Vergewaltigung als Waffe im Krieg!Es gibt Ereignisse im Leben, die wir lieber vergessen würden. Aber haben wir das Recht dazu?Appartement 102 war der Raum im KZ Omarska, Bosnien, in dem Jadranka Cigelj mit siebzehn weiteren Frauen acht Wochen gefangen gehalten und gefoltert wurde. Schonungslos offen schildert sie das tägliche Leben und Überleben in einer entmenschlichten Wirklichkeit, in der Folter, Vergewaltigung und das Töten mit Messern und Fäusten, ausgeführt von ehemaligen Nachbarn und Kollegen, zum Alltag gehörten. Einem Alltag, regiert von Willkür und Gewalt, in dem die Angst als das einzig noch Verlässliche erscheint. Und sie erzählt vom trotzigen Kampf der Frauen an diesem Ort, in sich ein menschliches Antlitz zu bewahren. Denn es ist auch die wahre Geschichte zweier Menschen, die ihr ganzes Leben nach der Liebe suchten und die ihnen dort begegnet ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2007Chrysanthemen vom künftigen Peiniger
Jadranka Cigelj überlebte "mit schmerzhaft geschärften Sinnen" ein Folterlager der bosnischen Serben
Wenn die großen Verbrechen begangen sind, bleiben Zahlen. Nach dem Zweiten Weltkrieg legte die Sowjetunion fest, dass durch die deutsche Belagerung Leningrads 632 253 Zivilisten zu Tode gekommen seien. Wissenschaftler haben diese von Moskau aus politischen Gründen stark untertriebene Zahl, die auch bei den Nürnberger Prozessen verwendet wurde, später korrigiert. Heute gilt es als wahrscheinlich, dass bis zu 1,3 Millionen Zivilisten innerhalb des Belagerungsrings umkamen. Doch weder die eine noch die andere Zahl können uns Maßgebliches über den Massenmord an den Leningradern sagen. Eine Stimme bekam das Verbrechen erst Jahre und Jahrzehnte später: Durch Lidia Ginsburgs Aufzeichnungen eines Blockademenschen, dank Dmitri Lichatschows Lebenserinnerungen an Hunger und Terror oder mit Daniil Granins gesammelten Erlebnissen von Blockadeüberlebenden.
In Bosnien-Hercegovina, wo von 1992 bis 1995 der größte Krieg tobte, den Europa nach 1945 erlebte, war es ähnlich: Am Anfang standen falsche Zahlen. Lange machte die von (muslimischen) Bosniaken in die Welt gesetzte - und dann von ausländischen Journalisten in gutem Glauben verbreitete - Zahl von 250 000 Todesopfern des bosnischen Krieges die Runde. Wissenschaftler haben diese aus politischen Gründen übertriebene Zahl später korrigiert. Laut neuesten Forschungen sind im Bosnien-Krieg etwa 100 000 Soldaten und Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben. Aber auch diese Zahlen sagen uns fast nichts über den Krieg in dem Balkanstaat. Erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach dem unvollkommenen Friedensschluss von Dayton, bekommt das Morden in Bosnien Stimmen. Durch die Regisseurin Jasmila Zbanic etwa, deren Film über das Leben einer im Krieg vergewaltigten Bosniakin und ihrer Tochter im vergangenen Jahr bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Oder durch das nun vorliegende Buch von Jadranka Cigelj, das ebenfalls geeignet ist, dem Zahlenwerk der Kriegsstatistik durch die Schilderung von Einzelschicksalen Substanz zu verleihen. In "Appartement 102 Omarska" berichtet Frau Cigelj von ihrem Überleben in einem von Serben betriebenen Folterlager, in dem etwa 3000 Männer gequält und getötet wurden. Außer den Männern wurden auch 37 Frauen in dem ehemaligen Bergwerk Omarska in der Nähe der bosnischen Stadt Prijedor festgehalten, von denen die meisten wie die Chronistin immerhin mit dem Leben davonkamen - oder mit dem, was ihnen davon noch blieb nach der physischen und vor allem psychischen Tortur. Einige ihrer Peiniger waren Frau Cigelj persönlich bekannt: in friedlichen Zeiten waren es Kollegen, Nachbarn oder Mitpassagiere in öffentlichen Verkehrsmitteln. Allesamt scheinbar wohlerzogene Leute, die in anderen Zeiten im lokalen Chor den Bass sangen, Magisterarbeiten in der Schweiz schrieben und zu Besuch Chrysanthemen mitbrachten. Durch den Krieg und den Zufall ihrer Geburt als Serben wurden sie zu Herren über Leben und Tod ihrer früheren Nachbarn, die zufällig keine Serben waren. Bei einigen brach ein Hang zum Sadismus hervor. "Mit schmerzhaft geschärften Sinnen" überlebte Frau Cigelj in dieser Welt, und auf diese Weise hat sie sich Jahre später auch daran erinnert, um es festzuhalten. Dies ist ein Sachbuch, aber die Sprache ist von literarischer Qualität. Mit einer stellenweise nur schwer zu ertragenden Eindringlichkeit beschreibt die Autorin den Verlauf ihres Martyriums in Nordwestbosnien, das für sie 55 Tage dauerte und ein Leben dauern wird. Sie schildert die psychologischen Überlebensstrategien, denen die gefangenen Frauen folgten, um nicht wahnsinnig zu werden. Dazu gehörte die eingebildete Bejahung des durch Folterungen erlittenen Schmerzes: "Der Schmerz, der bis dahin jede meiner Bewegungen blockierte, begann mich zu trösten. Er weitete sich aus und gab mir eine merkwürdige Sicherheit. Er war bekannt. Er gehörte zu mir und ich hatte ihn letzte Nacht kennengelernt. Die Uniform war das Unbekannte." Sie erinnert sich an das naive Hoffen der Verzweifelten auf ein Wunder: "Ich begriff nicht, dass es nicht die Zeit für Wunder war. Es gab nur die Zeit der Serben."
Zur Zeit der Serben wurden die Jahre bis 1995 auch deshalb, weil das Ausland nicht oder nur zum Schein eingriff in diesen Krieg, der nicht nur, aber ganz wesentlich ein Vertreibungsfeldzug Belgrads und seiner zum Teil sehr eigenständig agierenden bosnisch-serbischen Handlanger war. Vollends gespenstisch werden die Beschreibungen von Frau Cigelj, wenn man sich dazu die Bosnien-Debatten in Erinnerung ruft, die just zu jener Zeit in den Parlamenten der Welt stattfanden, als Menschen in Omarska gefoltert und getötet wurden. Während sich vor allem im Osten Bosniens, an der Drina, eine Stadt nach der anderen in ein Schlachthaus für Muslime verwandelte, wurde in den europäischen Hauptstädten, in London vor allem, nicht selten die Meinung geäußert, dass "dort unten" irgendwie alle gleichermaßen schuld seien und "die Kriegsparteien" endlich zur Vernunft kommen müssten.
In Deutschland waren es gerade linke Parteien und Kräfte, die sich mit einem Hinweis auf die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangenen oder geförderten Verbrechen gegen ein Eingreifen der Bundeswehr wandten. Der Sarkasmus dieser Haltung ist unübertrefflich, und so muss sich dem deutschen Leser denn auch bei dieser Lektüre wieder einmal der Gedanke aufdrängen, wie wohlfeil die politisch korrekte Nie-wieder-Litanei als inoffizielles Leitmotiv der Bundesrepublik gerade für jene war, die sie am lautesten vorbeteten. Es wird, auch das ist eine trübe Lehre aus Jadranka Cigeljs Buch, immer wieder ein "wieder" geben, und man kann realistischerweise wohl nur die Hoffnung hegen, wenigstens in Europa ließen sich die Abstände zwischen solchen Rückfällen möglichst groß halten. Jadranka Cigeljs Buch ist die verstörende Aufzeichnung eines solchen Rückfalls, der sich ereignete in Zeiten, als die Welt angeblich schon ein globales Dorf war.
MICHAEL MARTENS
Jadranka Cigelj: Appartement 102 Omarska. Ein Zeitzeugnis. Herausgegeben von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Deutsche Sektion e. V. Diametric Verlag, Würzburg 2007. 234 S., 14,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jadranka Cigelj überlebte "mit schmerzhaft geschärften Sinnen" ein Folterlager der bosnischen Serben
Wenn die großen Verbrechen begangen sind, bleiben Zahlen. Nach dem Zweiten Weltkrieg legte die Sowjetunion fest, dass durch die deutsche Belagerung Leningrads 632 253 Zivilisten zu Tode gekommen seien. Wissenschaftler haben diese von Moskau aus politischen Gründen stark untertriebene Zahl, die auch bei den Nürnberger Prozessen verwendet wurde, später korrigiert. Heute gilt es als wahrscheinlich, dass bis zu 1,3 Millionen Zivilisten innerhalb des Belagerungsrings umkamen. Doch weder die eine noch die andere Zahl können uns Maßgebliches über den Massenmord an den Leningradern sagen. Eine Stimme bekam das Verbrechen erst Jahre und Jahrzehnte später: Durch Lidia Ginsburgs Aufzeichnungen eines Blockademenschen, dank Dmitri Lichatschows Lebenserinnerungen an Hunger und Terror oder mit Daniil Granins gesammelten Erlebnissen von Blockadeüberlebenden.
In Bosnien-Hercegovina, wo von 1992 bis 1995 der größte Krieg tobte, den Europa nach 1945 erlebte, war es ähnlich: Am Anfang standen falsche Zahlen. Lange machte die von (muslimischen) Bosniaken in die Welt gesetzte - und dann von ausländischen Journalisten in gutem Glauben verbreitete - Zahl von 250 000 Todesopfern des bosnischen Krieges die Runde. Wissenschaftler haben diese aus politischen Gründen übertriebene Zahl später korrigiert. Laut neuesten Forschungen sind im Bosnien-Krieg etwa 100 000 Soldaten und Zivilisten eines gewaltsamen Todes gestorben. Aber auch diese Zahlen sagen uns fast nichts über den Krieg in dem Balkanstaat. Erst jetzt, mehr als zehn Jahre nach dem unvollkommenen Friedensschluss von Dayton, bekommt das Morden in Bosnien Stimmen. Durch die Regisseurin Jasmila Zbanic etwa, deren Film über das Leben einer im Krieg vergewaltigten Bosniakin und ihrer Tochter im vergangenen Jahr bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Oder durch das nun vorliegende Buch von Jadranka Cigelj, das ebenfalls geeignet ist, dem Zahlenwerk der Kriegsstatistik durch die Schilderung von Einzelschicksalen Substanz zu verleihen. In "Appartement 102 Omarska" berichtet Frau Cigelj von ihrem Überleben in einem von Serben betriebenen Folterlager, in dem etwa 3000 Männer gequält und getötet wurden. Außer den Männern wurden auch 37 Frauen in dem ehemaligen Bergwerk Omarska in der Nähe der bosnischen Stadt Prijedor festgehalten, von denen die meisten wie die Chronistin immerhin mit dem Leben davonkamen - oder mit dem, was ihnen davon noch blieb nach der physischen und vor allem psychischen Tortur. Einige ihrer Peiniger waren Frau Cigelj persönlich bekannt: in friedlichen Zeiten waren es Kollegen, Nachbarn oder Mitpassagiere in öffentlichen Verkehrsmitteln. Allesamt scheinbar wohlerzogene Leute, die in anderen Zeiten im lokalen Chor den Bass sangen, Magisterarbeiten in der Schweiz schrieben und zu Besuch Chrysanthemen mitbrachten. Durch den Krieg und den Zufall ihrer Geburt als Serben wurden sie zu Herren über Leben und Tod ihrer früheren Nachbarn, die zufällig keine Serben waren. Bei einigen brach ein Hang zum Sadismus hervor. "Mit schmerzhaft geschärften Sinnen" überlebte Frau Cigelj in dieser Welt, und auf diese Weise hat sie sich Jahre später auch daran erinnert, um es festzuhalten. Dies ist ein Sachbuch, aber die Sprache ist von literarischer Qualität. Mit einer stellenweise nur schwer zu ertragenden Eindringlichkeit beschreibt die Autorin den Verlauf ihres Martyriums in Nordwestbosnien, das für sie 55 Tage dauerte und ein Leben dauern wird. Sie schildert die psychologischen Überlebensstrategien, denen die gefangenen Frauen folgten, um nicht wahnsinnig zu werden. Dazu gehörte die eingebildete Bejahung des durch Folterungen erlittenen Schmerzes: "Der Schmerz, der bis dahin jede meiner Bewegungen blockierte, begann mich zu trösten. Er weitete sich aus und gab mir eine merkwürdige Sicherheit. Er war bekannt. Er gehörte zu mir und ich hatte ihn letzte Nacht kennengelernt. Die Uniform war das Unbekannte." Sie erinnert sich an das naive Hoffen der Verzweifelten auf ein Wunder: "Ich begriff nicht, dass es nicht die Zeit für Wunder war. Es gab nur die Zeit der Serben."
Zur Zeit der Serben wurden die Jahre bis 1995 auch deshalb, weil das Ausland nicht oder nur zum Schein eingriff in diesen Krieg, der nicht nur, aber ganz wesentlich ein Vertreibungsfeldzug Belgrads und seiner zum Teil sehr eigenständig agierenden bosnisch-serbischen Handlanger war. Vollends gespenstisch werden die Beschreibungen von Frau Cigelj, wenn man sich dazu die Bosnien-Debatten in Erinnerung ruft, die just zu jener Zeit in den Parlamenten der Welt stattfanden, als Menschen in Omarska gefoltert und getötet wurden. Während sich vor allem im Osten Bosniens, an der Drina, eine Stadt nach der anderen in ein Schlachthaus für Muslime verwandelte, wurde in den europäischen Hauptstädten, in London vor allem, nicht selten die Meinung geäußert, dass "dort unten" irgendwie alle gleichermaßen schuld seien und "die Kriegsparteien" endlich zur Vernunft kommen müssten.
In Deutschland waren es gerade linke Parteien und Kräfte, die sich mit einem Hinweis auf die von Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangenen oder geförderten Verbrechen gegen ein Eingreifen der Bundeswehr wandten. Der Sarkasmus dieser Haltung ist unübertrefflich, und so muss sich dem deutschen Leser denn auch bei dieser Lektüre wieder einmal der Gedanke aufdrängen, wie wohlfeil die politisch korrekte Nie-wieder-Litanei als inoffizielles Leitmotiv der Bundesrepublik gerade für jene war, die sie am lautesten vorbeteten. Es wird, auch das ist eine trübe Lehre aus Jadranka Cigeljs Buch, immer wieder ein "wieder" geben, und man kann realistischerweise wohl nur die Hoffnung hegen, wenigstens in Europa ließen sich die Abstände zwischen solchen Rückfällen möglichst groß halten. Jadranka Cigeljs Buch ist die verstörende Aufzeichnung eines solchen Rückfalls, der sich ereignete in Zeiten, als die Welt angeblich schon ein globales Dorf war.
MICHAEL MARTENS
Jadranka Cigelj: Appartement 102 Omarska. Ein Zeitzeugnis. Herausgegeben von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte, Deutsche Sektion e. V. Diametric Verlag, Würzburg 2007. 234 S., 14,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Nahe gegangen ist Rezensent Michael Martens dieses Buch, in dem Jadranka Cigelj berichtet, wie sie ein Folterlager der bosnischen Serben in Omarska überlebte. Das Werk verleiht den abstrakten Zahlen der Kriegsstatistiken durch die Schilderung von berührenden Einzelschicksalen seines Erachtens erst Substanz. Oft scheint ihm die Lektüre kaum erträglich, so eindringlich führt Cigelj ihre 55 Tage dauernde grauenvolle Tortur vor Augen. Viele ihrer Peiniger, in Friedenszeiten nette Kollegen oder Nachbarn, habe sie persönlich gekannt. Besonders beeindruckt hat Martens auch die "literarische Qualität" von Cigeljs Sprache. Geradezu "gespenstisch" wirken ihre Beschreibungen auf ihn, wenn er sich die Bosnien-Debatten in Erinnerung ruft, die damals in den Parlamenten der Welt geführt wurden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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