"Simons literarische Werke favorisierten den Blick, das Sehen dergestalt, dass man sie 'Fotografie ohne Apparat' genannt hat. Seine in Sprache verwandelten Gedächtnisbilder sind isolierte Momentaufnahmen", schreibt Brigitte Burmeister im Vorwort zu diesem Band. In den Texten wird dieses Charakteristikum seines Schreibens besonders deutlich. Die in Deutschland ebenfalls erstmals veröffentlichten Fotografien von Simon zeigen in Verbindung mit den literarischen Konzentraten, wie stark sich Literatur aus der Bildlichkeit speist. Aus den Prosastücken lässt sich das poetische Prinzip Simons ablesen, dessen Literatur sich aus einer Vielzahl solcher scharfer Beschreibungen formt und gleichzeitig auch auf sie zurückführen lässt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2013Über den Versuch des Ordnens von Notizen
Alles besteht aus Bildern: Zum 100. Geburtstag von Claude Simon versammelt ein Band zum ersten Mal kürzere Texte des Nobelpreisträgers. Er schlägt den Bogen über drei Jahrzehnte und präsentiert zudem einige Fotografien.
Die erste Veröffentlichung von Claude Simon, der einige Jahrzehnte später den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte, war kein Text, sondern eine Fotografie. Sie erschien 1938 in der luxuriös ausgestatteten Pariser Kunstzeitschrift "Verve". Simon ist damals fünfundzwanzig, hat die ersten Schreibversuche schon unternommen, auch gerade Faulkner entdeckt, der ihn tief beeindruckt. Aber er ist immer noch, nach seinem Unterricht bei André Lhote - als "Student in Kubismus", wie es ein später Rückblick bissig formuliert -, auf dem Weg der Malerei: Eine Aufnahme aus dieser Zeit zeigt den jungen Mann, der von den Einkünften seiner Weinberge im Süden lebt, in seinem Atelier am Boulevard du Montparnasse an der Staffelei.
Auch zu fotografieren hatte er damals begonnen. Und im Unterschied zur Malerei, die er bald aufgab und sich auf das Schreiben warf, fotografierte er auch später noch. Aber es brauchte lange, bis er wieder mit Fotografien hervortrat. Erst 1988, da war er schon Nobelpreisträger, erschien in kleiner Auflage das "Album d'un amateur", vier Jahre später der Band "Photographies" zu einer Ausstellung in der Galerie Maeght, 1999 schließlich die ihm gewidmete schöne Ausgabe der Zeitschrift "du", in deren Bildauswahl einige seiner Fotografien eingingen. Immer waren die "Danseuses" dabei, das in "Verve" noch vor dem Krieg veröffentlichte Bild, auf dem drei Mädchen zu sehen sind, die auf der Pariser Avenue de Vincennes zur Musik eines (unsichtbaren) Akkordeonspielers tanzen.
Und diesen merkwürdigen kleinen Balletteusen, die von der Stadtszenerie ringsum nichts wahrzunehmen scheinen, begegnet man auch in dem Band, der nun rechtzeitig zum heutigen hundertsten Geburtstag des 2005 verstorbenen Claude Simon vorliegt. Er ist keine Übersetzung einer französischen Ausgabe, sondern ein eigenständiger Beitrag zum Centenarium. Zusammengestellt von Brigitte Burmeister und mit Übersetzungen von Eva Moldenhauer, beide exzellente Kennerinnen von Simons Werk, schließt er an die frühe und nachdrückliche Rezeption Simons in Deutschland an, die sich einer Reihe von hervorragenden Übersetzern und Fürsprechern verdankt.
Der Band enthält neun kürzere Texte, die zu Lebzeiten Simons nur in Zeitschriften erschienen. Der erste von ihnen stammt aus dem Jahr 1958, ein Jahr nach dem Erscheinen von "Der Wind", eigentlich der fünfte Roman Simons, aber der erste, den er seinem Werk zugerechnet sehen wollte. Der letzte Text ist das Vorwort zum schon erwähnten Band mit Fotografien aus dem Jahr 1992. Eingefügt in die Texte ist eine Auswahl von Bildern aus ebendiesem Band. Wobei die Bilder nicht chronologisch gereiht sind, sondern der Anordnung folgen, die Simon für ihn wählte, der sich dabei an thematischen oder formalen Entsprechungen und Kontrasten orientierte - so wie bei der Komposition seiner Texte auch.
Aber diese Kriterien gehen freilich gleich wieder verloren, weil der vorliegende Band nur eine kleine Zahl der ursprünglich von Simon ausgewählten Fotografien bringt. Auch darf man keine Verknüpfung von Texten und Bildern erwarten; die Fotografien sind lediglich Zugaben. Es ist ohnehin gar nicht sicher, dass es in Simons reichem Bildarchiv überhaupt eine ins Gewicht fallende Anzahl eigener Fotografien gibt, von denen er für Beschreibungen in seinen Büchern direkt Gebrauch machte. Als er ein einziges Mal mit Bildern im Text arbeitet, im "Blinden Orion", findet sich unter ihnen zwar manche Fotografie, aber keine von seinen eigenen.
Über mehr als drei Jahrzehnte hinweg reicht also der Bogen der Texte: von einem Auftakt, der noch an Faulkners Vielstimmigkeiten erinnert, hin zu den Büchern, in denen er zu seiner eigenen Technik der Schnitte und Übergänge findet, an denen durch Ähnlichkeiten und Kontraste aller Art verschiedene Orte, Zeiten und Räume aufeinanderstoßen. Bücher, die nicht autobiographisch sind, doch - wie Simon es einmal formulierte - auf Erlebtem basieren. Zuletzt deshalb, weil sie aus der Gegenwart des Schreibens selbst hervorgehen, in die sie den Leser ziehen; woran die durchbrochene Arbeit der Komposition ebenso teilhat wie die Bildkraft und sinnliche Präsenz der von Simon ineinandergefügten Beschreibungen.
Zur Arbeitsweise Simons gehörte es, einzelne Stücke zu schreiben, die dann für die Komposition der Romane herangezogen wurden. Das gilt auch für die Mehrzahl der Texte des nun erschienenen Bandes, Teile von ihnen gingen in die Bücher dieser Jahre ein, in "Der Palast", "Geschichte", "Georgica" oder den späten "Jardin des Plantes". Manchmal sind es fast nur Spuren, die eine spätere Fragmentierung und Umverteilung dann übrig lässt, wie etwa von den mit "Asche" überschriebenen Seiten, denen offenkundig das Erleben seiner schweren Erkrankung Anfang der fünfziger Jahre zugrunde liegt.
In der Mehrzahl sind diese für Zeitschriften eingerichteten Texte auch keine in sich einstimmigen Stücke, denen erst die Verarbeitung in den Büchern das Element der Komposition hinzufügt. Sie zeigen vielmehr bereits auf knappem Raum die für Simon charakteristischen Techniken der Schnitte und Verschränkungen. Reizvoll ist das in "Wort für Wort" (1959), den "Baumaterialien" (1960) und dem "Versuch des Ordnens von Notizen aufgezeichnet während einer Reise nach Zeeland" (1962) natürlich auch deshalb, weil die späteren Anverwandlungen in den Romanen noch hinzukommen, gleichsam ein weiteres Register hinzufügen.
Aber auch jene Texte, auf die Simon nicht mehr zurückgreift, wie die beiden ursprünglich für ein Reisejournal verfassten "Archipel" und "Nord", sind faszinierende Beispiele seines Schreibens. Und überdies auch seiner Passion des Reisens, in diesem Fall in den hohen Norden, nach Finnland: Insel- und Küstenwelt werden evoziert in Texten, die nahe an die offene Form des Prosagedichts kommen und selbst so etwas wie ein Textarchipel bilden.
Es ist ein unverzichtbarer Band für Simon-Leser. Und wer den Fotografen näher kennenlernen will, hat dazu noch bis Jahresende im Pariser Centre Georges Pompidou Gelegenheit - oder kann sich bei Maeght den dort immer noch erhältlichen Band mit Simons Fotografien besorgen.
HELMUT MAYER
Claude Simon: "Archipel / Nord". Kleine Schriften und Fotografien.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, mit einem Vorwort von Brigitte Burmeister. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013. 174 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alles besteht aus Bildern: Zum 100. Geburtstag von Claude Simon versammelt ein Band zum ersten Mal kürzere Texte des Nobelpreisträgers. Er schlägt den Bogen über drei Jahrzehnte und präsentiert zudem einige Fotografien.
Die erste Veröffentlichung von Claude Simon, der einige Jahrzehnte später den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte, war kein Text, sondern eine Fotografie. Sie erschien 1938 in der luxuriös ausgestatteten Pariser Kunstzeitschrift "Verve". Simon ist damals fünfundzwanzig, hat die ersten Schreibversuche schon unternommen, auch gerade Faulkner entdeckt, der ihn tief beeindruckt. Aber er ist immer noch, nach seinem Unterricht bei André Lhote - als "Student in Kubismus", wie es ein später Rückblick bissig formuliert -, auf dem Weg der Malerei: Eine Aufnahme aus dieser Zeit zeigt den jungen Mann, der von den Einkünften seiner Weinberge im Süden lebt, in seinem Atelier am Boulevard du Montparnasse an der Staffelei.
Auch zu fotografieren hatte er damals begonnen. Und im Unterschied zur Malerei, die er bald aufgab und sich auf das Schreiben warf, fotografierte er auch später noch. Aber es brauchte lange, bis er wieder mit Fotografien hervortrat. Erst 1988, da war er schon Nobelpreisträger, erschien in kleiner Auflage das "Album d'un amateur", vier Jahre später der Band "Photographies" zu einer Ausstellung in der Galerie Maeght, 1999 schließlich die ihm gewidmete schöne Ausgabe der Zeitschrift "du", in deren Bildauswahl einige seiner Fotografien eingingen. Immer waren die "Danseuses" dabei, das in "Verve" noch vor dem Krieg veröffentlichte Bild, auf dem drei Mädchen zu sehen sind, die auf der Pariser Avenue de Vincennes zur Musik eines (unsichtbaren) Akkordeonspielers tanzen.
Und diesen merkwürdigen kleinen Balletteusen, die von der Stadtszenerie ringsum nichts wahrzunehmen scheinen, begegnet man auch in dem Band, der nun rechtzeitig zum heutigen hundertsten Geburtstag des 2005 verstorbenen Claude Simon vorliegt. Er ist keine Übersetzung einer französischen Ausgabe, sondern ein eigenständiger Beitrag zum Centenarium. Zusammengestellt von Brigitte Burmeister und mit Übersetzungen von Eva Moldenhauer, beide exzellente Kennerinnen von Simons Werk, schließt er an die frühe und nachdrückliche Rezeption Simons in Deutschland an, die sich einer Reihe von hervorragenden Übersetzern und Fürsprechern verdankt.
Der Band enthält neun kürzere Texte, die zu Lebzeiten Simons nur in Zeitschriften erschienen. Der erste von ihnen stammt aus dem Jahr 1958, ein Jahr nach dem Erscheinen von "Der Wind", eigentlich der fünfte Roman Simons, aber der erste, den er seinem Werk zugerechnet sehen wollte. Der letzte Text ist das Vorwort zum schon erwähnten Band mit Fotografien aus dem Jahr 1992. Eingefügt in die Texte ist eine Auswahl von Bildern aus ebendiesem Band. Wobei die Bilder nicht chronologisch gereiht sind, sondern der Anordnung folgen, die Simon für ihn wählte, der sich dabei an thematischen oder formalen Entsprechungen und Kontrasten orientierte - so wie bei der Komposition seiner Texte auch.
Aber diese Kriterien gehen freilich gleich wieder verloren, weil der vorliegende Band nur eine kleine Zahl der ursprünglich von Simon ausgewählten Fotografien bringt. Auch darf man keine Verknüpfung von Texten und Bildern erwarten; die Fotografien sind lediglich Zugaben. Es ist ohnehin gar nicht sicher, dass es in Simons reichem Bildarchiv überhaupt eine ins Gewicht fallende Anzahl eigener Fotografien gibt, von denen er für Beschreibungen in seinen Büchern direkt Gebrauch machte. Als er ein einziges Mal mit Bildern im Text arbeitet, im "Blinden Orion", findet sich unter ihnen zwar manche Fotografie, aber keine von seinen eigenen.
Über mehr als drei Jahrzehnte hinweg reicht also der Bogen der Texte: von einem Auftakt, der noch an Faulkners Vielstimmigkeiten erinnert, hin zu den Büchern, in denen er zu seiner eigenen Technik der Schnitte und Übergänge findet, an denen durch Ähnlichkeiten und Kontraste aller Art verschiedene Orte, Zeiten und Räume aufeinanderstoßen. Bücher, die nicht autobiographisch sind, doch - wie Simon es einmal formulierte - auf Erlebtem basieren. Zuletzt deshalb, weil sie aus der Gegenwart des Schreibens selbst hervorgehen, in die sie den Leser ziehen; woran die durchbrochene Arbeit der Komposition ebenso teilhat wie die Bildkraft und sinnliche Präsenz der von Simon ineinandergefügten Beschreibungen.
Zur Arbeitsweise Simons gehörte es, einzelne Stücke zu schreiben, die dann für die Komposition der Romane herangezogen wurden. Das gilt auch für die Mehrzahl der Texte des nun erschienenen Bandes, Teile von ihnen gingen in die Bücher dieser Jahre ein, in "Der Palast", "Geschichte", "Georgica" oder den späten "Jardin des Plantes". Manchmal sind es fast nur Spuren, die eine spätere Fragmentierung und Umverteilung dann übrig lässt, wie etwa von den mit "Asche" überschriebenen Seiten, denen offenkundig das Erleben seiner schweren Erkrankung Anfang der fünfziger Jahre zugrunde liegt.
In der Mehrzahl sind diese für Zeitschriften eingerichteten Texte auch keine in sich einstimmigen Stücke, denen erst die Verarbeitung in den Büchern das Element der Komposition hinzufügt. Sie zeigen vielmehr bereits auf knappem Raum die für Simon charakteristischen Techniken der Schnitte und Verschränkungen. Reizvoll ist das in "Wort für Wort" (1959), den "Baumaterialien" (1960) und dem "Versuch des Ordnens von Notizen aufgezeichnet während einer Reise nach Zeeland" (1962) natürlich auch deshalb, weil die späteren Anverwandlungen in den Romanen noch hinzukommen, gleichsam ein weiteres Register hinzufügen.
Aber auch jene Texte, auf die Simon nicht mehr zurückgreift, wie die beiden ursprünglich für ein Reisejournal verfassten "Archipel" und "Nord", sind faszinierende Beispiele seines Schreibens. Und überdies auch seiner Passion des Reisens, in diesem Fall in den hohen Norden, nach Finnland: Insel- und Küstenwelt werden evoziert in Texten, die nahe an die offene Form des Prosagedichts kommen und selbst so etwas wie ein Textarchipel bilden.
Es ist ein unverzichtbarer Band für Simon-Leser. Und wer den Fotografen näher kennenlernen will, hat dazu noch bis Jahresende im Pariser Centre Georges Pompidou Gelegenheit - oder kann sich bei Maeght den dort immer noch erhältlichen Band mit Simons Fotografien besorgen.
HELMUT MAYER
Claude Simon: "Archipel / Nord". Kleine Schriften und Fotografien.
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, mit einem Vorwort von Brigitte Burmeister. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013. 174 S., Abb., geb., 22,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wahrheit, Illusion? Thomas Steinfeld findet beides aufs Schönste verknüpft in diesen kurzen, bislang auf Deutsch unveröffentlichten Texten des Literaturnobelpreisträgers Claude Simon. Wie der Autor hier nahezu fotografisch das Unverbundene festhält, auf dass es lesbar, sichtbar wird, scheint ihm bemerkenswert. So in einer Erinnerung Simons an die Weinbranddestillation im Garten seines Großvaters. Erinnerungstexte wie dieser, zusammengesetzt aus schillernden Augenblicken, sind es, die Steinfeld faszinieren, Destillate einer chaotischen, diskontinuierlichen Wirklichkeit, wie er schreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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