Ein großer europäischer Familienroman von der Peripherie des Kontinents: der Insel des ewigen Frühlings, Teneriffa. Gewinner des Deutschen Buchpreises 2018.
"Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten. In La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad. Der Himmel ist klar, wolkenlos und so hellblau, dass er auch weiß sein könnte". Damit fängt es an. Und mit Rosa, die zurückkehrt auf die Insel und in das heruntergewirtschaftete Haus der vormals einflussreichen Bernadottes. Rosa sucht. Was, weiß sie nicht genau. Doch für eine Weile sieht es so aus, als könnte sie es im Asilo, dem Altenheim von La Laguna, finden. Ausgerechnet dort, wo Julio noch mit über neunzig Jahren den Posten des Pförtners innehat. Julio war Kurier im Bürgerkrieg, war Gefangener der Faschisten, er floh und kam wieder, und heute hütet er die letzte Lebenspforte der Alten von der Insel. Julio ist Rosas Großvater. Von der mütterlichen Seite. Einer, der Privilegien nur als die der anderen kennt.
Inger-Maria Mahlke ist in nur wenigen Jahren zu einer der renommiertesten deutschen Schriftstellerinnen avanciert und hat sich mit jedem ihrer Bücher thematisch und formal weiter vorgewagt. In "Archipel" führt sie rückwärts durch ein Jahrhundert voller Umbrüche und Verwerfungen, großer Erwartungen und kleiner Siege. Es ist Julios Jahrhundert, das der Bautes und Bernadottes, der Wieses, der Moores und González' - Familiennamen aus ganz Europa. Aber da sind auch die, die keine Namen haben: Die Frau etwa, die für alle nur 'die Katze' war: unverheiratete Mutter, Köchin, Tomatenpackerin - und irgendwann verschwunden. Denn manchmal bestimmen Willkür, Laune, Zufall oder schlicht: mitreißende Erzählkunst über das, was geht, und das, was kommt.
"Es ist der 9. Juli 2015, vierzehn Uhr und zwei, drei kleinliche Minuten. In La Laguna, der alten Hauptstadt des Archipels, beträgt die Lufttemperatur 29,1 Grad. Der Himmel ist klar, wolkenlos und so hellblau, dass er auch weiß sein könnte". Damit fängt es an. Und mit Rosa, die zurückkehrt auf die Insel und in das heruntergewirtschaftete Haus der vormals einflussreichen Bernadottes. Rosa sucht. Was, weiß sie nicht genau. Doch für eine Weile sieht es so aus, als könnte sie es im Asilo, dem Altenheim von La Laguna, finden. Ausgerechnet dort, wo Julio noch mit über neunzig Jahren den Posten des Pförtners innehat. Julio war Kurier im Bürgerkrieg, war Gefangener der Faschisten, er floh und kam wieder, und heute hütet er die letzte Lebenspforte der Alten von der Insel. Julio ist Rosas Großvater. Von der mütterlichen Seite. Einer, der Privilegien nur als die der anderen kennt.
Inger-Maria Mahlke ist in nur wenigen Jahren zu einer der renommiertesten deutschen Schriftstellerinnen avanciert und hat sich mit jedem ihrer Bücher thematisch und formal weiter vorgewagt. In "Archipel" führt sie rückwärts durch ein Jahrhundert voller Umbrüche und Verwerfungen, großer Erwartungen und kleiner Siege. Es ist Julios Jahrhundert, das der Bautes und Bernadottes, der Wieses, der Moores und González' - Familiennamen aus ganz Europa. Aber da sind auch die, die keine Namen haben: Die Frau etwa, die für alle nur 'die Katze' war: unverheiratete Mutter, Köchin, Tomatenpackerin - und irgendwann verschwunden. Denn manchmal bestimmen Willkür, Laune, Zufall oder schlicht: mitreißende Erzählkunst über das, was geht, und das, was kommt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2018Die Möglichkeit einer Insel
Der Anfang vom Ende: Inger-Maria Mahlke erzählt in ihrem neuen Roman "Archipel" eine Jahrhundertgeschichte rückwärts.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit, Ordnung und Chaos - das sind die Pole in jenem hochaufgeladenen Spannungsfeld, in dem sich die Romane von Inger-Maria Mahlke bewegen. Ob die Berliner Autorin von den teils verwahrlosten, teils verzweifelten Bewohnern eines Neuköllner Mietshauses erzählt, wie in ihrem zweiten Roman "Rechnung offen" (2010), oder in "Wie Ihr wollt" (2015) von der realen Mary Grey, einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie im Todesfall von Königin Elisabeth I. Anspruch auf den Thron gehabt hätte: Die Gegensätze, die Inger-Maria Mahlke in eigenwilligem Duktus aufbaut, betrachtet sie im Detail, als schriebe sie unter dem Mikroskop. So wird jeder Roman bei aller Historie, die erzählt wird, zum Naherlebnis; das Schlachtfeld der Juristin Mahlke ist vorzugsweise die Familie. Ihre Figuren entwirft sich dabei in sich widersprüchlich.
Mit "Archipel" hat die 1977 in Lübeck geborene Autorin nun einen Roman geschrieben, dessen Geschichte sie nach "Wie Ihr wollt" aufs Neue in der Fremde ansiedelt, diesmal allerdings nicht im kalten Norden im Zentrum der Macht, sondern in einer heißen entlegenen Weltgegend, den Kanaren. Die Inselgruppe im östlichen Atlantik, die politisch zu Spanien, geologisch zu Afrika und biogeographisch zu Makaronesien gehört, ist den meisten als sonnenverwöhntes Urlaubsziel bekannt. Mahlke hingegen kennt die Gegend, in der sich große Geschichte schon immer, aber immer in anderer Dosierung und mit Verzögerung abspielte, aus der Binnenperspektive. Als Kind hat sie zeitweise auf Teneriffa gelebt. Sie weiß, dass alternative Lebensentwürfe auch in maximaler Entfernung zur Herkunftswelt nicht unbedingt gelingen.
Für ihren multiperspektivischen Ritt über das Inselreich, der sich anhand mehrerer Familienschicksale ein ganzes Jahrhundert vornimmt, wählt sie eine gewagte Konstruktion. Die turbulente Historie der Bautes, der Bernadottes, Wieses und all der anderen aus den verschiedensten Gründen auf Teneriffa gestrandeten Familien wird nicht chronologisch erzählt. Die Autorin schlägt den umgekehrten Weg ein: "Archipel" beginn in der Gegenwart des Jahres 2015 bei der jungen Rosa, die gerade ihr Kunststudium in Madrid abgebrochen hat und mit gemischten Gefühlen auf die Insel zurückgekehrt ist. Von hier aus arbeitet sich die Erzählung auf dem Zeitstrahl ähnlich wie F. Scott Fitzgerald mit "Benjamin Button" zurück.
Das birgt seine Herausforderungen, doch bleiben wir zunächst bei der Gegenwart. Denn auch Rosas Eltern haben gerade mit je unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Ana ist als Lokalpolitikerin in einen Skandal verwickelt, und nach einem mysteriösen Todesfall lauert die Pressemeute schon vor der Tür. Ihr Mann, der Historiker Felipe, der seine Professur aus gekränkter Eitelkeit und Resignation an den Nagel gehängt hat, ringt mit Dämonen seiner familiären Vergangenheit. Manches versteht man zu diesem Zeitpunkt der Lektüre (noch) nicht, außer vielleicht, dass bei Spaniens einflussreichen Familien wie den Bernadottes sich immer irgendwann die Frage stellt: Wie hieltet ihr es mit Franco?
Felipe hat deshalb früh mit seiner Familie gebrochen und sein wissenschaftliches Leben der Aufarbeitung verschrieben. Die Spuren freilich sind nicht zu übersehen: Felipes Mutter trägt den Namen Francisca - benannt nach dem Diktator, dem sie einst als Kind zur Freude ihres Vaters Blumen überreichen durfte. Franco hatte hier ein kurzes, wenn auch unfreiwilliges Gastspiel. Als er 1936 als Oberbefehlshaber der Armee entlassen wurde, ernannte man ihn kurzerhand zum Militärkommandeur der Inseln. Die Demütigung, 1700 Kilometer von der Machtzentrale Madrid entfernt zu sein, hätte nicht größer sein können, zumal die insularen Jagdmöglichkeiten ihn enttäuscht haben sollen.
Was im Roman nun aber als Sittenbild kanarischer Gegenwart anfängt, mit den erwartbaren Spannungen zwischen Einheimischen und Touristen, nimmt Fahrt auf, wenn ein erzählerischer Rückwärtssalto nach dem anderen geschlagen wird. Kapitel für Kapitel arbeitet Mahlke sich in die Vergangenheit vor. Das Erzählverfahren hat den Reiz, dass vieles hier - wie in den Familien gedacht und nach welchen (unerklärlichen) Motiven gehandelt wird - sich erst im Nachhinein erschließt. Warum verfolgt Rosas hochbetagter Großvater Julio, der in einem Altersheim als Pförtner arbeitet, wie manisch Radrennen im Fernsehen? Erst als die Erzählung im Spanischen Bürgerkrieg angelangt ist, erfahren wir, dass Julio damals als Kurier im Einsatz war und von den Faschisten eingesperrt wurde - ein Fahrrad ist für ihn nie nur ein Fahrrad, sondern Vehikel in seine eigene Geschichte.
Unentwegt ist man mit blinden Motiven konfrontiert und Handlungen, deren Vorgeschichten vorerst im Dunkeln bleiben. Das Geschehen zu ordnen fällt schwer, erst mit fortschreitender Lektüre werden zurückliegende oder auch je nach Betrachtung künftige Ereignisse verständlich, wie auch die alten Traumata, die knapp unter der Oberfläche lauern.
"Irreversibel" könnte der Roman deshalb auch heißen, nach dem gleichnamigen und 2002 heftig umstrittenen Kinofilm, dessen Verfahren die Autorin hier in die Literatur überträgt. Hier wie da steht neben dem Erzählten auch die Erzählweise im Zentrum. Inger-Maria Mahlke will nicht allein von den Erlebnissen ihrer Protagonisten in Kriegen, Bürgerkriegen, Kolonialkriegen und Familientragödien erzählen, wer wie wo stand und deshalb heute wie wo steht. Sondern sie will mit der Verkehrung von Ursache und Wirkung vielmehr das Verhältnis von Zeit und Dasein an sich auf den Kopf stellen. Das ist radikal und manchmal unbequem zu lesen und hat doch größten Reiz. Denn wenn man die Uhr zurückdreht, funktioniert Linearität eben nicht mehr - und wer wollte schon behaupten, dass das historische Geschehen durch den Zeitlauf oder Kausalität bestimmt würde? Es sind die Ziele, Interessen und Absichten von Menschen, die Geschichte machen.
Mit den literarischen Möglichkeiten einer Insel haben vor Mahlke schon andere Autoren gespielt, etwa Lutz Seiler in "Kruso" oder Thomas Hettche in "Pfaueninsel". Auch im Mikrokosmos der Kanaren lässt sich gut beobachten, wie die Verhältnisse durch Machtwechsel oder touristischen Fortschritt umgedreht werden. Dass Mahlke in einer stark verkürzten Sprache schreibt, gehört zu ihrer Poetologie. Sie lässt weg, was ihr überflüssig erscheint in der Sprache, die sie wiederum mit spanischen und kanarischen Begriffen durchsetzt. Für das Glossar ist man dankbar - und über die Erkenntnis, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung nur für die Naturwissenschaften gilt, nicht aber für das Leben: "Auf die Zukunft!", lautet der letzte Satz.
SANDRA KEGEL
Inger-Maria Mahlke:
"Archipel". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 432 S., geb., 20 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Anfang vom Ende: Inger-Maria Mahlke erzählt in ihrem neuen Roman "Archipel" eine Jahrhundertgeschichte rückwärts.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit, Ordnung und Chaos - das sind die Pole in jenem hochaufgeladenen Spannungsfeld, in dem sich die Romane von Inger-Maria Mahlke bewegen. Ob die Berliner Autorin von den teils verwahrlosten, teils verzweifelten Bewohnern eines Neuköllner Mietshauses erzählt, wie in ihrem zweiten Roman "Rechnung offen" (2010), oder in "Wie Ihr wollt" (2015) von der realen Mary Grey, einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie im Todesfall von Königin Elisabeth I. Anspruch auf den Thron gehabt hätte: Die Gegensätze, die Inger-Maria Mahlke in eigenwilligem Duktus aufbaut, betrachtet sie im Detail, als schriebe sie unter dem Mikroskop. So wird jeder Roman bei aller Historie, die erzählt wird, zum Naherlebnis; das Schlachtfeld der Juristin Mahlke ist vorzugsweise die Familie. Ihre Figuren entwirft sich dabei in sich widersprüchlich.
Mit "Archipel" hat die 1977 in Lübeck geborene Autorin nun einen Roman geschrieben, dessen Geschichte sie nach "Wie Ihr wollt" aufs Neue in der Fremde ansiedelt, diesmal allerdings nicht im kalten Norden im Zentrum der Macht, sondern in einer heißen entlegenen Weltgegend, den Kanaren. Die Inselgruppe im östlichen Atlantik, die politisch zu Spanien, geologisch zu Afrika und biogeographisch zu Makaronesien gehört, ist den meisten als sonnenverwöhntes Urlaubsziel bekannt. Mahlke hingegen kennt die Gegend, in der sich große Geschichte schon immer, aber immer in anderer Dosierung und mit Verzögerung abspielte, aus der Binnenperspektive. Als Kind hat sie zeitweise auf Teneriffa gelebt. Sie weiß, dass alternative Lebensentwürfe auch in maximaler Entfernung zur Herkunftswelt nicht unbedingt gelingen.
Für ihren multiperspektivischen Ritt über das Inselreich, der sich anhand mehrerer Familienschicksale ein ganzes Jahrhundert vornimmt, wählt sie eine gewagte Konstruktion. Die turbulente Historie der Bautes, der Bernadottes, Wieses und all der anderen aus den verschiedensten Gründen auf Teneriffa gestrandeten Familien wird nicht chronologisch erzählt. Die Autorin schlägt den umgekehrten Weg ein: "Archipel" beginn in der Gegenwart des Jahres 2015 bei der jungen Rosa, die gerade ihr Kunststudium in Madrid abgebrochen hat und mit gemischten Gefühlen auf die Insel zurückgekehrt ist. Von hier aus arbeitet sich die Erzählung auf dem Zeitstrahl ähnlich wie F. Scott Fitzgerald mit "Benjamin Button" zurück.
Das birgt seine Herausforderungen, doch bleiben wir zunächst bei der Gegenwart. Denn auch Rosas Eltern haben gerade mit je unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Ana ist als Lokalpolitikerin in einen Skandal verwickelt, und nach einem mysteriösen Todesfall lauert die Pressemeute schon vor der Tür. Ihr Mann, der Historiker Felipe, der seine Professur aus gekränkter Eitelkeit und Resignation an den Nagel gehängt hat, ringt mit Dämonen seiner familiären Vergangenheit. Manches versteht man zu diesem Zeitpunkt der Lektüre (noch) nicht, außer vielleicht, dass bei Spaniens einflussreichen Familien wie den Bernadottes sich immer irgendwann die Frage stellt: Wie hieltet ihr es mit Franco?
Felipe hat deshalb früh mit seiner Familie gebrochen und sein wissenschaftliches Leben der Aufarbeitung verschrieben. Die Spuren freilich sind nicht zu übersehen: Felipes Mutter trägt den Namen Francisca - benannt nach dem Diktator, dem sie einst als Kind zur Freude ihres Vaters Blumen überreichen durfte. Franco hatte hier ein kurzes, wenn auch unfreiwilliges Gastspiel. Als er 1936 als Oberbefehlshaber der Armee entlassen wurde, ernannte man ihn kurzerhand zum Militärkommandeur der Inseln. Die Demütigung, 1700 Kilometer von der Machtzentrale Madrid entfernt zu sein, hätte nicht größer sein können, zumal die insularen Jagdmöglichkeiten ihn enttäuscht haben sollen.
Was im Roman nun aber als Sittenbild kanarischer Gegenwart anfängt, mit den erwartbaren Spannungen zwischen Einheimischen und Touristen, nimmt Fahrt auf, wenn ein erzählerischer Rückwärtssalto nach dem anderen geschlagen wird. Kapitel für Kapitel arbeitet Mahlke sich in die Vergangenheit vor. Das Erzählverfahren hat den Reiz, dass vieles hier - wie in den Familien gedacht und nach welchen (unerklärlichen) Motiven gehandelt wird - sich erst im Nachhinein erschließt. Warum verfolgt Rosas hochbetagter Großvater Julio, der in einem Altersheim als Pförtner arbeitet, wie manisch Radrennen im Fernsehen? Erst als die Erzählung im Spanischen Bürgerkrieg angelangt ist, erfahren wir, dass Julio damals als Kurier im Einsatz war und von den Faschisten eingesperrt wurde - ein Fahrrad ist für ihn nie nur ein Fahrrad, sondern Vehikel in seine eigene Geschichte.
Unentwegt ist man mit blinden Motiven konfrontiert und Handlungen, deren Vorgeschichten vorerst im Dunkeln bleiben. Das Geschehen zu ordnen fällt schwer, erst mit fortschreitender Lektüre werden zurückliegende oder auch je nach Betrachtung künftige Ereignisse verständlich, wie auch die alten Traumata, die knapp unter der Oberfläche lauern.
"Irreversibel" könnte der Roman deshalb auch heißen, nach dem gleichnamigen und 2002 heftig umstrittenen Kinofilm, dessen Verfahren die Autorin hier in die Literatur überträgt. Hier wie da steht neben dem Erzählten auch die Erzählweise im Zentrum. Inger-Maria Mahlke will nicht allein von den Erlebnissen ihrer Protagonisten in Kriegen, Bürgerkriegen, Kolonialkriegen und Familientragödien erzählen, wer wie wo stand und deshalb heute wie wo steht. Sondern sie will mit der Verkehrung von Ursache und Wirkung vielmehr das Verhältnis von Zeit und Dasein an sich auf den Kopf stellen. Das ist radikal und manchmal unbequem zu lesen und hat doch größten Reiz. Denn wenn man die Uhr zurückdreht, funktioniert Linearität eben nicht mehr - und wer wollte schon behaupten, dass das historische Geschehen durch den Zeitlauf oder Kausalität bestimmt würde? Es sind die Ziele, Interessen und Absichten von Menschen, die Geschichte machen.
Mit den literarischen Möglichkeiten einer Insel haben vor Mahlke schon andere Autoren gespielt, etwa Lutz Seiler in "Kruso" oder Thomas Hettche in "Pfaueninsel". Auch im Mikrokosmos der Kanaren lässt sich gut beobachten, wie die Verhältnisse durch Machtwechsel oder touristischen Fortschritt umgedreht werden. Dass Mahlke in einer stark verkürzten Sprache schreibt, gehört zu ihrer Poetologie. Sie lässt weg, was ihr überflüssig erscheint in der Sprache, die sie wiederum mit spanischen und kanarischen Begriffen durchsetzt. Für das Glossar ist man dankbar - und über die Erkenntnis, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung nur für die Naturwissenschaften gilt, nicht aber für das Leben: "Auf die Zukunft!", lautet der letzte Satz.
SANDRA KEGEL
Inger-Maria Mahlke:
"Archipel". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 432 S., geb., 20 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sandra Kegel kann sich keine bessere Begleitung für eine Jahrhundertreise durch die Kanaren vorstellen, als die Autorin und Juristin Inger-Maria Mahlke, die selbst auf Teneriffa aufwuchs. Die Kritikerin liest hier die komplett auf Chronologie verzichtende und multiperspektivisch erzählte Geschichte verschiedener Familien, die allesamt aus unterschiedlichen Beweggründen auf Teneriffa gelandet sind, springt von der Gegenwart zum Spanischen Bürgerkrieg zu den Kolonialkriegen und zurück, erlebt allerhand Tragödien und staunt nicht nur, wie Mahlke Ursache und Wirkung auf den Kopf stellt, sondern auch das große Ganze erst nach und nach zusammensetzt und doch stets im Blick behält. Die reduzierte, mit spanischen und kanarischen Begriffen durchsetzte Sprache macht dabei den besonderen Reiz aus, findet Kegel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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'Archipel' ist eine große Reise durch die Zeit und bis ans Ende Europas. Die Städte Teneriffas atmen ihren ewigen Sommer, aber zwischen all den Gerüchen und Geräuschen des Südens spürt man den Luftzug eines ganzen Jahrhunderts. Während in einem Altenheim die Menschen ihre letzten Wege gehen, versuchen es die Jungen mit neuer Hoffnung. Es ist der Zyklus des Privaten, den Inger-Maria Mahlke auf grandiose Weise mit dem Politischen verknüpft. Und so blättert man durch hundert Jahre wie durch ein Album voll schmerzhaft schöner und genauer Bilder. Sieht Abkömmlinge der spanischen Konquistadoren und majestätische Putzfrauen, Aufstieg und Abstieg, Liebe und Korruption. deutscher-buchpreis.de 20180911