In einem Kreuzberger Hostel beginnt Sheriff seine Nachtschicht und fühlt sich mal wieder wie ein schlecht bezahlter Sozialarbeiter. Im Späti nebenan erlebt Anna den zweiten Überfall in diesem Jahr. An der Tür vom Lobotomy steht Ten und realisiert, dass ihm seine junge Familie durch seine Arbeitszeiten komplett zu entgleiten droht. Außerdem: Eine idealistische Notfallsanitäterin, eine zornige Pfandsammlerin und ein Drogendealer mit Zahnschmerzen, der sich fragt, ob er Freunde hat oder nur noch Stammkunden.
Thorsten Nagelschmidt hat mit »Arbeit« einen großen Gesellschaftsroman über all jene geschrieben, die nachts wach sind und ihren Job erledigen, während Studenten, Touristen und Raver feiern. Temporeich erzählt er von zwölf Stunden am Rande des Berliner Ausgehbetriebs und stellt Fragen, die man beim dritten Bier gerne vergisst: Auf wessen Kosten verändert sich eine Stadt, die immer jung sein soll? Für wen bedeutet das noch Freiheit, und wer macht hier später eigentlich denganzen Dreck weg?
Thorsten Nagelschmidt hat mit »Arbeit« einen großen Gesellschaftsroman über all jene geschrieben, die nachts wach sind und ihren Job erledigen, während Studenten, Touristen und Raver feiern. Temporeich erzählt er von zwölf Stunden am Rande des Berliner Ausgehbetriebs und stellt Fragen, die man beim dritten Bier gerne vergisst: Auf wessen Kosten verändert sich eine Stadt, die immer jung sein soll? Für wen bedeutet das noch Freiheit, und wer macht hier später eigentlich denganzen Dreck weg?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2020LITERATUR
Runterkommen?
Thorsten Nagelschmidts Roman „Arbeit“ singt
eine vielstimmige Hymne auf die Werktätigen des Berliner Nachtlebens
VON PATRICK BAUER
Am ersten Wochenende im März wurde im Berliner Technoclub „Kater Blau”, dieser Bretterbude an der Spree, ein letztes Mal gefeiert. Das Virus war längst in der Stadt, aber noch eine ferne Nachricht. Die Veranstaltung hatte das Motto „Perlen für die Katz” und sollte planmäßig 36 Stunden dauern. Am Samstag, von 4 Uhr bis 21 Uhr, war unter den vielen Besuchern ein Mann, der sich mit COVID-19 infiziert hatte. Das kam jedoch erst ans Tageslicht, als diese unendliche Nacht bereits vergangen war, eine Woche später, als das Gesundheitsamt Friedrichshain-Kreuzberg alle Menschen, die am 6. und 7. März im „Kater“ getanzt hatten, bat, sich zu melden – und vorerst zuhause zu bleiben. Seitdem sind die Berliner Clubs, die in einem gesunden Jahr gut 170 Millionen Euro erwirtschaften, geschlossen, ihre 9000 Mitarbeiter entlassen oder in Kurzarbeit. Der Partybetrieb, der einzige wirklich funktionierende Wirtschaftszweig der Hauptstadt, liegt in Trümmern.
Es wirkt daher zunächst wie ein unglückliches Timing, dass Thorsten Nagelschmidts vierter Roman „Arbeit“, der den Menschen hinter diesem weltberühmten Berliner Nachtleben gewidmet ist, ausgerechnet jetzt erscheint. Nagelschmidt porträtiert in rauschhaft miteinander verwobenen Episoden elf Frauen und Männer, die zur Schlafenszeit schuften, damit die anderen feiern können. Darunter ein Dealer, der Rezeptionist eines Hostels oder ein Türsteher, also systemrelevante Schichtarbeiter des System „Ausgehen“, das in #stayathome-Zeiten irrelevanter nicht sein könnte, aber auch Helden des Spätdienstes, deren Bedeutung erst durch die Corona-Krise wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist: Eine Rettungssanitäterin, eine Streifenpolizistin. Sie alle begleitet Nagelschmidt, 43, Sänger, Gitarrist und Texter der Band „Muff Potter“, durch eine bestimmte Nacht, die „vor Corona“ jede Nacht zwischen Donnerstag und Montag hätte sein können. Und er erweist sich dabei als derart gewitzter und kluger Erzähler, dass es eben doch ein Glück ist, dass dieses Buch gerade jetzt kommt. Weil es sich unter den aktuellen Vorzeichen nicht nur liest wie eine verdiente Abschiedshymne auf diese ewig elektrisierte Großstadt, der das Virus den Stecker gezogen hat, und auf die Menschen, die dort zuhause sind, wo vor kurzem noch alle zusammenkamen, sondern überhaupt: auf das wunderbar distanzlose, unvorsichtige Leben von einst.
Nagelschmidts Nacht beginnt mit Heinz-Georg Bederitzky, Mitte fünfzig, einem chronisch verschuldeten Taxifahrer – „3000 Mark, das war die Basis, sein Sumpf, da kam er nie wieder raus. Einmal falsch abgebogen, und das Leben stellt dir für immer ein Bein“ –, der sich zum Musiker berufen fühlt und die CD mit seinenSongs scheinbar zufällig laufen lässt, hungrig nach Reaktionen seiner Fahrgäste.
Bederitzky stammt aus dem Osten, er hat aber schon 1988 rübergemacht, am 16. Juni war er dabei, als Pink Floyd auf der Westseite der Mauer ihr Konzert für die Ewigkeit gaben. Als es zu Ende war mit der Teilung und auch mit der Euphorie, ging Bederitzky zurück in den Osten, seine „Halleandersaalejahre“ nennt er das, in denen er für den MDR arbeitete, „eine kleine DDR für ihn, Behörde, grausam“, und schnell wieder abhaute, als es Ärger mit seinem wendehalsigen Chef gab, zurück nach Berlin, wo früher oder später landet, wer mehr will, aber wenig hat außer Träume.
Später in dieser Nacht will ein dubioser Fahrgast ausgerechnet nach Halle an der Saale, eine lukrative, aber ungelegen kommende Fahrt. Bederitzky ist der einzige von Nagelschmidts Protagonisten, der die Stadt verlässt, und er ist auch der einzige, aus dessen Perspektive mehrere Kapitel erlebt werden. Alle anderen Figuren haben nur einen Auftritt und tauchen anschließend höchstens durch die Augen der anderen auf. Bederitzky verbindet Stationen und Schicksale, er steuert liebenswürdig genervt durch das ganz normale Chaos. So fährt er den Dealer Felix, Flix genannt, und dessen Stammkunden Peppi mit den neuen Regalen vom Baumarkt zu Peppis Wohnung, in der Flix, der die Verwahrlosung des von ihm Versorgten nicht mehr aushält, für Struktur sorgen will. Früher war Flix der Koksdealer der Schönen und Coolen in Mitte, wo an diesem Abend, das spricht sich rum, das elitäre „Soho House“, in dem er damals ein- und ausging, in Flammen steht. Aber jetzt, nach einem Knastaufenthalt, sitzt er in seiner Küche inmitten vermeintlicher Freunde, die nicht runterkommen wollen, und merkt, dass er ganz unten angekommen ist.
Da ist Bederitzky in Gedanken längst zurück bei seiner Freundin Anna, dem „Ännchen“, dank der sich sein Leben endlich wieder nach Aufbruch anfühlt. Anna war auch einst geflohen, aber aus den westdeutschen Untiefen, „Berlin, das war ja ein Versprechen gewesen, der Gegenentwurf zu stickigen Enge zuhause in der Pfalz“. Aber nun, viele Jahr später, ist sie, ohne zu wissen, wie, eine viel zu belesene, viel zu müde, viel zu alte Kiosk-Besitzerin im zwanghaft jungen Teil Neuköllns geworden, wo sich die Säufer von früher und die Easyjet-Touristen von heute ihr „Sternburg“ und ihren „Pueblo-Tabak“ holen. Anna und Bederitzky gehören beide zur Infrastruktur einer Nacht, aus der sie selbst rausgefallen sind, sie sind einander Rettungsbojen in diesem wogenden Meer aus unerreichten und unerreichbaren Zielen.
Aber dann wird Anna in jener Nacht mal wieder überfallen in ihrem Kiosk, vom jungen Osman, der vor der Strenge seines großen Bruders und den lüsternen Blicken des Mannes, bei dem er Playstation spielen darf, davonrennt. Dieses vielstimmige Panorama, das Nagelschmidt entwirft, entfacht auch deshalb einen solchen Sog, weil er die Bewohner dieser Stadt sprechen lässt wie einer, der ihnen lange zugehört hat. Nicht nur zwangsläufig an den Tresen und in den U-Bahnen und Parks, nein, Nagelschmidt hat für seinen Roman, sagt er, gezielt recherchiert, unter Sanitätern, Polizisten oder Mitarbeitern der Straßenreinigung. Das merkt man.
„Scheiß Ökokreuzberg“, grummelt Tarek, der Kollege von Rettungswagen-Fahrerin Tanja, der sich unglücklicherweise in sie verliebt hat, nach einem weiteren blutigen Einsatz, „während er Zigaretten für sich und Tanja dreht, Lehrerkreuzberg, Vorabendserienkreuzberg, Leutemitgeldkreuzberg“.
Nagelschmidt, so scheint es, mag alle Kreuzbergs, sonst könnte er die verschiedenen Milieus nicht so fein sezieren. Er muss Berlin sprachlich nicht überhöhen, die Größe dieser Metropole, ihre ganzen Widersprüchlichkeiten, fängt er ein, indem er sie von allen Seiten betrachtet. Es gelingt ihm vokabelsicher und pointiert, die Lebenswelt eines Flüchtlings aus Guinea ebenso einzufangen wie die einer spanischen Lieferservice-Kurierin mit Monatsblutung oder eines Halbstarken mit migrantischen Wurzeln, sie alle irren suchend durch diesen Moloch, sie sind Berlin, und doch meist unsichtbar. Nagelschmidt braucht nur ein Kapitel, um ein ganzes Leben zu erzählen. Und nur eine Nacht, um das Herz der Stadt schlagen zu lassen. „Arbeit“ ist der erste große Berlin-Roman des 21. Jahrhunderts.
Am Ende wird dem Treiben, das an der Tür des fiktiven Clubs „Lobotomy“ zusammen und zu seinem Höhepunkt geführt wird, spektakulär unspektakulär ein Ende gesetzt. Der ganze Dreck muss weg. Egal, was vom Berliner Hedonismus des vergangenen Jahrzehnts eines Tages übrig sein wird, nun, da die Zwanzigerjahre eine Epoche des Abstands zu werden drohen: Dank Thorsten Nagelschmidt wird von dieser Nacht für immer etwas bleiben.
Thorsten Nagelschmidt: Arbeit. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 336 Seiten, 22 Euro.
„Berlin, das war ja ein
Versprechen gewesen, ein
Gegenentwurf“
Nagelschmidt braucht nur ein
Kapitel, um ein
ganzes Leben zu erzählen
Der Partybetrieb, der einzige funktionierende Wirtschaftszweig der Hauptstadt, liegt in Trümmern.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Runterkommen?
Thorsten Nagelschmidts Roman „Arbeit“ singt
eine vielstimmige Hymne auf die Werktätigen des Berliner Nachtlebens
VON PATRICK BAUER
Am ersten Wochenende im März wurde im Berliner Technoclub „Kater Blau”, dieser Bretterbude an der Spree, ein letztes Mal gefeiert. Das Virus war längst in der Stadt, aber noch eine ferne Nachricht. Die Veranstaltung hatte das Motto „Perlen für die Katz” und sollte planmäßig 36 Stunden dauern. Am Samstag, von 4 Uhr bis 21 Uhr, war unter den vielen Besuchern ein Mann, der sich mit COVID-19 infiziert hatte. Das kam jedoch erst ans Tageslicht, als diese unendliche Nacht bereits vergangen war, eine Woche später, als das Gesundheitsamt Friedrichshain-Kreuzberg alle Menschen, die am 6. und 7. März im „Kater“ getanzt hatten, bat, sich zu melden – und vorerst zuhause zu bleiben. Seitdem sind die Berliner Clubs, die in einem gesunden Jahr gut 170 Millionen Euro erwirtschaften, geschlossen, ihre 9000 Mitarbeiter entlassen oder in Kurzarbeit. Der Partybetrieb, der einzige wirklich funktionierende Wirtschaftszweig der Hauptstadt, liegt in Trümmern.
Es wirkt daher zunächst wie ein unglückliches Timing, dass Thorsten Nagelschmidts vierter Roman „Arbeit“, der den Menschen hinter diesem weltberühmten Berliner Nachtleben gewidmet ist, ausgerechnet jetzt erscheint. Nagelschmidt porträtiert in rauschhaft miteinander verwobenen Episoden elf Frauen und Männer, die zur Schlafenszeit schuften, damit die anderen feiern können. Darunter ein Dealer, der Rezeptionist eines Hostels oder ein Türsteher, also systemrelevante Schichtarbeiter des System „Ausgehen“, das in #stayathome-Zeiten irrelevanter nicht sein könnte, aber auch Helden des Spätdienstes, deren Bedeutung erst durch die Corona-Krise wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist: Eine Rettungssanitäterin, eine Streifenpolizistin. Sie alle begleitet Nagelschmidt, 43, Sänger, Gitarrist und Texter der Band „Muff Potter“, durch eine bestimmte Nacht, die „vor Corona“ jede Nacht zwischen Donnerstag und Montag hätte sein können. Und er erweist sich dabei als derart gewitzter und kluger Erzähler, dass es eben doch ein Glück ist, dass dieses Buch gerade jetzt kommt. Weil es sich unter den aktuellen Vorzeichen nicht nur liest wie eine verdiente Abschiedshymne auf diese ewig elektrisierte Großstadt, der das Virus den Stecker gezogen hat, und auf die Menschen, die dort zuhause sind, wo vor kurzem noch alle zusammenkamen, sondern überhaupt: auf das wunderbar distanzlose, unvorsichtige Leben von einst.
Nagelschmidts Nacht beginnt mit Heinz-Georg Bederitzky, Mitte fünfzig, einem chronisch verschuldeten Taxifahrer – „3000 Mark, das war die Basis, sein Sumpf, da kam er nie wieder raus. Einmal falsch abgebogen, und das Leben stellt dir für immer ein Bein“ –, der sich zum Musiker berufen fühlt und die CD mit seinenSongs scheinbar zufällig laufen lässt, hungrig nach Reaktionen seiner Fahrgäste.
Bederitzky stammt aus dem Osten, er hat aber schon 1988 rübergemacht, am 16. Juni war er dabei, als Pink Floyd auf der Westseite der Mauer ihr Konzert für die Ewigkeit gaben. Als es zu Ende war mit der Teilung und auch mit der Euphorie, ging Bederitzky zurück in den Osten, seine „Halleandersaalejahre“ nennt er das, in denen er für den MDR arbeitete, „eine kleine DDR für ihn, Behörde, grausam“, und schnell wieder abhaute, als es Ärger mit seinem wendehalsigen Chef gab, zurück nach Berlin, wo früher oder später landet, wer mehr will, aber wenig hat außer Träume.
Später in dieser Nacht will ein dubioser Fahrgast ausgerechnet nach Halle an der Saale, eine lukrative, aber ungelegen kommende Fahrt. Bederitzky ist der einzige von Nagelschmidts Protagonisten, der die Stadt verlässt, und er ist auch der einzige, aus dessen Perspektive mehrere Kapitel erlebt werden. Alle anderen Figuren haben nur einen Auftritt und tauchen anschließend höchstens durch die Augen der anderen auf. Bederitzky verbindet Stationen und Schicksale, er steuert liebenswürdig genervt durch das ganz normale Chaos. So fährt er den Dealer Felix, Flix genannt, und dessen Stammkunden Peppi mit den neuen Regalen vom Baumarkt zu Peppis Wohnung, in der Flix, der die Verwahrlosung des von ihm Versorgten nicht mehr aushält, für Struktur sorgen will. Früher war Flix der Koksdealer der Schönen und Coolen in Mitte, wo an diesem Abend, das spricht sich rum, das elitäre „Soho House“, in dem er damals ein- und ausging, in Flammen steht. Aber jetzt, nach einem Knastaufenthalt, sitzt er in seiner Küche inmitten vermeintlicher Freunde, die nicht runterkommen wollen, und merkt, dass er ganz unten angekommen ist.
Da ist Bederitzky in Gedanken längst zurück bei seiner Freundin Anna, dem „Ännchen“, dank der sich sein Leben endlich wieder nach Aufbruch anfühlt. Anna war auch einst geflohen, aber aus den westdeutschen Untiefen, „Berlin, das war ja ein Versprechen gewesen, der Gegenentwurf zu stickigen Enge zuhause in der Pfalz“. Aber nun, viele Jahr später, ist sie, ohne zu wissen, wie, eine viel zu belesene, viel zu müde, viel zu alte Kiosk-Besitzerin im zwanghaft jungen Teil Neuköllns geworden, wo sich die Säufer von früher und die Easyjet-Touristen von heute ihr „Sternburg“ und ihren „Pueblo-Tabak“ holen. Anna und Bederitzky gehören beide zur Infrastruktur einer Nacht, aus der sie selbst rausgefallen sind, sie sind einander Rettungsbojen in diesem wogenden Meer aus unerreichten und unerreichbaren Zielen.
Aber dann wird Anna in jener Nacht mal wieder überfallen in ihrem Kiosk, vom jungen Osman, der vor der Strenge seines großen Bruders und den lüsternen Blicken des Mannes, bei dem er Playstation spielen darf, davonrennt. Dieses vielstimmige Panorama, das Nagelschmidt entwirft, entfacht auch deshalb einen solchen Sog, weil er die Bewohner dieser Stadt sprechen lässt wie einer, der ihnen lange zugehört hat. Nicht nur zwangsläufig an den Tresen und in den U-Bahnen und Parks, nein, Nagelschmidt hat für seinen Roman, sagt er, gezielt recherchiert, unter Sanitätern, Polizisten oder Mitarbeitern der Straßenreinigung. Das merkt man.
„Scheiß Ökokreuzberg“, grummelt Tarek, der Kollege von Rettungswagen-Fahrerin Tanja, der sich unglücklicherweise in sie verliebt hat, nach einem weiteren blutigen Einsatz, „während er Zigaretten für sich und Tanja dreht, Lehrerkreuzberg, Vorabendserienkreuzberg, Leutemitgeldkreuzberg“.
Nagelschmidt, so scheint es, mag alle Kreuzbergs, sonst könnte er die verschiedenen Milieus nicht so fein sezieren. Er muss Berlin sprachlich nicht überhöhen, die Größe dieser Metropole, ihre ganzen Widersprüchlichkeiten, fängt er ein, indem er sie von allen Seiten betrachtet. Es gelingt ihm vokabelsicher und pointiert, die Lebenswelt eines Flüchtlings aus Guinea ebenso einzufangen wie die einer spanischen Lieferservice-Kurierin mit Monatsblutung oder eines Halbstarken mit migrantischen Wurzeln, sie alle irren suchend durch diesen Moloch, sie sind Berlin, und doch meist unsichtbar. Nagelschmidt braucht nur ein Kapitel, um ein ganzes Leben zu erzählen. Und nur eine Nacht, um das Herz der Stadt schlagen zu lassen. „Arbeit“ ist der erste große Berlin-Roman des 21. Jahrhunderts.
Am Ende wird dem Treiben, das an der Tür des fiktiven Clubs „Lobotomy“ zusammen und zu seinem Höhepunkt geführt wird, spektakulär unspektakulär ein Ende gesetzt. Der ganze Dreck muss weg. Egal, was vom Berliner Hedonismus des vergangenen Jahrzehnts eines Tages übrig sein wird, nun, da die Zwanzigerjahre eine Epoche des Abstands zu werden drohen: Dank Thorsten Nagelschmidt wird von dieser Nacht für immer etwas bleiben.
Thorsten Nagelschmidt: Arbeit. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020. 336 Seiten, 22 Euro.
„Berlin, das war ja ein
Versprechen gewesen, ein
Gegenentwurf“
Nagelschmidt braucht nur ein
Kapitel, um ein
ganzes Leben zu erzählen
Der Partybetrieb, der einzige funktionierende Wirtschaftszweig der Hauptstadt, liegt in Trümmern.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Eine Sanitäterin, ein Taxi-Fahrer, ein Dealer, jugendliche Taschendiebe, zwei Polizisten auf Streife, eine Fahrradkurierin, eine Späti-Besitzerin und viele mehr - dieser Roman wirft die Leser*innen in eine feierwütige Berliner Freitagnacht, der er sich aber aus Sicht der Arbeitenden nähert, erzählt Judith von Sternburg. Trotz der Vielfalt an Figuren und der kleinteiligen Handlungselemente verliert Thorsten Nagelschmidt nie den Faden und spielt gekonnt mit der Erwartung von Zusammenhängen, lobt die Kritikerin. Ihr Fazit: ein "atemberaubend gegenwärtiger Roman".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein klassischer Berlin-Roman, ein zeitgemäßer, sehr gegenwärtiger. Gerrit Bartels Der Tagesspiegel 20240222