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«Dann Telefonat mit einem mir unbekannten, älteren Mann in Westdeutschland. Noch am Tag der Histologie war Holm abends auf einer Party mit dem Journalisten T. ins Gespräch gekommen, dessen Vater ebenfalls ein Glioblastom hat und noch immer lebt, zehn Jahre nach der OP. Wenn ich wolle, könne er mir die Nummer besorgen. Es ist vor allem dieses Gespräch mit einem Unbekannten, das mich aufrichtet. Ich erfahre: T. hat als einer der Ersten in Deutschland Temodal bekommen. Und es ist schon dreizehn Jahre her. Seitdem kein Rezidiv. Seine Ärzte rieten nach der OP, sich noch ein schönes Jahr zu machen,…mehr

Produktbeschreibung
«Dann Telefonat mit einem mir unbekannten, älteren Mann in Westdeutschland. Noch am Tag der Histologie war Holm abends auf einer Party mit dem Journalisten T. ins Gespräch gekommen, dessen Vater ebenfalls ein Glioblastom hat und noch immer lebt, zehn Jahre nach der OP. Wenn ich wolle, könne er mir die Nummer besorgen. Es ist vor allem dieses Gespräch mit einem Unbekannten, das mich aufrichtet. Ich erfahre: T. hat als einer der Ersten in Deutschland Temodal bekommen. Und es ist schon dreizehn Jahre her. Seitdem kein Rezidiv. Seine Ärzte rieten nach der OP, sich noch ein schönes Jahr zu machen, vielleicht eine Reise zu unternehmen, irgendwas, was er schon immer habe machen wollen, und mit niemandem zu sprechen. Er fing sofort wieder an zu arbeiten. Informierte alle Leute, dass ihm jetzt die Haare ausgingen, sich sonst aber nichts ändere und alles weiterliefe wie bisher, keine Rücksicht, bitte. Er ist Richter. Und wenn mein Entschluss, was ich machen wollte, nicht schon vorher festgestanden hätte, dann hätte er nach diesem Telefonat festgestanden: Arbeit. Arbeit und Struktur.»
Autorenporträt
Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren und 2013 in Berlin gestorben, hat ursprünglich Malerei studiert. 2002 erschien sein Debütroman 'In Plüschgewittern', 2007 der Erzählband 'Diesseits des Van-Allen-Gürtels'. Es folgten die Romane 'Tschick' (2010), 'Sand' (2011), ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sowie posthum das Tagebuch 'Arbeit und Struktur' (2013) und der unvollendete Roman 'Bilder deiner großen Liebe' (2014). 2023 wurde die Biographie 'Herrndorf' von Tobias Rüther veröffentlicht.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2015

Autor, Verleger und Herausgeber sind eine Person
Geht so die Zukunft? Unter den vielen Wegen vom literarischen Blog zum Buch führen manche im Kreis

Wer kennt es nicht, das berühmte Gemälde "Der arme Poet" des berühmten Malers Carl Spitzweg: Der mittellose Dichter bewohnt eine zugige Mansarde, sein Manuskript hat er zum Teil verheizt, doch schon zeigt sich ein neues Werk vor seinem geistigen Auge, das nur er zu erfassen vermag.

So, sollte man denken, entsteht Literatur. In Einsamkeit und Weltferne. Aber das war einmal. Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Dachgeschoss eines urbanen Mehrfamilienhauses dichtet, hat es geschafft, denn diese Wohnungen sind die teuersten von allen. Der arme Poet von heute, der nicht mit Literaturpreisen und Stipendien alimentiert wird, der keine Beachtung im überregionalen Feuilleton erfährt, der vergeblich in Agenturen, Großverlagen und Buchkonzernen antichambriert, lebt in einer fußkalten Erdgeschosswohnung; sein Manuskript hat er zum Teil gelöscht, doch schon zeigt sich ein neues Werk auf dem Display seines veralteten Notebooks, das auch andere zu erfassen vermögen. Denn im Internet kann er Freunde und Fans treffen, die sein work in progress reflektieren, kommentieren und mitgestalten. Er muss nur die Blogfunktion seiner Website aktivieren - so er eine hat. Und irgendwann wird dann aus seinem Literaturblog ein Buch, ein E-Book oder beides gar: So etwa gehen Künstlermärchen von heute.

"Was sind literarische Blogs?" Diese Frage stelle nicht nur ich mir, diese Frage stellt sich auch Aléa Torik, die es eigentlich längst wissen muss. Verdankt doch die Romanautorin und -figur ihre Doppelexistenz dem Blog des Schriftstellers Claus Heck. Als dieser weder Juroren noch Lektoren für seine Prosa einnehmen konnte, generierte er aus seiner Blogadresse den Namen einer jungen rumäniendeutschen Frau, die über Fiktionalität promoviert, ein Literaturblog führt und metafiktionale Romane verfasst, darunter einen über sich selbst. Im wirklichen Leben erhält Hecks Stellvertreterin mit dem Jungschriftstellerin-aus-Osteuropa-Bonus alles, was dem Berliner Autor selbst versagt wurde: Stipendien, Verlagsverträge, einen Eintrag im Munzinger-Archiv, Wahrnehmung und Lob in der Presse sowie die Aufmerksamkeit mehrerer Promotionskandidaten.

Nicht die Sprache oder die Welthaltigkeit dieser Literatur, sondern die Konstruktion multipler Fiktionsebenen und Scheinidentitäten lässt mich an Jorge Luis Borges denken, an Mircea Cartarescu, Raymond Federman, Italo Calvino. Autoren, denen Claus Heck nacheifert und über die er Aléa Torik bloggen lässt. Gleichwohl ist ihre Webpräsenz nicht einer jener zahlreichen Rezensionsblogs, in denen lesernahe, von den Verlagen mehr und mehr umworbene Hobbykritiker Romane, Erzählungen und Gedichte hochloben, sondern ein vielfach verlinkter, fortlaufend von anderen kommentierter Mix primär- und sekundärliterarischer Texte aus semifiktiver Ich-Perspektive. In ihrem Post über "Literatur 2.0" stellt sich Aléa Torik zwei weitere Fragen, die auch mich umtreiben, nämlich: wo literarische Blogs zu finden sind und - nicht zuletzt - wie gelungen sie sind.

Ich gebe diese Fragen weiter an Hartmut Abendschein, der es eigentlich wissen muss. Er ist in Personalunion Autor, Verleger und - neben der Kulturwissenschaftlerin Christiane Zintzen - Herausgeber des Blogportals www.litblogs.net. In Kooperation mit der Universität Innsbruck und dem Marbacher Literaturarchiv werden poetische Weblogs deutscher Sprache präsentiert und für die Nachwelt archiviert. Man wolle die Bandbreite literarischen Schreibens in Blogform vermitteln, erklärt mir Abendschein am Telefon, die vielen unterschiedlichen Ansätze, für die er mir gern ein paar Beispiele nennen werde. Der Blogger sei, wie übrigens auch der Selfpublisher, in Personalunion Autor, Verleger und Herausgeber, bringe aber kein abgeschlossenes Werk heraus, sondern nehme die Vermittler seiner Literatur mit ins Boot. Und das sei zukunftsweisend, frohlockt Abendschein fernmündlich.

In seinem kleinen Hybridverlag edition taberna kritika erscheinen unter anderem Texte als Bücher und/oder E-Books, die in Literaturblogs entstanden sind. Zu den Autorinnen und Autoren gehören der Verleger selbst, seine Ko-Herausgeberin Christiane Zintzen, der Berliner Schriftsteller Alban Nikolai Herbst, der Thuner Künstler Anton Rittiner, der in Umbrien lebende Lyriker und Übersetzer Helmut Schulze. Ich finde in ihren Blogs Mikrostories, Gedichte, Romanauszüge, Rezensionen, Collagen in Wort, Bild und Ton, poetologisches, autobiographisches und dokumentarisches Material, Notizen, Briefe, E-Mails, Threads, Tagebücher, Verweise auf andere und anderes, zahlreiche Links sowie die Kommentare anderer und Auszüge aus deren Blogs, die ebenfalls Mikrostories Gedichte, Romanauszüge und so weiter enthalten. All dies ist in Teilen interessant, amüsant und inspirierend, in Teilen anstrengend, unerheblich und ermüdend.

Aber Blogger gelten nicht als talentlose Schwadroneure, für die sich kein ernstzunehmender Verlag interessiert. Im Gegenteil: Ernstzunehmende Verlage ahmen Blogger nach. Suhrkamp, Fischer, Ullstein stellen ihren Autoren hauseigene Literaturblogs zur Verfügung. Klein- und Kleinstverlage postpublizieren Blogposts und deren literarische Folgen, wie etwa die Flaneurtexte "Monogold", die René Hamann zunächst in seinem Blog "Die Suche nach dem Glam" gepostet hat. Oder Norbert W. Schlinkerts Roman "Stadt, Angst, Schweigen", der wie das Literaturblog des Autors, "Nachrichten aus den Prenzlauer Bergen", in dem Berliner Stadtteil mit der höchsten deutschen Dichterdichte verortet ist.

Rhizomatisch wuchern Literaturblogs nicht nur inner-, sondern auch außerhalb des Internets. Beispielsweise ist http://rheinsein.de/ des Kölner Lyrikers und Spoken-Word-Performers Stan Lafleur mehr als eine kulturgeschichtliche Digitalenzyklopädie des Rheinlands, denn "aus dem rheinsein-Datenpool entstehen zeitgleich wiederum klassische literarische Derivate wie Bücher, Hörspiele, Lesungen, Vorträge, (Hochschul-)Seminare etc." Beispielsweise stellt der Leipziger Schriftsteller Jan Kuhlbrodt auf http://postkultur.wordpress.com/ poetologische Betrachtungen über Texte aus handfesten Büchern an. Beispielsweise hat das gebloggte Journal "Arbeit und Struktur" des frühverstorbenen Berliner Autors Wolfgang Herrndorf auch als Buch und E-Book ein breites Publikum erreicht. Und doch, vertraut mir Weblog-Experte Hartmut Abendschein am Telefon an, sind Weblog-Experten davon überzeugt, dass die Zukunft der Literatur nicht dem Buch oder dem E-Book gehört, sondern dem Internet. Wenn Sie darüber mehr erfahren möchten, dann lesen Sie hier demnächst weiter.

ELKE HEINEMANN.

Elke Heinemann lebt als Schriftstellerin und Publizistin in Berlin. Ihr multimediales E-Book "Nichts ist, wie es ist. Kriminalrondo" wurde soeben als eines von drei fiktionalen Werken für den Deutschen E-Book Award 2015 nominiert. Die letzte Folge ihrer monatlichen E-Lektüren erschien am 3. September.

Aléa Torik: "Aléas Ich". Roman.

Kindle Edition. Osburg Verlag, Berlin 2013.

www.aleatorik.eu/.

www.litblogs.net/.

www.etkbooks.com/.

www.logbuch-suhrkamp.de/.

www.hundertvierzehn.de/ http://resonanzboden.com/.

René Hamann: "Monogold". Texte aus dem Blog "Die Suche nach dem Glam". SuKuLTuR Verlag, Berlin 2013 (vergriffen).

http://renehamann.blogspot.de/.

Norbert W. Schlinkert: "Stadt, Angst, Schweigen". Roman. Elsinor Verlag, Coesfeld 2015. 140 S., br., 12,80[Euro].

nwschlinkert.de//category/nachrichten/.

http://rheinsein.de/.

www.postkultur.wordpress.com.

Wolfgang Herrndorf: "Arbeit und Struktur".

Kindle Edition. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. www.wolfgang-herrndorf.de/

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Bei aller Hochschätzung für Herrndorfs Romane - sein Blog Arbeit und Struktur steht ihnen an literarischem Rang nicht nach. Es gibt in der Geschichte der Tagebücher nichts, was ihm gleichkäme an Takt, Wärme, dunklem Witz, Sarkasmus und stillem Grauen. Michael Maar

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Überflüssige Zeugnisse verlängerter Adoleszenz findet Joachim Güntner in diesem letzten Buch von Wolfgang Herrndorf ebenso wie Glanzlichter eines Kampfes, den der Autor nur verlieren konnte. Oder nicht? Große Literatur ist das für Güntner jedenfalls nicht, eher die Mühle der Selbstbeobachtung, verzweifelt Exaltiertes inbegriffen. Als das eigentliche Testament des Autors erkennt Güntner denn auch etwas anderes: Den möglichen Anstoß einer Debatte über den freien Zugang zu Suizid-Mitteln nämlich.

© Perlentaucher Medien GmbH
In jedem Satz nicht langweilig

Drei Monate nach seinem Tod erscheint "Arbeit und Struktur", das Blog, in dem Wolfgang Herrndorf sein Lesen, Schreiben und Sterben mitschrieb.

Von Tobias Rüther

Dreieinhalb Jahre lang, bis zu seinem Freitod am 26. August 2013, hat der Berliner Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ein Blog geschrieben. Viermal in dieser Zeit zählt er Buchtitel auf. Beim ersten Eintrag vom 23. April 2010 klingt das so:

"Wir treffen uns wieder

in meinem Paradies

Und Engel gibt es doch

In unseren Herzen lebst du weiter

Einen Sommer noch

Noch eine Runde auf dem Karussell

Ich komm' als Blümchen wieder

Ich will nicht, dass ihr weint

Im Himmel kann ich Schlitten fahren

Arbeit und Struktur"

Auch die anderen drei Listen - die letzte fällt auf den 30. April 2013 - enden mit dem Titel des Blogs. Und so heißt jetzt auch das Buch, das daraus wurde: "Arbeit und Struktur". So lautet, in drei Worten, das Programm, mit dem sich Wolfgang Herrndorf aufrecht halten wollte, während er schrieb, was er noch schreiben konnte: "Tschick" (2010), inzwischen eine Million Mal verkauft und Schullektüre, den Rätselspionageroman "Sand" (2011) und die Fortsetzung von "Tschick", Arbeitstitel "Isa" - so wie das Mädchen, dem Maik und Tschick begegneten auf ihrer Reise im Lada, man muss das wohl nicht mehr nacherzählen, wer das Buch nicht kennt, dürfte jemanden kennen, der es gelesen hat, oder dessen Kinder haben es gelesen, und nicht mehr lange, dann werden es auch deren Kinder gelesen haben.

"Arbeit und Struktur", das klang eigentlich immer eher nach Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Man sah den Umschlag schon vor sich, irgendwo zwischen "Kontingenz, Ironie und Solidarität" und "Die Schrift und die Differenz" oder irgendeinem anderen "philosophischen Jahrhundertmüll", wie Herrndorf den französischen Theoretiker Michel Foucault mal im Blog nennt. Am Ende dieser regenbogigen, clownstränigen Ansammlung von Sterbebuchtiteln, denn darum handelt es sich bei den vier Listen, wirkte "Arbeit und Struktur" jedenfalls noch schärfer. Und richtiger für einen Perfektionisten, manischen Stilisten und Buchstabenhinundherschieber wie Herrndorf. Gleichzeitig leuchtet in diesen vier Listen der Humor auf, den er bis zuletzt nicht verliert - aber so ein Satz klingt auch schon wieder wie aus einem Sterbebuch, das nicht "Arbeit und Struktur" heißt.

Herrndorf formatiert seinen Blog also schon früh als Buch und probiert, wie es wirken könnte unter anderen Büchern, die auch vom Sterben erzählen, vom Klarkommen, Hadern, Abschließen und so weiter: "Leser, die ,Ich will mein Leben tanzen', kauften auch ,Mutti, ich hab' noch nicht Tschüs gesagt' und ,Arbeit und Struktur'." Die Einträge haben Herrndorfs Freundin Kathrin Passig, wie er auch sie eine Bachmann-Preisträgerin, und sein Lektor Marcus Gärtner für den Druck bearbeitet und ergänzt (um Passagen zu seiner "Exitstrategie" etwa, wie Herrndorf es nennt). Und wenn man das jetzt wieder liest, was man ja anders macht als beim ersten Mal, nicht mehr episodisch und nach und nach und leicht zeitversetzt, sondern an einem Stück, dann ist das einerseits kaum auszuhalten.

Man weiß ja, wie es ausging, der Schluss steht im Blog: "Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen." Aber die kleine korrumpierende Hoffnung fehlt, es könnte sich alles doch noch wenden, und das macht die Einträge umso desolater zu lesen. Schwer, die Wut herunterzuschlucken, die Enttäuschung, Verzweiflung, die Sentimentalität, und Tränen.

Andererseits ist "Arbeit und Struktur" ein so lustiges, leidenschaftliches, böses, tolles Buch über das Lesen und das Schreiben, wie man es sich nur wünschen kann. Herrndorf beendet ja zwei Romane, während der Tumor in seinem Kopf wächst und operiert und bestrahlt wird. Er kriegt die Manuskripte zurück, er hadert und zweifelt und notiert irgendwann: "Ich schreibe seit zehn Jahren mit der Passig-Schere im Kopf, seit einiger Zeit dreht außerdem die Marcus-Gärtner-Schaufel meine Sätze um, wenn ich noch ein paar Jahre übe, mache ich beide arbeitslos." Er liest sich durch die Bücher seines Lebens, um alte Urteile zu überprüfen; beim zweiten Mal findet er die "Buddenbrooks" besser als den "Zauberberg", sein Lieblingskinderbuch "Pik reist nach Amerika" besser als das "fliegende Klassenzimmer". Nabokovs "Lolita" liest er zum dritten Mal, "eine Literatur, die nicht nur nicht langweilig ist, sondern in jedem einzelnen Satz nicht langweilig". Ein Satz, der exakt so für Herrndorfs "Sand" gilt.

Und er regt sich über Literaturkritik auf, ihre öden immergleichen Reflexe, er kannte die gut: Seit seinem Debüt "In Plüschgewittern" von 2002 war er ständig mit Salinger verglichen worden - und gibt dann eine Runde aus bei der ersten Kritik zu "Tschick", die ohne den "Fänger im Roggen" auskommt. "Aber am schlimmsten erwischt es immer Thomas Mann. Alles über 600 Seiten und Familie: Thomas Mann. Ja, richtig, der hat mal diesen einen Roman über eine Familie geschrieben. Gesellschaft kommt auch vor. Und?"

Es ist März 2010, und es geht um Uwe Tellkamps Roman "Der Turm", den die Kritik als neue "Buddenbrooks" gefeiert hat, Herrndorf aber auf die bestechende Formel "Uhren und Brötchen und Mädchen" bringt. "Und das Ganze darf man jetzt vergleichen mit einem - Entschuldigung - Zauberer, der Clawdia Chauchat 120 Seiten vor Schluss in einem Nebensatz aus dem Roman eskamotiert, um das Elend ihrer Nichtanwesenheit, den Liebeswahnsinn und die fiebrige Erwartung ihrer Rückkehr gezielt aus Hans Castorp hinaus- und in den Kopf des Lesers hineinzuprügeln. Und während man noch vergeblich auf ein Lebenszeichen der Angebeteten wartet, flackert ein Schwarz-Weiß-Film vom Ersten Weltkrieg über die Leinwand. Als ich das das erste Mal gelesen hab, bin ich fast gestorben." Was Herrndorf vormacht, beschreibt, in immer neue Worte fasst in seinem Blog, ist die Notwendigkeit, ein Buch wie um sein Leben zu lesen. Wie denn auch sonst.

Man hält sich an solchen Passagen fest, schreibt sie sich raus (24. April 2013: "Ob ein Baum, den Corot malte, heute noch steht?" 26. Oktober 2011: "Vorteil Berlin: Auf der Torstraße bin ich unter den Gestörten nur Mittelfeld.") Aber sie werden weniger, die Einträge kürzer, er braucht die Hilfe seiner Freunde, um sie zu schreiben, "Arbeit und Struktur" ist auch ein Buch über Freundschaft: Passig, Holm Friebe, Cornelius Reiber. Und "C"., die mit ihm bis zum Schluss zusammen ist, ihm eine Wohnung mit Blick über Berlin sucht, nach Jahren im Hinterhof mit einem bekloppten Nachbarn. "Ich wünsche euch", schreibt Herrndorf schon 2010, "wenn eure Stunde kommt, dass ihr Freunde habt, wie ihr es seid."

Es kommt der Juli 2013, Herrndorf hatte gehofft, im Winter zu sterben, und jetzt: "Befund schlecht wie erwartet. Avastin ohne Wirkung, Glioblastom beiderseits progressiv. Ende der Chemo. OP sinnlos." Sechs Wochen sind es da noch bis zum Ufer des Hohenzollernkanals, wo heute ein Kreuz steht, "stümperhaft zusammengeschweißt", wie Wolfgang Herrndorf es sich gewünscht hat.

Wolfgang Herrndorf: "Arbeit und Struktur".

Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 448 S., geb., 19,95 [Euro]

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