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Kurz vor dem Abitur kehrt Marie ihrem bürgerlichen Elternhaus den Rücken, um sich selbst zu erkunden. Ihre spirituelle Sehnsucht verschlägt sie in eine Welt der Heilsversprechungen. Sie bereist ein fremdes Land, in dem sie nur auf Gleichgesinnte trifft: NewAge-Touristen, denen in Know-your-true-Self-Kursen und You-are-the-Buddha-Workshops ein "hypermentales Bewußtsein" versprochen wird. In der sogenannten Morgenstadt werden Weisheiten ebenso verkauft wie Starbucks-Kaffee und Ethno-Kitsch. Zur sozialen Realität vor Ort steht die schöne Welt der Esoterik jedoch in einem Verhältnis der Ignoranz…mehr

Produktbeschreibung
Kurz vor dem Abitur kehrt Marie ihrem bürgerlichen Elternhaus den Rücken, um sich selbst zu erkunden. Ihre spirituelle Sehnsucht verschlägt sie in eine Welt der Heilsversprechungen. Sie bereist ein fremdes Land, in dem sie nur auf Gleichgesinnte trifft: NewAge-Touristen, denen in Know-your-true-Self-Kursen und You-are-the-Buddha-Workshops ein "hypermentales Bewußtsein" versprochen wird. In der sogenannten Morgenstadt werden Weisheiten ebenso verkauft wie Starbucks-Kaffee und Ethno-Kitsch. Zur sozialen Realität vor Ort steht die schöne Welt der Esoterik jedoch in einem Verhältnis der Ignoranz und Ausbeutung. Marie spürt diesen Widersprüchen nach und verliebt sich in einen Mann, der wie sie auf der Grenze zwischen metaphysischer Sinnsuche und kapitalistischer Wirklichkeit balanciert. Sie fühlt die latente Spannung, die am Ende eskaliert.
Archanu, das ist der Name der Einheimischen für jenen subtropischen Ort, an dem Europäer ihre Kolonie"Morgenstadt"errichtet haben, in der nur bleiben darf, wer in völligem Einklang mit sich und der Welt zu leben verspricht. Marie hat einiges auf sich genommen, um dorthin zu gelangen. Kurz vor dem Abitur hat sie sich über die Widerstände ihrer Eltern hinweggesetzt und sämtliche Warnungen des Sektenberaters Ganto in den Wind geschlagen: Marie will sich ihren eigenen Eindruck von diesem angeblich nur"etwas zu groß geratenen Bioladen im Dschungel"machen. Und sie gerät mitten hinein in verwirrende Tatsachen. Hier, wo die Leute vom You-are-the-Buddha-Workshop nach einer Atempause beim Weizengrasdrink zum Dienst an der Natur in den Freedom Forest eilen, kann sie sich leicht selbst davon überzeugen, wie die Morgenstädter sich in ihre eigenen ideologischen Widersprüche verstricken und wie der Widerstand der Einheimischen gegen die begüterten Heilsbringer immer mehr an Schärfe zunimmt. Von
all dem will sie Ganto, ihrem"Teufelsaustreiber", berichten, in den - und das muß sie sich allmählich eingestehen - sie sich offenbar verliebt hat. Archanu ist die Geschichte eines Aufbruchs zur Wahrheitssuche und die Geschichte vom Einbruch der Idee, irgendwo im Nirgendwo könne gänzlich unabhängig vom Bestehenden eine kleine heile Welt entstehen.
Autorenporträt
Ulla Lenze wurde 1973 in Mönchengladbach geboren. Sie absolvierte ein Studium der Musik und der Philosophie. 2002/03 war sie Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Für ihren Debütroman "Schwester und Bruder" wurde sie 2003 mit dem Jürgen Ponto-Preis, dem Rolf Dieter Brinkmann-Förderpreis der Stadt Köln und beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb mit dem Ernst Willner-Preis ausgezeichnet."
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.09.2008

Sprich mit deinem Sektenbeauftragten

Trotzkopf sucht inneres Indien und findet Mann - das klingt ein bißchen nach Hesse. Ulla Lenze macht aus diesem Stoff einen Erleuchtungsroman ganz ohne trübe Funzeln und käufliche Weisheiten nach dem Motto: Das Denken löst nur Probleme, die es selbst geschaffen hat.

Ohne Gläubigkeit, glaubt Marie, kann man kein Utopia bauen, nicht lieben, nicht einmal eine Party feiern. "Ohne Gott oder Jesus oder Bewusstsein geht gar nichts, ob hypermental oder normal, mir ist alles recht, solange es uns übersteigt, egal, ob Stiefel oder Schuhe." Marie kann mit dem "hypermentalen Bewusstsein" ihres Gurus kaum mehr anfangen als mit der Normalität ihrer Eltern. Östliche Weisheit ist ja nicht falsch; aber nur, wenn sie ausspricht, was die Achtzehnjährige selbst dunkel ahnt. Ihre Eltern sind moderne, verständnisvolle Altphilologen, die "besten Eltern der Welt". Der Vater geht diskret fremd, die Mutter hat einen Pilateskörper und würzt gern mit Zitronengras und "weltoffenen Zutaten". Marie will so schnell und weit wie möglich weg, selbst wenn die Flucht in die "Zukunftsstadt" Archanu sie Abitur und Zukunft kostet.

Das hochbegabte, sensible, störrische Mädchen ist zu intelligent für die anderen und zu dumm für sich selbst: "Etwas mit mir stimmt nicht." Der Lehrer demütigt die vorlaute Besserwisserin, bei ihren Mitschülern ist sie auch nicht gerade beliebt. Wer zu oft zu große Worte ("Ich bin ein Geheimnis auf der Suche nach sich selbst") benutzt, wer Fernsehen, SMS und Partys nicht mag, hat heute wenig Freunde. In Archanu will Marie darum "auch erlöst werden von dem, was andere für intelligent an mir halten. Ende der Rechthaberei! (Und ich habe leider so oft recht!)". Ihre Rache am Schulsystem soll kein Amoklauf, sondern ein Leben in Demut, Nachhaltigkeit und Wahrheit sein oder wenigstens die "richtigen Worte" bereithalten, um darüber zu reden. Die Eltern wollen, dass Marie vorher mit dem Sektenbeauftragten spricht. Aus dem Schlagabtausch zwischen kühlem Kopf und heißem Herzen wird ein philosophischer Disput, aus dem Zweikampf zwischen der rebellierenden "verlorenen Tochter" und dem "lebenspraktisch" resignierten Psychologen - einseitige - Liebe.

Ulla Lenze ist als Autorin auch eine hochbegabte, eigenwillige Außenseiterin, und doch droht hier der Hermann-Hesse-Kitsch: Romantischer Trotzkopf sucht sein inneres Indien und findet einen Mann. Aber wie schon in ihrem feinen Erstling "Schwester und Bruder" gelingt es Lenze wieder, den unbedingten Willen zur Transzendenz mit den richtigen Worten im Hier und Jetzt zu verorten. Marie wirkt auf ihre konsum- , spaß- und leistungsfixierten Mitschüler wie eine Außerirdische; aber sie ist weder Heilige noch Spinnerin. Sie ist so unreif und mindestens so unsicher wie alle anderen, aber auch neugieriger, nachdenklicher und mutiger. Nichts verabscheut sie mehr als die Platituden und Ausreden der Schafe, die dumpf und ungläubig hinter ihren Hirten her trotten. Sie will selbst denken, fühlen und leben, mit allen Risiken und Widersprüchen, ohne Halbherzigkeiten und Kompromisse. Ihr Beichtvater und "Teufelsaustreiber" Ganto ist mit seinem Latein ziemlich am Ende: Mit Abwiegeln und väterlichem Wohlwollen kommt man hier nicht weiter; zumal in dem verbürgerlichten Jesus-Freak selbst noch ein Rest früherer Ekstasen rumort. Wenn Marie Sätze wie "Ich halte nichts vom Nach-innen-Sehen, denn innen und außen sind eins" oder "Du kannst das Unbekannte nicht kritisieren" sagt, wenn sie von einem Führer träumt, der sie unabhängig, und einem geschlossenen Raum, der sie frei macht, zerpflückt Ganto ihre "Hausfrauenesoterik" - alles performative Widersprüche und pubertäres Geschwätz. Aber er spürt hinter Maries Sehnsucht nach "Einfachheit und Geradheit" auch eine Wahrheit, die er verloren hat, einen radikalen Ernst, dem er nicht mehr standhält. Natürlich fährt Marie nach Archanu, schon um den ungläubigen Thomas und spröden Geliebten umzustimmen. Nach nur zehn Tagen kehrt sie zurück, ernüchtert und erwachsener geworden. Was aus ihrer unerklärten Liebe wird, bleibt offen; aber die Enttäuschung der kollektiven Utopie in Morgenstadt bestärkt sie nur in der Zuversicht, dass noch etwas kommen muss, was wenigstens ihr armseliges Ich übersteigt.

Ulla Lenze unternahm mit sechzehn Jahren eine Reise nach Indien, die all ihre Gewissheiten und die Grundfesten ihrer Identität erschütterte; seither reist oder schreibt sie (was ja am Ende auch auf dasselbe hinausläuft) als Stadtschreiberin in Damaskus oder als Vorleserin am Golf. "Schluss mit dem unverlangten Selbstbewusstsein, ich will ja in Frage gestellt werden, aber gründlich", sagt Marie einmal. "Ich möchte die Frage, auf die nur ich die Antwort weiß." Das Interesse an Indien oder neuerdings auch am Islam ist bei Lenze nicht ästhetisch, politisch oder spirituell motiviert; es ist persönlich oder, um ein großes Wort zu benutzen, existentiell. Lenzes Indien-Fahrer haben keine Augen für Märchenpaläste und bunte Saris, kein Ohr für Dalai-Lama-Sprüchlein und Yogi-Gebrabbel. Was sie mit der Seele suchen, lässt sich nicht als touristisches Souvenir, multikulturelles Erlebnis oder Püppchen für den synkretistischen Hausaltar getrost nach Hause tragen. Für die Solardächer, die You-are-the-Buddha-Workshops und den "ethnischen Plunder" in Archanu, diesem "etwas zu groß geratenen Bioladen im Dschungel", hat Marie nur Hohn übrig. Ja, sie sucht eine Art von Erleuchtung, auch Erlösung, aber nicht durch trübe Funzeln, käufliche Weisheiten und Therapien.

In Archanu scheitert der Versuch, Brücken zwischen Ost und West, Nord und Süd zu schlagen. Zivilisationsmüde Sinnsucher aus Europa wollten auf einer Insel eine Modellkommune erschaffen, die der ganzen Menschheit gehören sollte; ein namenloser "Gründer" reichte ihnen die Hand und die Weisheiten dazu. Aber als ein junger Eingeborener das utopische Versprechen wörtlich nimmt und sich beim Klauen erwischen lässt, kommt es fast zu einem Krieg zwischen "Locals" und Althippies.

Archanu ist auf keiner Landkarte verzeichnet; aber man darf ruhig an Poona oder Auroville denken. Die Stadt der Zukunft, ein Joint-Venture-Projekt von Sri Aurobindo und Unesco, gehört laut Statut der ganzen Menschheit oder vielmehr allen, die dem "göttlichen Bewusstsein" dienen, und doch kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen ihren privilegierten Bewohnern und dem tamilischen Personal. Auch die Archanuten glauben, ihre Zukunftsstadt vor den Gestrigen, Unberufenen und Vielzuvielen draußen schützen zu müssen: All ihre menschen- und umweltfreundlichen Entwicklungs- und Wiederaufforstungsprojekte ändern nichts daran, dass sie Fremdkörper und Stachel im Fleisch der Armen bleiben.

Lenze beschreibt die latenten Spannungen und die Logik der Eskalation mit trockenem Humor und feiner Ironie, aber ohne Häme und Schuldzuweisungen. Archanu ist kein Paradies, nur eine Metapher für kulturelle Missverständnisse und soziale Konflikte im globalen Dorf - und im Grunde nur die Kulisse für ein ganz anderes Drama: Niemand ist eine Insel, weder das "Zukunftsghetto" im Urwald noch die superkluge Gottsucherin.

Marie sagt oft verletzend direkt, was sie denkt, weil sie vom Denken nämlich wenig hält: Es löst nur Probleme, die es selbst geschaffen hat. Was wichtig und richtig ist, so ihre Verliebte-Mädchen-Theorie, kann gar nicht erkannt, nur gefühlt, berührt, erlebt werden. Und vielleicht kann es auch erzählt werden; aber ein Leben, "dem ich mich nicht entziehen kann, indem ich ein Buch wieder zuschlage", übersteigt jede Literatur. "Archanu", spannend erzählt in einer kühlen, geradlinigen und doch eigenwillig poetischen Sprache, kann man nicht leicht zuschlagen, und wenn man durch ist, dann ist man noch lange nicht fertig damit.

MARTIN HALTER

Ulla Lenze: "Archanu". Roman. Ammann Verlag, Zürich 2008. 235 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Eingenommen ist Beatrice Eichmann-Leutenegger von Ulla Lenzes Roman über die siebzehnjährige Marie, die sich nach der Genesung von einer Tumorerkrankung gegen den Willen ihrer Eltern auf die subtropische Aussteiger-Insel Lanjo-Dara begibt. Doch bald stellt sich heraus, das Lanjo-Dara alles andere als eine Insel der Seligen ist, berichtet die Rezensentin, die den Roman auch als eine "Geschichte des Ausbruchs und gleichzeitig des Einbruchs aller Vorstellungen einer idealen vorzivilisatorischen Welt" liest. Auch wenn ihr die teils philosophischen Überlegungen Maries manchmal etwas zu reif erscheinen, schätzt sie die Gestaltung dieser Figur, die ständig zwischen Begeisterung, Hoffnung und Zweifeln, Rebellion und Selbstkritik pendelt. Besonders lobt Eichmann-Leutenegger die Sprache der Autorin, ihren Witz, ihren Sinn für Ironie und ihre prägnanten Beobachtungen. All das macht den immer wieder überraschenden Roman für sie zu einer fesselnden Lektüre.

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