Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für die Übersetzung von Timea Tank.
Er ist der Solitär der ungarischen Literatur. 60 Jahre arbeitete Miklós Szentkuthy an seinem enormen, uferlosen Werk - auf Deutsch lagen bisher nur wenige Seiten vor. Zu entdecken ist ein literarischer Kosmopolit, ein ungarischer Borges, ein zu jeder Zeit Unzeitgemäßer. »Hier ist ein wirklich amusabler, ein sehr wacher, sensitiver, empfänglicher Geist, der im höchsten Sinne Spaß versteht.« - Thomas Mann, 1949 Moderner Mystiker und virtuoser Gedankenjongleur: Mit Apropos Casanova führt Miklós Szentkuthy (1908 -1988) gewitzt ein in seine Gedankenwelt. In der Lektüre der Memoiren Casanovas treibt er sein höchst subjektives Spiel mit der Sprache und der Geschichte. Ob als barocker Liebesabenteurer oder als Pseudo-Abaelard, zerrissen zwischen Scholastik und Héloise - bei seinem Ritt durch die Epochen spricht Szentkuthy mit vielen Stimmen. Sein munterer Assoziationskarneval fügt sich zu einem Stundenbuch über die Liebe und das menschliche Begehren. Bei Erscheinen 1939 durch die Zensur verboten, hat sich das Provokante seiner Prosa bewahrt. Eine ganze Generation ungarischer (Exil-)Literaten kennt Szentkuthys fliegende Metaphern. Endlich können wir den Budapester Solitär auf Deutsch lesen: in einer bestechenden Übersetzung von Timea Tankó.
»Szentkuthys Erzählweise, seine Weltsicht, sein Satzbau und Stil lassen sich selbst heute kaum in einen Kanon einordnen.« - György Dalos in seinem Nachwort.
Er ist der Solitär der ungarischen Literatur. 60 Jahre arbeitete Miklós Szentkuthy an seinem enormen, uferlosen Werk - auf Deutsch lagen bisher nur wenige Seiten vor. Zu entdecken ist ein literarischer Kosmopolit, ein ungarischer Borges, ein zu jeder Zeit Unzeitgemäßer. »Hier ist ein wirklich amusabler, ein sehr wacher, sensitiver, empfänglicher Geist, der im höchsten Sinne Spaß versteht.« - Thomas Mann, 1949 Moderner Mystiker und virtuoser Gedankenjongleur: Mit Apropos Casanova führt Miklós Szentkuthy (1908 -1988) gewitzt ein in seine Gedankenwelt. In der Lektüre der Memoiren Casanovas treibt er sein höchst subjektives Spiel mit der Sprache und der Geschichte. Ob als barocker Liebesabenteurer oder als Pseudo-Abaelard, zerrissen zwischen Scholastik und Héloise - bei seinem Ritt durch die Epochen spricht Szentkuthy mit vielen Stimmen. Sein munterer Assoziationskarneval fügt sich zu einem Stundenbuch über die Liebe und das menschliche Begehren. Bei Erscheinen 1939 durch die Zensur verboten, hat sich das Provokante seiner Prosa bewahrt. Eine ganze Generation ungarischer (Exil-)Literaten kennt Szentkuthys fliegende Metaphern. Endlich können wir den Budapester Solitär auf Deutsch lesen: in einer bestechenden Übersetzung von Timea Tankó.
»Szentkuthys Erzählweise, seine Weltsicht, sein Satzbau und Stil lassen sich selbst heute kaum in einen Kanon einordnen.« - György Dalos in seinem Nachwort.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hymnisch bespricht Katharina Teutsch nicht nur Miklos Szentkuthys Text aus dem Jahr 1939, sondern auch die "kongeniale" Übersetzung durch Timea Tanko. Von "phosphoreszierender Intellektualität" erscheint ihr die Mischung aus Liebesessay, Porträt einer Epoche, "Ideenkarneval und Theologie-Satire", für die der ungarische Autor Funken aus dem Liebesleben Casanovas schlägt. Atemlos jagt die Kritikerin den drängenden Sätzen und Gedanken über die Wechselhaftigkeit der Liebe hinterher, verdankt Szentkuthy vor diesem Hintergrund erstaunliche Einsichten in Katholizismus und Aufklärung und rückt Casanova nach der Lektüre noch ein ganzes Stück näher.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.05.2021Phosphoreszierende Intellektualität
Der ungarische Schriftsteller Miklós Szentkuthy war entflammt für Casanova, und nun zündet sein literarischer Ideenkarneval endlich auch auf Deutsch.
Wenn Rezensenten nicht wissen, wo sie anfangen sollen, fangen sie am Anfang an: "Der Heilige Alfonso starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch hatte man ihm, dem Verfasser unzähliger Bücher und Briefe, das Schreiben bereits im Alter von dreiundachtzig verboten, aus gesundheitlichen Gründen. Das Formulieren ging ihm leicht von der Hand, doch korrigierte er nichts, gar nichts, Gedanke und Gefühl rieselten nur so aus ihm heraus, mal in einfachem Stil, mal in barockem, wie unaufhörlicher Schnee, doch hinter seiner Stilsicherheit wüteten Leidenschaft, Kummer und Freude in Bezug auf das Schicksal Gottes, die Seele sowie den ursprünglichen Körper des Menschen, das Ziel oder die inakzeptable Ziellosigkeit der Geschichte. Scholastik, freudianische Erkenntnisse, Marx'sche Beobachtungen, existenzialistische Verzweiflung zerrissen beinah seinen Körper und seine Seele wie die gefiederte Schicksalsbestie die Leber des Prometheus, er war voller fußzappelnder Ungeduld und schwindelerregender Angst, es könnte zu spät sein - für die Niederschrift seiner Erinnerungen, seines Gottesporträts, seiner Geschichtsbeschauung, des Summa summarum seiner Natur- und Seelenforschung. Und gerade als diese ihm so lieben Themen in einem wechselhaften Verhältnis von Fragen und Antworten in ihm eine endgültige Reife erreichten, verbot man ihm das Schreiben."
Das schrieb der ungarische Gymnasiallehrer Miklós Szentkuthy im Alter von einunddreißig Jahren auf die erste Seite seines großangelegten Kommentars zu den Lebenserinnerungen des Giacomo Casanova, dem er die Vita des erotomanen Heiligen Alfonso Maria de' Liguori voranstellte, was alles zusammengenommen dann den Auftakt eines Schreibprojekts namens "Das Brevier des Heiligen Orpheus" bildete. Danach verbot man Szentkuthy erst mal das Schreiben.
Die 1939 erschienene Melange aus Liebesessayistik, Epochenporträt, Ideenkarneval und Theologie-Satire galt dem präfaschistischen Horthy-Regime als freche Blasphemie. Im kommunistischen Ungarn galt Szentkuthy später dann lange als "klassenfremdes Element". Und so konnte "Apropos Casanova" erst in den siebziger Jahren ohne zensorisches Gezeter verlegt werden. Wiederum fast vierzig Jahre danach ist das Buch erstmals auf Deutsch zu lesen: in einer kongenialen Übersetzung von Timea Tankó. Kongenial, weil der Text, bestehend aus einer "Vita" und einer "Lectio" (nach dem Vorbild des Bibelkommentars), von phosphoreszierender Intellektualität ist.
Jeder Satz darin hat eine solch vorwärtsdrängende Dynamik, dass man ihm nur japsend hinterherschreiben kann. Es ist unmöglich, mit dem Geist dieses Buchs Schritt zu halten. Unmöglich aufzuzählen, wovon "Apropos Casanova" im Ganzen handelt. Alles, was man über dieses Buch sagen kann, muss notwendig Fragment und Zufall bleiben.
Zufällig ist Szentkuthys Interesse an der Casanova-Figur natürlich keineswegs. Was macht den Venezianer für den Ungarn aber zu einer solch erquickenden Gedankenquelle? Das Eindrucksvollste an Casanova, schreibt Szentkuthy hierzu, sei die absolute Sicherheit, mit der er die wesentlichen Charakteristika der Liebe erfasst habe. Ihre Daseinsgrundlage sei nämlich "das Weiterziehen". Und zwar "aus einem Palazzo in den nächsten, aus einem Bordell ins nächste, aus dem Seminar ins Gefängnis, aus der Kajüte in den Harem, aus dem Park ins Dienstmädchenzimmer, vom Papst in die venezianische Nacht - das verantwortungslose Jonglieren mit den Milieus als Wesen der Liebe".
Jeder Liebesbegriff braucht sein kulturelles Milieu. Ganz klar für Szentkuthy, dass der Katholizismus den idealen Nährboden für Casanovas Liebes-Rite-de-passage bildet: "Der Protestantismus kennt den Büßerwahn des einsamen Eremitendaseins nicht, auch nicht das großspurige Purpur der römischen Simonie - folglich kennt er auch Casanova nicht", behauptet Szentkuthy. Doch als man schon denkt, diese These sei so neu nicht, liefert ihr Verfasser die schönste Verfeinerung: "Die Psychologie, die es in diesem Werk gibt (und die gibt es), entspringt der Seelenkunde des Beichtens und kehrt, allem Zynismus zum Trotz, auch zu dieser zurück. Die These ist also: Ein Protestant kann nicht verliebt sein. Ein echter Katholik natürlich auch nicht - nur dieser zwischen Heuchelei und Aberglaube lavierende, pendelnde Peripheriekatholik der Gegenreformation."
Das ist also der Preis der Zivilisation: "Unklare, verschwommene Verhältnisse." Und jeder, der von sich in Klarheit denkt, der also "entweder Priester oder Abenteurer oder Liebhaber" zu sein behauptet, macht sich zur Witzfigur. Anders Casanova. "Genau das ist ja das Großartige: diese uneingeschränkte Akzeptanz, diese mutige und siegreiche Bejahung der zivilisationsimmanenten Widersprüche. Das, woran andere romantisch zugrunde gehen, in die größte Freude zu verwandeln. Andere Jugendliche leiden in einer solchen Lage, comme il faut, an Neurasthenie und werden Schriftsteller. Casanova hingegen schöpft genau aus dieser Verlogenheit der Zivilisation seine Gesundheit, macht sie zum Sport. In Kunst wurde die Lüge schon oft verwandelt, Casanova verwandelt sie endlich in Lebenslust."
Das ist die Dialektik der Aufklärung mal von hinten aufgezäumt. Hinter der Fassade bürgerlicher Moral lauert nicht (nur) der Abgrund, sondern (auch) die Einladung zum freien Spiel! Eine Montessori-Schule für Lebenskunstklosterschüler. Denn auch die Religion kriegt durch Casanova neues Profil. "Ja, es ist Gottes Wille, denken wir, dass nicht Johannes der Täufer die Predigt hält, mit Rauschebart in der Wüste, sondern ein verliebter venezianischer Schwindler, mit Perücke und ohne wahren Glauben: Das macht die gesamte Religion vertrauter, menschlicher, echter."
Und so wird einem der ohnehin schon sympathische Casanova, der mit Päpsten, Prinzessinnen und Prostituierten gleichermaßen passioniert parlierte, immer sympathischer. Ist Casanova damit ein typischer Bewohner des Dixhuitième? Als jemand, der sich auf das gesellschaftliche Spiel mit vielen Registerwechseln verstand, vermutlich schon. Selbstverständlich nicht als Durchschnittsbürger, sondern als einer, der seinen Lebensstil den zeittypischen Widersprüchen anpassen konnte - und zwar als Virtuose der schnöden Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit des achtzehnten Jahrhunderts, heißt es bei Szentkuthy, sei die "Wirklichkeit der Maske" gewesen. Und hinter der Maske lauert bekanntlich das Nichts. Damit steht das Tragödienpotential des buntscheckigen Maskenballs fest, den Casanova Nacht für Nacht mit Hingabe besucht. Einer ganz bestimmten Wahrheit verlieh er damit Stil, meint Szentkuthy. "Und einem ganz bestimmten Lebensstil verhalf er ein für alle Mal zu intellektuellem Hintergrund." Ein Gedanke, der in "Apropos Casanova" in viele Nebengedanken aufgefächert wird. Jeder Satz darin beglückend, witzig, weise, wahr.
Vermutlich war Szentkuthy wie sein Vorbild ein Connaisseur des anderen Geschlechts. Und Casanovas Verführungskunst war wohl nicht von verpuppter Misogynie getrieben, wie der handelsübliche Musenkult der Neuzeit, sondern von Wertschätzung. "Was wird wohl die letzte an das Fräulein gerichtete Aufforderung sein, bevor er mit ihr ins Hotelbett steigt?", fragt Szentkuthy einmal in einem Quellenkommentar zum Bettgeflüster. "Denken Sie!", wird er gesagt haben. Und Szentkuthy weiß: "Mit diesem kurzen Satz hat er ihr das stärkste Aphrodisiakum verabreicht."
KATHARINA TEUTSCH
Miklós Szentkuthy:
"Apropos Casanova".
Das Brevier des Heiligen
Orpheus.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von György Dalos. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 286 S., geb., 44,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der ungarische Schriftsteller Miklós Szentkuthy war entflammt für Casanova, und nun zündet sein literarischer Ideenkarneval endlich auch auf Deutsch.
Wenn Rezensenten nicht wissen, wo sie anfangen sollen, fangen sie am Anfang an: "Der Heilige Alfonso starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch hatte man ihm, dem Verfasser unzähliger Bücher und Briefe, das Schreiben bereits im Alter von dreiundachtzig verboten, aus gesundheitlichen Gründen. Das Formulieren ging ihm leicht von der Hand, doch korrigierte er nichts, gar nichts, Gedanke und Gefühl rieselten nur so aus ihm heraus, mal in einfachem Stil, mal in barockem, wie unaufhörlicher Schnee, doch hinter seiner Stilsicherheit wüteten Leidenschaft, Kummer und Freude in Bezug auf das Schicksal Gottes, die Seele sowie den ursprünglichen Körper des Menschen, das Ziel oder die inakzeptable Ziellosigkeit der Geschichte. Scholastik, freudianische Erkenntnisse, Marx'sche Beobachtungen, existenzialistische Verzweiflung zerrissen beinah seinen Körper und seine Seele wie die gefiederte Schicksalsbestie die Leber des Prometheus, er war voller fußzappelnder Ungeduld und schwindelerregender Angst, es könnte zu spät sein - für die Niederschrift seiner Erinnerungen, seines Gottesporträts, seiner Geschichtsbeschauung, des Summa summarum seiner Natur- und Seelenforschung. Und gerade als diese ihm so lieben Themen in einem wechselhaften Verhältnis von Fragen und Antworten in ihm eine endgültige Reife erreichten, verbot man ihm das Schreiben."
Das schrieb der ungarische Gymnasiallehrer Miklós Szentkuthy im Alter von einunddreißig Jahren auf die erste Seite seines großangelegten Kommentars zu den Lebenserinnerungen des Giacomo Casanova, dem er die Vita des erotomanen Heiligen Alfonso Maria de' Liguori voranstellte, was alles zusammengenommen dann den Auftakt eines Schreibprojekts namens "Das Brevier des Heiligen Orpheus" bildete. Danach verbot man Szentkuthy erst mal das Schreiben.
Die 1939 erschienene Melange aus Liebesessayistik, Epochenporträt, Ideenkarneval und Theologie-Satire galt dem präfaschistischen Horthy-Regime als freche Blasphemie. Im kommunistischen Ungarn galt Szentkuthy später dann lange als "klassenfremdes Element". Und so konnte "Apropos Casanova" erst in den siebziger Jahren ohne zensorisches Gezeter verlegt werden. Wiederum fast vierzig Jahre danach ist das Buch erstmals auf Deutsch zu lesen: in einer kongenialen Übersetzung von Timea Tankó. Kongenial, weil der Text, bestehend aus einer "Vita" und einer "Lectio" (nach dem Vorbild des Bibelkommentars), von phosphoreszierender Intellektualität ist.
Jeder Satz darin hat eine solch vorwärtsdrängende Dynamik, dass man ihm nur japsend hinterherschreiben kann. Es ist unmöglich, mit dem Geist dieses Buchs Schritt zu halten. Unmöglich aufzuzählen, wovon "Apropos Casanova" im Ganzen handelt. Alles, was man über dieses Buch sagen kann, muss notwendig Fragment und Zufall bleiben.
Zufällig ist Szentkuthys Interesse an der Casanova-Figur natürlich keineswegs. Was macht den Venezianer für den Ungarn aber zu einer solch erquickenden Gedankenquelle? Das Eindrucksvollste an Casanova, schreibt Szentkuthy hierzu, sei die absolute Sicherheit, mit der er die wesentlichen Charakteristika der Liebe erfasst habe. Ihre Daseinsgrundlage sei nämlich "das Weiterziehen". Und zwar "aus einem Palazzo in den nächsten, aus einem Bordell ins nächste, aus dem Seminar ins Gefängnis, aus der Kajüte in den Harem, aus dem Park ins Dienstmädchenzimmer, vom Papst in die venezianische Nacht - das verantwortungslose Jonglieren mit den Milieus als Wesen der Liebe".
Jeder Liebesbegriff braucht sein kulturelles Milieu. Ganz klar für Szentkuthy, dass der Katholizismus den idealen Nährboden für Casanovas Liebes-Rite-de-passage bildet: "Der Protestantismus kennt den Büßerwahn des einsamen Eremitendaseins nicht, auch nicht das großspurige Purpur der römischen Simonie - folglich kennt er auch Casanova nicht", behauptet Szentkuthy. Doch als man schon denkt, diese These sei so neu nicht, liefert ihr Verfasser die schönste Verfeinerung: "Die Psychologie, die es in diesem Werk gibt (und die gibt es), entspringt der Seelenkunde des Beichtens und kehrt, allem Zynismus zum Trotz, auch zu dieser zurück. Die These ist also: Ein Protestant kann nicht verliebt sein. Ein echter Katholik natürlich auch nicht - nur dieser zwischen Heuchelei und Aberglaube lavierende, pendelnde Peripheriekatholik der Gegenreformation."
Das ist also der Preis der Zivilisation: "Unklare, verschwommene Verhältnisse." Und jeder, der von sich in Klarheit denkt, der also "entweder Priester oder Abenteurer oder Liebhaber" zu sein behauptet, macht sich zur Witzfigur. Anders Casanova. "Genau das ist ja das Großartige: diese uneingeschränkte Akzeptanz, diese mutige und siegreiche Bejahung der zivilisationsimmanenten Widersprüche. Das, woran andere romantisch zugrunde gehen, in die größte Freude zu verwandeln. Andere Jugendliche leiden in einer solchen Lage, comme il faut, an Neurasthenie und werden Schriftsteller. Casanova hingegen schöpft genau aus dieser Verlogenheit der Zivilisation seine Gesundheit, macht sie zum Sport. In Kunst wurde die Lüge schon oft verwandelt, Casanova verwandelt sie endlich in Lebenslust."
Das ist die Dialektik der Aufklärung mal von hinten aufgezäumt. Hinter der Fassade bürgerlicher Moral lauert nicht (nur) der Abgrund, sondern (auch) die Einladung zum freien Spiel! Eine Montessori-Schule für Lebenskunstklosterschüler. Denn auch die Religion kriegt durch Casanova neues Profil. "Ja, es ist Gottes Wille, denken wir, dass nicht Johannes der Täufer die Predigt hält, mit Rauschebart in der Wüste, sondern ein verliebter venezianischer Schwindler, mit Perücke und ohne wahren Glauben: Das macht die gesamte Religion vertrauter, menschlicher, echter."
Und so wird einem der ohnehin schon sympathische Casanova, der mit Päpsten, Prinzessinnen und Prostituierten gleichermaßen passioniert parlierte, immer sympathischer. Ist Casanova damit ein typischer Bewohner des Dixhuitième? Als jemand, der sich auf das gesellschaftliche Spiel mit vielen Registerwechseln verstand, vermutlich schon. Selbstverständlich nicht als Durchschnittsbürger, sondern als einer, der seinen Lebensstil den zeittypischen Widersprüchen anpassen konnte - und zwar als Virtuose der schnöden Wirklichkeit.
Die Wirklichkeit des achtzehnten Jahrhunderts, heißt es bei Szentkuthy, sei die "Wirklichkeit der Maske" gewesen. Und hinter der Maske lauert bekanntlich das Nichts. Damit steht das Tragödienpotential des buntscheckigen Maskenballs fest, den Casanova Nacht für Nacht mit Hingabe besucht. Einer ganz bestimmten Wahrheit verlieh er damit Stil, meint Szentkuthy. "Und einem ganz bestimmten Lebensstil verhalf er ein für alle Mal zu intellektuellem Hintergrund." Ein Gedanke, der in "Apropos Casanova" in viele Nebengedanken aufgefächert wird. Jeder Satz darin beglückend, witzig, weise, wahr.
Vermutlich war Szentkuthy wie sein Vorbild ein Connaisseur des anderen Geschlechts. Und Casanovas Verführungskunst war wohl nicht von verpuppter Misogynie getrieben, wie der handelsübliche Musenkult der Neuzeit, sondern von Wertschätzung. "Was wird wohl die letzte an das Fräulein gerichtete Aufforderung sein, bevor er mit ihr ins Hotelbett steigt?", fragt Szentkuthy einmal in einem Quellenkommentar zum Bettgeflüster. "Denken Sie!", wird er gesagt haben. Und Szentkuthy weiß: "Mit diesem kurzen Satz hat er ihr das stärkste Aphrodisiakum verabreicht."
KATHARINA TEUTSCH
Miklós Szentkuthy:
"Apropos Casanova".
Das Brevier des Heiligen
Orpheus.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von György Dalos. Die Andere Bibliothek, Berlin 2020. 286 S., geb., 44,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Apropos Casanova ist lohnende Herausforderung, Einladung, Kosmogonie." Fixpoetry 20200918