Das Buch ist in vielerlei Hinsicht einzigartig. Es ist die erste Gesamtdarstellung des Arbeitskampfes in der deutschen Geschichte. Es bietet eine geradezu spannend erzählte Gesamtdarstellung der Arbeitskämpfe, ihrer historischen Situation und ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen. Das Werk führt bis in die Gegenwart und lässt besonders deutlich die aktuellen Entwicklungslinien erkennen.Das Werk beginnt mit dem "Streik" der thebanischen Nekropolenarbeiter 1155 v. Chr., führt über die Streiks von Handwerksgesellen durch das Zeitalter des Kapitalismus bis in die Gegenwart.Einbezogen werden England und Frankreich, die für die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert Vorbilder waren. Für die Gegenwart wird ein Vergleich mit westlichen Industrieländern gezogen.Die Darstellung wird anschaulich durch eingehende Fallschilderungen von über 65 Arbeitskonflikten: Vom ersten Arbeitskampf auf deutschem Boden in Breslau 1329 bis zum Streik in der ostdeutschen Metallindustrie 2003. Dabei werden alle berühmten Arbeitskonflikte der deutschen Geschichte ausführlich geschildert: wie z.B. der Aufstand der schlesischen Weber, die Bergbaustreiks im 19. Jahrhundert, der Munitionsarbeiterstreik 1918, der Generalstreik gegen den Kapp-Putsch, der Volksaufstand am 17. Juni in Ostdeutschland, der Streik in Schleswig-Holstein um die Lohnfortzahlung und der Großkonflikt um die 35-Stunden-Woche 1984.Die menschliche Arbeit und die Konflikte um die Arbeitsbedingungen werden dargestellt als Teil der ökonomischen und politischen Entwicklung und wie die Rechtsordnung damit umgeht. Das Buch stellt die zentralen Rechtsvorschriften im Wortlaut dar. Es berichtet zugleich von den rechtspolitischen Kämpfen.Umgekehrt werden die Hauptlinien der zeitgenössischen Entwicklung an dem für sie jeweils repräsentativen Arbeitskampfgeschehen deutlich.Erstmals wird die Arbeitskampfgeschichte der Bundesrepublik als ein hinter uns liegender, abgeschlossener Abschnitt dargestellt und analysiert.Die historischen Erkenntnisse werden in einem Schlusskapitel zu einer Bewertung der aktuell vor uns liegenden Entwicklung genutzt. Damit leistet das Buch zugleich einen Beitrag zu einer nicht nur oberflächlich polemisch geführten "Kapitalismus-Debatte".Der Verfasser gehört als Professor für Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht mit zahlreichen Publikationen zu den angesehensten Arbeitsrechtswissenschaftlern Deutschlands. Daneben war er fast 25 Jahre Justitiar der IG Metall. In dieser Funktion hat er das gesamte Arbeitskampfgeschehen als Insider begleitet und maßgeblichen Einfluss auf die rechtspolitische Entwicklung genommen. Er war ferner langjähriger Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung, zu deren Stiftungszweck die Geschichte der Arbeiterbewegung gehört, und verfügt dadurch über große Erfahrungen mit historischen Themen. Diese einzigartige Verbindung von Theorie und Praxis prädestiniert Michael Kittner wie keinen anderen zu einer integrierten Gesamtdarstellung von Geschichte, Recht und Gegenwart des Arbeitskampfes.Für Leser mit Interesse an Geschichte, Arbeitswelt, Politik, Gesellschaft, Rechtsgeschichte, Arbeitsrecht sowie für die Konfliktparteien bei Arbeitskämpfen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2005Packt eure Kittel und geht
Unter Ramses III. waren die Staatsfinanzen Ägyptens so zerrüttet, daß im Oktober 1155 v. Chr. selbst die Nekropolenarbeiter von Theben, hochspezialisierte Staatsbedienstete, keinen Lohn (neun Sack Gerste) mehr erhielten. Beschwerden fruchteten nichts, so daß die Arbeiter beschlossen, die Arbeit einzustellen und sich vor dem Totentempel Tutmosis' III. niederzusetzen. Der erste bekannte Streik der Weltgeschichte erfüllt alle Anforderungen der wissenschaftlichen Definition eines Arbeitskampfes: "Ausübung von ökonomischem Druck bei der Erbringung von abhängiger Arbeit". Michael Kittner, der jetzt die erste historische Gesamtdarstellung des Arbeitskampfes vorlegt, vergleicht die Nekropolenarbeiter mit den Flugzeugpiloten heute: unersetzbare Spezialisten, deren Streiks hohe Erfolgsaussichten haben.
Kittner ist emeritierter Professor für Arbeitsrecht. Er war zugleich 25 Jahre lang Justitiar der IG Metall (und wurde 1996 von Gewerkschaftschef Klaus Zwickel als Bauernopfer in einer Affäre um überteuerte Immobilienkäufe und exorbitante Honorarzahlungen gefeuert). Kittner erzählt spannend die Geschichte kollektiver Arbeitsbeziehungen von den organisierten Gesellenvereinen des Mittelalters bis heute. Aus seiner Sympathie mit den Erfolgen der Arbeiterbewegung macht er keinen Hehl. Zum Dokument wird das Buch, wenn Kittner über Auseinandersetzungen berichtet, die er als juristischer Akteur begleitet hat: vor allem der große Streik 1984 um die 35-Stunden-Woche. "Packt eure Kittel und geht heim", rief Zwickel den Sindelfinger Daimler-Arbeitern zu, womit er dem Arbeitskampf eine wichtige Wende brachte.
Kittner endet in Melancholie: angesichts der Abwanderungsdrohung der Arbeitgeber in Zeiten der Globalisierung und der Individualisierung der Arbeitsvertragsbeziehungen schwindet die kollektive Arbeitermacht. Das braucht man nicht unbedingt zu bedauern.
ank.
Michael Kittner: Arbeitskampf. C. H. Beck Verlag 2005. 39,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Unter Ramses III. waren die Staatsfinanzen Ägyptens so zerrüttet, daß im Oktober 1155 v. Chr. selbst die Nekropolenarbeiter von Theben, hochspezialisierte Staatsbedienstete, keinen Lohn (neun Sack Gerste) mehr erhielten. Beschwerden fruchteten nichts, so daß die Arbeiter beschlossen, die Arbeit einzustellen und sich vor dem Totentempel Tutmosis' III. niederzusetzen. Der erste bekannte Streik der Weltgeschichte erfüllt alle Anforderungen der wissenschaftlichen Definition eines Arbeitskampfes: "Ausübung von ökonomischem Druck bei der Erbringung von abhängiger Arbeit". Michael Kittner, der jetzt die erste historische Gesamtdarstellung des Arbeitskampfes vorlegt, vergleicht die Nekropolenarbeiter mit den Flugzeugpiloten heute: unersetzbare Spezialisten, deren Streiks hohe Erfolgsaussichten haben.
Kittner ist emeritierter Professor für Arbeitsrecht. Er war zugleich 25 Jahre lang Justitiar der IG Metall (und wurde 1996 von Gewerkschaftschef Klaus Zwickel als Bauernopfer in einer Affäre um überteuerte Immobilienkäufe und exorbitante Honorarzahlungen gefeuert). Kittner erzählt spannend die Geschichte kollektiver Arbeitsbeziehungen von den organisierten Gesellenvereinen des Mittelalters bis heute. Aus seiner Sympathie mit den Erfolgen der Arbeiterbewegung macht er keinen Hehl. Zum Dokument wird das Buch, wenn Kittner über Auseinandersetzungen berichtet, die er als juristischer Akteur begleitet hat: vor allem der große Streik 1984 um die 35-Stunden-Woche. "Packt eure Kittel und geht heim", rief Zwickel den Sindelfinger Daimler-Arbeitern zu, womit er dem Arbeitskampf eine wichtige Wende brachte.
Kittner endet in Melancholie: angesichts der Abwanderungsdrohung der Arbeitgeber in Zeiten der Globalisierung und der Individualisierung der Arbeitsvertragsbeziehungen schwindet die kollektive Arbeitermacht. Das braucht man nicht unbedingt zu bedauern.
ank.
Michael Kittner: Arbeitskampf. C. H. Beck Verlag 2005. 39,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.10.2005Am Ende der Solidarität?
Michael Kittner, langjähriger Justitiar der IG Metall, schreibt eine Geschichte des Arbeitskampfs / Von Heinz Dürr
Genie ist Fleiß, sagt Goethe. Eine Fleißarbeit ist das fast 800 Seiten starke Werk „Arbeitskampf - Geschichte, Recht, Gegenwart” von Michael Kittner, dem einstigen Justiziar der IG Metall, sicherlich. Bis zum letzten Detail wird die Materie bearbeitet, politisch, rechtlich, zeitgeschichtlich. Der Bogen wird dabei außerordentlich weit geschlagen: Von der Arbeitsniederlegung der thebanischen Nekropolenarbeiter im Jahr 1155 vor Christi - das waren etwa vierzig hoch spezialisierte Handwerker, die für die Ausführung der im altägyptischen Staat sehr wichtigen Totenstädte zuständig waren - über Arbeitskämpfe in den Reichsstädten, die Reichszunftordnung, Gewerbefreiheit, Koalitionsfreiheit nach 1848, das Klassenrecht im Kaiserreich, altneues Arbeitskampfrecht in der Weimarer Republik, die Arbeitsverfassung unter dem Führerprinzip im Nationalsozialismus, die Weichenstellungen für die Wirtschaftsordnung und ein neues Arbeitskampfrecht in der Nachkriegszeit, fünfzig Jahre Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik - bis hin zu einem Epilog, den der Verfasser mit der Frage beginnt: Stehen wir am Anfang eines neuen Geschichtsabschnitts?
Eine wahrhaft allumfassende Beschreibung der Geschichte des Arbeitskampfes, bei der es im Grunde immer nur um Verteilungskämpfe ging, Verteilung von Materiellem, aber auch Immateriellem, wie Ehre, gesellschaftlicher Position oder purer Macht.
Warum und wozu hat Michael Kittner dieses Riesenwerk geschrieben? Dazu gibt er selbst in der Einleitung Auskunft: Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer hat er 25 Jahre die IG Metall als Justitiar beraten und dabei als Arbeitsrechtswissenschaftler die einmalige Chance gehabt, die Kernfragen der eigenen Disziplin als Praktiker kennen zu lernen und mitzugestalten.
Ich habe Michael Kittner beim Mitgestalten erlebt. Damals im Arbeitskampf der Metallindustrie 1978, bei der es weniger um Löhne als um politische Forderungen ging, unter anderem nach kollektiver Lohnsicherung. Und bei der mir - als damaligem Vorsitzenden des Verbandes der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden - Kittner als Mitglied der Verhandlungskommission nicht nur bei den Auftaktgesprächen und der Schlichtung, sondern auch bei den Abschlussgesprächen gegenüber saß. Da es um eine sehr komplexe Materie ging, die selbst für die meisten in der IG Metall fast zu komplex war, führte Kittner das Wort. Nicht als federfuchsender Jurist, sondern durchaus als politisch denkender Professor.
Und so hat er auch sein Buch geschrieben: juristisch präzise mit sehr vielen Quellenangaben, aber im Endergebnis eben doch aus der Sicht eines Beobachters, dem es um die politische und menschliche Seite einer Entwicklung
in frühindustrialisierten Gesellschaften ging. Dass er sich auch sehr mit den Zünften und deren Regeln beschäftigte, sehe ich eher als Vorlage für den seit
dem 17. Jahrhundert entstehenden Kapitalismus.
Übrigens fördert Kittner in diesem Zusammenhang zu Tage, dass schon zu jener Zeit ein heute noch aktuelles Thema schier unüberwindlich war: die Bürokratie. Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten”, in dem auch die Arbeitsverfassung geregelt war, war ein Gesetz mit 19 194 Paragraphen. Dabei hatte Friedrich der Große schon am Rande eines ersten Teilentwurfs schriftlich gemahnt: „Es is aber sehr Dicke und Gesetze müssen kurzt und nicht Weitläufig seindt.” Eine Warnung ohne nachhaltigen Erfolg, wie sich bis heute zeigt.
Besonders faszinierend für Nichtjuristen ist die Beschreibung der 61 Arbeitskämpfe. Immer wieder wird gezeigt, welche Rolle einzelne Persönlichkeiten in den Auseinandersetzungen gespielt haben.
Kittner ist eine ausgewogene historische Untersuchung gelungen. Er hat sich dabei von zahlreichen Experten beraten und inspirieren lassen. Hin und wieder ist zu spüren, dass er mehr auf der Seite der Lohnabhängigen steht. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass er weniger Insiderkenntnisse des Arbeitgeberlagers hatte. „Links” ist er nicht. Da hat er sowieso seine Zweifel, wenn er zum Beispiel den Häuptern der Französischen Revolution jegliches Interesse für die Lage der Arbeiter abspricht und meint: „Links” - wenn das Wort bezogen auf sie überhaupt einen Sinn hat - waren die Häupter der Revolution nur im Bereich der Ideen!
Münteferings Tierwelt
Nachdenklichkeit zeichnet das letzte Kapitel aus, das er sinnigerweise mit „Epilog” überschrieben hat. Wie entwickeln sich Verteilungskonflikte - die Urkonflikte zwischen Menschen - in einer von Spätkapitalismus geprägten Gesellschaft? Was nützt ein immer besser austariertes Tarifvertragssystem in einer von der Finanzwelt dominierten Ökonomie? Und welche Rolle können dabei Gewerkschaften spielen? Kittner meint hierzu, dass die Gewerkschaften keinen Rückhalt im Reich der Ideen hätten. Die Grundidee der Gewerkschaften, nämlich die Solidarität, spricht in einer Zeit zunehmender Individualisierung immer weniger Menschen an. Ob die deregulierte Dezentralisierung von Verteilungskonflikten, sprich Arbeitskonflikten, die Lösung ist, wird nicht abschließend behandelt.
Dann stellt er noch die uralte Frage, ob der Kapitalismus den Frieden mit den arbeitenden Menschen gemacht hat und zitiert Helmut Schmidt, der Ende 2003 meinte: „Das Verbot, dass Unternehmen die Löhne ihrer Mitarbeiter selbst bestimmen können, gehört abgeschafft.” Dazu nochmals Kittner: Im Kapitalismus habe die Teilidee des gerechten Lohns keine Heimat in der Generalidee, nämlich den Unternehmensgewinn als Grundlage der Produktion zu sehen. So kommt man zwangsläufig zu der in diesem Jahr vom SPD-Vorsitzenden und designierten Arbeitsminister Müntefering mit Begriffen aus der Tierwelt angestoßenen Kapitalismusdebatte, die sehr oberflächlich und holzschnittartig in den Medien geführt wurde. Aber die Diskussion wird weiter gehen, es wird um die Grundwerte unserer Gesellschaft gehen. Ob es dabei auch Arbeitskämpfe geben wird?
Epilog heißt Schlussrede. Von Schluss kann man bei Kittners Thema nicht reden. Aber etwas darüber zu erfahren, wo unsere spätkapitalistische Gesellschaft herkommt, dabei hilft Kittners Werk allemal.
MICHAEL KITTNER: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2005. 783 Seiten, 39,90 Euro.
Der Rezensent führte das Familienunternehmen Dürr AG, deren Aufsichtsratschef er ist. Er war Vorstandsvorsitzender der AEG und der Deutschen Bahn.
Am 20. Januar 1988 marschierte die Belegschaft des Stahlwerks Duisburg-Rheinhausen im Protest gegen die Schließungspläne der Krupp Stahl AG zur Rheinhausener Rheinbrücke und taufte diese in „Brücke der Solidarität” um.
Foto: Manfred Vollmer
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Michael Kittner, langjähriger Justitiar der IG Metall, schreibt eine Geschichte des Arbeitskampfs / Von Heinz Dürr
Genie ist Fleiß, sagt Goethe. Eine Fleißarbeit ist das fast 800 Seiten starke Werk „Arbeitskampf - Geschichte, Recht, Gegenwart” von Michael Kittner, dem einstigen Justiziar der IG Metall, sicherlich. Bis zum letzten Detail wird die Materie bearbeitet, politisch, rechtlich, zeitgeschichtlich. Der Bogen wird dabei außerordentlich weit geschlagen: Von der Arbeitsniederlegung der thebanischen Nekropolenarbeiter im Jahr 1155 vor Christi - das waren etwa vierzig hoch spezialisierte Handwerker, die für die Ausführung der im altägyptischen Staat sehr wichtigen Totenstädte zuständig waren - über Arbeitskämpfe in den Reichsstädten, die Reichszunftordnung, Gewerbefreiheit, Koalitionsfreiheit nach 1848, das Klassenrecht im Kaiserreich, altneues Arbeitskampfrecht in der Weimarer Republik, die Arbeitsverfassung unter dem Führerprinzip im Nationalsozialismus, die Weichenstellungen für die Wirtschaftsordnung und ein neues Arbeitskampfrecht in der Nachkriegszeit, fünfzig Jahre Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik - bis hin zu einem Epilog, den der Verfasser mit der Frage beginnt: Stehen wir am Anfang eines neuen Geschichtsabschnitts?
Eine wahrhaft allumfassende Beschreibung der Geschichte des Arbeitskampfes, bei der es im Grunde immer nur um Verteilungskämpfe ging, Verteilung von Materiellem, aber auch Immateriellem, wie Ehre, gesellschaftlicher Position oder purer Macht.
Warum und wozu hat Michael Kittner dieses Riesenwerk geschrieben? Dazu gibt er selbst in der Einleitung Auskunft: Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer hat er 25 Jahre die IG Metall als Justitiar beraten und dabei als Arbeitsrechtswissenschaftler die einmalige Chance gehabt, die Kernfragen der eigenen Disziplin als Praktiker kennen zu lernen und mitzugestalten.
Ich habe Michael Kittner beim Mitgestalten erlebt. Damals im Arbeitskampf der Metallindustrie 1978, bei der es weniger um Löhne als um politische Forderungen ging, unter anderem nach kollektiver Lohnsicherung. Und bei der mir - als damaligem Vorsitzenden des Verbandes der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbaden - Kittner als Mitglied der Verhandlungskommission nicht nur bei den Auftaktgesprächen und der Schlichtung, sondern auch bei den Abschlussgesprächen gegenüber saß. Da es um eine sehr komplexe Materie ging, die selbst für die meisten in der IG Metall fast zu komplex war, führte Kittner das Wort. Nicht als federfuchsender Jurist, sondern durchaus als politisch denkender Professor.
Und so hat er auch sein Buch geschrieben: juristisch präzise mit sehr vielen Quellenangaben, aber im Endergebnis eben doch aus der Sicht eines Beobachters, dem es um die politische und menschliche Seite einer Entwicklung
in frühindustrialisierten Gesellschaften ging. Dass er sich auch sehr mit den Zünften und deren Regeln beschäftigte, sehe ich eher als Vorlage für den seit
dem 17. Jahrhundert entstehenden Kapitalismus.
Übrigens fördert Kittner in diesem Zusammenhang zu Tage, dass schon zu jener Zeit ein heute noch aktuelles Thema schier unüberwindlich war: die Bürokratie. Das „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten”, in dem auch die Arbeitsverfassung geregelt war, war ein Gesetz mit 19 194 Paragraphen. Dabei hatte Friedrich der Große schon am Rande eines ersten Teilentwurfs schriftlich gemahnt: „Es is aber sehr Dicke und Gesetze müssen kurzt und nicht Weitläufig seindt.” Eine Warnung ohne nachhaltigen Erfolg, wie sich bis heute zeigt.
Besonders faszinierend für Nichtjuristen ist die Beschreibung der 61 Arbeitskämpfe. Immer wieder wird gezeigt, welche Rolle einzelne Persönlichkeiten in den Auseinandersetzungen gespielt haben.
Kittner ist eine ausgewogene historische Untersuchung gelungen. Er hat sich dabei von zahlreichen Experten beraten und inspirieren lassen. Hin und wieder ist zu spüren, dass er mehr auf der Seite der Lohnabhängigen steht. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass er weniger Insiderkenntnisse des Arbeitgeberlagers hatte. „Links” ist er nicht. Da hat er sowieso seine Zweifel, wenn er zum Beispiel den Häuptern der Französischen Revolution jegliches Interesse für die Lage der Arbeiter abspricht und meint: „Links” - wenn das Wort bezogen auf sie überhaupt einen Sinn hat - waren die Häupter der Revolution nur im Bereich der Ideen!
Münteferings Tierwelt
Nachdenklichkeit zeichnet das letzte Kapitel aus, das er sinnigerweise mit „Epilog” überschrieben hat. Wie entwickeln sich Verteilungskonflikte - die Urkonflikte zwischen Menschen - in einer von Spätkapitalismus geprägten Gesellschaft? Was nützt ein immer besser austariertes Tarifvertragssystem in einer von der Finanzwelt dominierten Ökonomie? Und welche Rolle können dabei Gewerkschaften spielen? Kittner meint hierzu, dass die Gewerkschaften keinen Rückhalt im Reich der Ideen hätten. Die Grundidee der Gewerkschaften, nämlich die Solidarität, spricht in einer Zeit zunehmender Individualisierung immer weniger Menschen an. Ob die deregulierte Dezentralisierung von Verteilungskonflikten, sprich Arbeitskonflikten, die Lösung ist, wird nicht abschließend behandelt.
Dann stellt er noch die uralte Frage, ob der Kapitalismus den Frieden mit den arbeitenden Menschen gemacht hat und zitiert Helmut Schmidt, der Ende 2003 meinte: „Das Verbot, dass Unternehmen die Löhne ihrer Mitarbeiter selbst bestimmen können, gehört abgeschafft.” Dazu nochmals Kittner: Im Kapitalismus habe die Teilidee des gerechten Lohns keine Heimat in der Generalidee, nämlich den Unternehmensgewinn als Grundlage der Produktion zu sehen. So kommt man zwangsläufig zu der in diesem Jahr vom SPD-Vorsitzenden und designierten Arbeitsminister Müntefering mit Begriffen aus der Tierwelt angestoßenen Kapitalismusdebatte, die sehr oberflächlich und holzschnittartig in den Medien geführt wurde. Aber die Diskussion wird weiter gehen, es wird um die Grundwerte unserer Gesellschaft gehen. Ob es dabei auch Arbeitskämpfe geben wird?
Epilog heißt Schlussrede. Von Schluss kann man bei Kittners Thema nicht reden. Aber etwas darüber zu erfahren, wo unsere spätkapitalistische Gesellschaft herkommt, dabei hilft Kittners Werk allemal.
MICHAEL KITTNER: Arbeitskampf. Geschichte, Recht, Gegenwart. Verlag C. H. Beck, München 2005. 783 Seiten, 39,90 Euro.
Der Rezensent führte das Familienunternehmen Dürr AG, deren Aufsichtsratschef er ist. Er war Vorstandsvorsitzender der AEG und der Deutschen Bahn.
Am 20. Januar 1988 marschierte die Belegschaft des Stahlwerks Duisburg-Rheinhausen im Protest gegen die Schließungspläne der Krupp Stahl AG zur Rheinhausener Rheinbrücke und taufte diese in „Brücke der Solidarität” um.
Foto: Manfred Vollmer
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
So ernüchternd das Fazit dieses Bandes, so wertvoll seine Lektüre, meint Nico Fickinger, schlägt allerdings vor, das Buch doch von hinten zu lesen, weil erst im Epilog der (scheiternde) Versuch des Autors offenbar werde, ein in der Geschichte des Arbeitskampfes angelegtes Fortschrittsprinzip auszumachen. Die "erste historische Gesamtdarstellung des Arbeitskampfes", die der Band von vorn gelesen vorstellt, hat Fickinger allerdings gleichfalls beeindruckt. Das vom Autor aufgemachte mächtige Fass an Historie, so erklärt er, schmälere "das Bedauern darüber, dass die Bundesrepublik Deutschland erst auf Seite 596 auftritt." Und wenn der schonungslosen Beschreibung veränderter Bedingungen im Arbeitskampf in diesem Buch keine Gestaltungsvorschläge folgen, so findet der Rezensent auch daran etwas Positives: Es regt zum Weiterdenken an.
© Perlentaucher Medien GmbH
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