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Es gibt sie wirklich: die DDR-Identität. Daran gewöhnt, sich immer auf die Staatsführung verlassen zu können, ist im Osten kaum jemand bereit, selbst zivile Verantwortung zu übernehmen, auch weil der Westen die Brüder und Schwestern in der ehemaligen DDR gern als Opfer eines Systems betrachtet. Dem Schlaraffenland bald ein Jahrzehnt angehörig, wartet man im Osten lieber auf die nächste Finanzspritze und schaut dem Aufbau zu, statt selbst aktiv zu werden. Dabei greift die Ostmentalität bereits besorgniserregend auf den Westen über. Genaue Beobachtungen und Interviews sind der Stoff dieses…mehr

Produktbeschreibung
Es gibt sie wirklich: die DDR-Identität. Daran gewöhnt, sich immer auf die Staatsführung verlassen zu können, ist im Osten kaum jemand bereit, selbst zivile Verantwortung zu übernehmen, auch weil der Westen die Brüder und Schwestern in der ehemaligen DDR gern als Opfer eines Systems betrachtet. Dem Schlaraffenland bald ein Jahrzehnt angehörig, wartet man im Osten lieber auf die nächste Finanzspritze und schaut dem Aufbau zu, statt selbst aktiv zu werden. Dabei greift die Ostmentalität bereits besorgniserregend auf den Westen über. Genaue Beobachtungen und Interviews sind der Stoff dieses analytischen Essays, der die Folgen der Wiedervereinigung provozierend ins Licht rückt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.1999

Dritte Welt
Eine Schmähschrift wider die Neuländler

Thomas Roethe: Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl. Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist. Eichborn Verlag 1999. 192 Seiten, 29,80 Mark.

Wenigstens im Vorwort hätte Thomas Roethe eine sportliche Verbeugung machen können, wie es der Fechter tut, bevor er die Maske übers Gesicht zieht und die Klinge ausfährt. Roehte aber sticht gleich zu. "Die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik," so legt er schon auf den ersten zehn Zeilen los, habe "in furiosem Ausmaß aus deutschen Stammlanden eine Subkultur der dritten Welt gemacht." Nicht eine ferne Sowjetmacht, nicht das Zentralkomitee der SED oder ein anonymes kommunistisches System haben die DDR zugrunde gerichtet, nein, 16 Millionen Menschen haben es selbst getan und wollen es jetzt nur nicht mehr gewesen sein.

Dass das "System" versagt habe, hält Roethe für eine faule Ausrede. Vierzig Jahre lang habe sich die Partei- und Staatsmacht redlich bemüht, die Leute zu ordentlicher Arbeit anzuhalten. In allen Parolen und Parteitagsbeschlüssen sei es um nichts Anderes gegangen. Aber dieses Volk habe sich einfach nicht darum geschert. Es habe die Diktatur des Proletariats an sich gerissen und sich einen gemütlichen Lenz verordnet. Roethe weiß sogar noch genau, wann die SED die Herrschaft verlor: es war der 17. Juni 1953. Mitnichten hätten die Berliner Bauarbeiter damals den Sozialismus weghaben wollen. Vielmehr hätten sie nur die Einlösung seiner Versprechungen vom besseren Leben im Sozialismus eingefordert, und zwar erfolgreich. Folgt man Roethe weiter, so war der Unterdrückungsapparat der DDR nur für ganz wenige wirklich bedrohlich, gab es doch ein umfassendes Beschwerdewesen, von dem im Jahresdurchschnitt 750 000 Bürger "per Eingabe" Gebrauch machten. Und wie sie da vom Leder gezogen hätten, staunt der Autor. Ja, im Beschweren seien die Ostdeutschen wirklich groß gewesen, wenn sie einen kaputten Kühlschrank oder einen flimmernden Fernseher bekommen hätten. Aber selbst bessere Kühlschränke zu bauen, sei ihnen im Traum nicht eingefallen. Kann sich einer wirklich mit der DDR auseinandergesetzt haben, der die Überdruckventile der Diktatur mit der Mechanik der Meinungsfreiheit verwechselt?

Der Soziologe Roethe ist nach der Wende viel in Neu-Land herumgefahren, privat mit der Familie und dienstlich mit Interviewbögen. Wo er auch hinkam, traf er nur "Bürger der Deutschen Demokratischen Republik", die sich durch Dümmlichkeit, Arroganz, parasitären Lebensstil sowie durch eine ausgesprochen feindselige Grundhaltung gegen Westdeutsche, gegen Demokratie und Marktwirtschaft auszeichneten. Von anderen jedenfalls berichtet er nicht. Allerdings haben es die Ostdeutschen auch schwer, es unserem Wessi recht zu machen. Hatte sich einer nicht die Ziegel für sein Dach einfach selbst gebrannt, war er ein typischer Drückeberger. Wollte einer mit seinem Improvisationstalent glänzen, das aus billigem Stahlblech Muttern mit M8-Gewinde zaubern konnte, war es auch falsch, nämlich völlig unwirtschaftlich. Ungenießbar wird die durchaus spritzig vorgetragene Moritat durch penetrante Verweise darauf, um wie viel zupackender und verantwortungsvoller doch der im Westen sozialisierte Mensch sei.

Dabei möchte man Roethe gern auch zustimmen, wenn er die weit verbreitete Geschichtsverweigerung in Ostdeutschland anprangert, wenn er die viel gerühmte "Solidarität" der DDR-Bevölkerung als "Gemeinschaft der Abgreifer" mit durchaus kriminellen Zügen charakterisiert. Oder wenn er den von der SED gezüchteten Dünkel der Ostdeutschen gegenüber ihren polnischen Nachbarn aufspießt und als ideologische Konstante bei den Wählern von PDS und DVU wiederfindet. Verständlich ist sein Grimm über "die vorwiegend arbeitslosen Wittenberger", die am liebsten im Eiscafé sitzen und polnischen Malochern beim Pflastern ihrer schönen Plätze zusehen.

Roethes "Plädoyer für das Ende der Schonfrist" trifft recht genau die vorherrschende Gemütslage im zehnten Jahr der Vereinigung. Sie ist gereizt und zunehmend übelnehmerisch. "Wie Besatzungstruppen" hätten sich die Westdeutschen in der ehemaligen DDR aufgeführt, schimpft der Hamburger Rechtsanwalt Heinrich Senfft. Sie erst hätten dieses Land "wirtschaftlich und seelisch verwüstet". Roethe bellt zurück, ein paar ordentliche Lektionen demokratischer Reeducation, wie die Westdeutschen sie von den Siegermächten eingetrichtert bekamen, hätten den Ostdeutschen sicher gut getan, nur leider seien sie versäumt worden. "Ende der Schonfrist" ist eine ziemlich rüde Aufforderung, dem Resozialisierungsfall "DDR-Bevölkerung" gegenüber härtere Saiten aufzuziehen. Ein Plädoyer ist es nicht, denn vor Gericht muss der Ankläger auch sagen, was für den Angeklagten spricht.

STEFAN DIETRICH

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Zwar findet Rezensent Uwe Jean Heuser, dass es längst überfällig ist, Missverständnisse zwischen Ost und West zu klären. Allerdings äußert er deutliche Zweifel daran, dass Thomas Roethes Buch dazu einen konstruktiven Beitrag leistet. Er respektiert durchaus Roethes Absicht zu provozieren, um eine Debatte in Gang zu bringen, findet jedoch, dass die Auflistung von Klischees und Vorurteilen eher wie eine Abrechnung wirkt, die die "Grenze zum Zynismus" streife. Darauf kann "niemand mit einer vorurteilsfreien Diskussion antworten", so Heuser.

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