessen, dass man nicht mehr von einer großen Christenverfolgung unter Domitian sprechen kann und sich die christlichen und jüdischen Gruppen im ersten Jahrhundert mit der römischen Kultur weitgehend arrangiert hatten, auf die subjektiv empfundene Krise des Johannes verweist. Mag diese Krise auch durch Ausgrenzungserfahrungen hervorgerufen sein, Johannes erscheint als Integrationsverweigerer gegenüber der reichsrömisch-kleinasiatischen Welt, der in der Darstellung von Elaine Pagels zum Wüterich mutiert. Da scheint es konsequent, dass Pagels die komplexe Theologie der Johannesoffenbarung mit ihrer theokratischen Zuspitzung nicht beschreibt. Das heilvolle Ende der Schreckensvisionen wird nur am Rande erwähnt, obwohl der Text gerade in der Vorstellung des himmlischen Jerusalems (Offb 21) sein inhaltliches Ziel findet.
Auf diese Weise wird die Offenbarung des Johannes zum Produkt eines antiken Wutbürgers, dessen Visionen im Laufe der Jahrhunderte eine "religiöse Wut bestärkt" haben, wie Johannes sie selbst empfand: "Die Wut derer, die unterdrückt werden und auf Rache sinnen, gegen jene, die ihr Volk foltern und töten." Das Problem ist, dass sich dies für das Jahr 90 nach Christus, in dem Pagels zufolge Johannes seine Offenbarung geschrieben hat, historisch nicht plausibel machen lässt. Doch bei allem historischen Anstrich der Argumentation geht es Pagels letztlich um mehr. Sie will eine möglichst bruchlose Linie aufzeigen zwischen dem religiösen Eiferer Johannes und allen späteren religiösen Fanatikern der Kirchengeschichte, die sich auf die Offenbarung des Johannes beziehen.
Elaine Pagels hat ein sehr amerikanisches Buch geschrieben. Es setzt mit einer Anspielung auf die in den Vereinigten Staaten populären "Left Behind"-Romane von Tim LaHaye (F.A.Z. vom 27. März 2002) ein und schließt mit der Aufforderung an die Leser, auf die "eigene Stimme zu hören" und "nach neuen Offenbarungen zu suchen". Bedauerlich ist, dass die von Pagels sprachlich brillante und von Rita Seuß kongenial übersetzte Darstellung an vielen Punkten ungenau ist. Dabei fällt nicht weiter ins Gewicht, dass Pagels Klischees bemüht (so war Kleopatra natürlich "frühreif, hochintelligent und von unwiderstehlicher Anziehungskraft"). Lästig sind die vielen Ungenauigkeiten, wie etwa jene, dass der Prophet Ezechiel im Jahr 592 bereits die Zerstörung des Jerusalemer Tempels miterlebt hatte - die erst fünf Jahre später stattfand.
Doch spielt dies alles keine Rolle angesichts des Credos der Autorin: Das Christentum hätte die Möglichkeit gehabt, aus dem Pool antiker Offenbarungen etwas anderes in die Bibel aufzunehmen als die Johannesoffenbarung, etwas, das dem heutigen spirituell suchenden Menschen viel näher kommt. Darüber lässt sich trefflich streiten. Das letzte Buch der Bibel aber ist noch lange nicht entschlüsselt.
BERND U. SCHIPPER
Elaine Pagels: "Apokalypse". Das letzte Buch der Bibel wird entschlüsselt.
Aus dem Englischen von Rita Seuß. C. H. Beck Verlag, München 2013. 219 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die Untersuchung der Johannes-Offenbarung durch die Gnostik-Forscherin Elaine Pagels liest Otto Kallscheuer vor dem Hintergrund bekannter Trennungskonflikte zwischen Juden, Judenchristen und Heidenchristen. Die Behauptung, dass Johannes in Chiffren die eigene Gegenwart dokumentiert, wie ihm die Autorin erläutert, möchte Kallscheuer zwar mit Vorsicht genießen. Pagels' gleichsam Kirche und Klerus ausstechendes Eintreten für einige aus der Frühphase des Christentums stammenden apokryphen Alternativen zur orthodoxen Auslegung jüdischer oder jesuanischer Heilsbotschaften scheinen ihm jedoch sympathisch zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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