Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2018 und monatelang auf der Bestsellerliste: ein kühner europäischer Familienroman von der Insel des ewigen Frühlings, Teneriffa.
Julio, el portero, war nicht immer der Pförtner. Doch heute, mit über neunzig Jahren, hütet er die Türen im Asilo, dem Altenheim von La Laguna. Julio ist einer, der Privilegien nur als die der anderen kennt. Er war Kurier im Bürgerkrieg, Gefangener der Faschisten, er floh und kam wieder.
Von ihm und von denen, die seinen Weg kreuzten, von dem, was sie liebten, flohen oder suchten, auf der Insel und im Leben, erzählt dieser Roman. Er führt in die Tiefen des vergangenen Jahrhunderts. Und es zeigt sich noch heute viel Gestern darin.
Julio, el portero, war nicht immer der Pförtner. Doch heute, mit über neunzig Jahren, hütet er die Türen im Asilo, dem Altenheim von La Laguna. Julio ist einer, der Privilegien nur als die der anderen kennt. Er war Kurier im Bürgerkrieg, Gefangener der Faschisten, er floh und kam wieder.
Von ihm und von denen, die seinen Weg kreuzten, von dem, was sie liebten, flohen oder suchten, auf der Insel und im Leben, erzählt dieser Roman. Er führt in die Tiefen des vergangenen Jahrhunderts. Und es zeigt sich noch heute viel Gestern darin.
'Archipel' ist eine große Reise durch die Zeit und bis ans Ende Europas. Die Städte Teneriffas atmen ihren ewigen Sommer, aber zwischen all den Gerüchen und Geräuschen des Südens spürt man den Luftzug eines ganzen Jahrhunderts. Während in einem Altenheim die Menschen ihre letzten Wege gehen, versuchen es die Jungen mit neuer Hoffnung. Es ist der Zyklus des Privaten, den Inger-Maria Mahlke auf grandiose Weise mit dem Politischen verknüpft. Und so blättert man durch hundert Jahre wie durch ein Album voll schmerzhaft schöner und genauer Bilder. Sieht Abkömmlinge der spanischen Konquistadoren und majestätische Putzfrauen, Aufstieg und Abstieg, Liebe und Korruption. deutscher-buchpreis.de 20180911
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2018Die Möglichkeit einer Insel
Der Anfang vom Ende: Inger-Maria Mahlke erzählt in ihrem neuen Roman "Archipel" eine Jahrhundertgeschichte rückwärts.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit, Ordnung und Chaos - das sind die Pole in jenem hochaufgeladenen Spannungsfeld, in dem sich die Romane von Inger-Maria Mahlke bewegen. Ob die Berliner Autorin von den teils verwahrlosten, teils verzweifelten Bewohnern eines Neuköllner Mietshauses erzählt, wie in ihrem zweiten Roman "Rechnung offen" (2010), oder in "Wie Ihr wollt" (2015) von der realen Mary Grey, einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie im Todesfall von Königin Elisabeth I. Anspruch auf den Thron gehabt hätte: Die Gegensätze, die Inger-Maria Mahlke in eigenwilligem Duktus aufbaut, betrachtet sie im Detail, als schriebe sie unter dem Mikroskop. So wird jeder Roman bei aller Historie, die erzählt wird, zum Naherlebnis; das Schlachtfeld der Juristin Mahlke ist vorzugsweise die Familie. Ihre Figuren entwirft sich dabei in sich widersprüchlich.
Mit "Archipel" hat die 1977 in Lübeck geborene Autorin nun einen Roman geschrieben, dessen Geschichte sie nach "Wie Ihr wollt" aufs Neue in der Fremde ansiedelt, diesmal allerdings nicht im kalten Norden im Zentrum der Macht, sondern in einer heißen entlegenen Weltgegend, den Kanaren. Die Inselgruppe im östlichen Atlantik, die politisch zu Spanien, geologisch zu Afrika und biogeographisch zu Makaronesien gehört, ist den meisten als sonnenverwöhntes Urlaubsziel bekannt. Mahlke hingegen kennt die Gegend, in der sich große Geschichte schon immer, aber immer in anderer Dosierung und mit Verzögerung abspielte, aus der Binnenperspektive. Als Kind hat sie zeitweise auf Teneriffa gelebt. Sie weiß, dass alternative Lebensentwürfe auch in maximaler Entfernung zur Herkunftswelt nicht unbedingt gelingen.
Für ihren multiperspektivischen Ritt über das Inselreich, der sich anhand mehrerer Familienschicksale ein ganzes Jahrhundert vornimmt, wählt sie eine gewagte Konstruktion. Die turbulente Historie der Bautes, der Bernadottes, Wieses und all der anderen aus den verschiedensten Gründen auf Teneriffa gestrandeten Familien wird nicht chronologisch erzählt. Die Autorin schlägt den umgekehrten Weg ein: "Archipel" beginn in der Gegenwart des Jahres 2015 bei der jungen Rosa, die gerade ihr Kunststudium in Madrid abgebrochen hat und mit gemischten Gefühlen auf die Insel zurückgekehrt ist. Von hier aus arbeitet sich die Erzählung auf dem Zeitstrahl ähnlich wie F. Scott Fitzgerald mit "Benjamin Button" zurück.
Das birgt seine Herausforderungen, doch bleiben wir zunächst bei der Gegenwart. Denn auch Rosas Eltern haben gerade mit je unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Ana ist als Lokalpolitikerin in einen Skandal verwickelt, und nach einem mysteriösen Todesfall lauert die Pressemeute schon vor der Tür. Ihr Mann, der Historiker Felipe, der seine Professur aus gekränkter Eitelkeit und Resignation an den Nagel gehängt hat, ringt mit Dämonen seiner familiären Vergangenheit. Manches versteht man zu diesem Zeitpunkt der Lektüre (noch) nicht, außer vielleicht, dass bei Spaniens einflussreichen Familien wie den Bernadottes sich immer irgendwann die Frage stellt: Wie hieltet ihr es mit Franco?
Felipe hat deshalb früh mit seiner Familie gebrochen und sein wissenschaftliches Leben der Aufarbeitung verschrieben. Die Spuren freilich sind nicht zu übersehen: Felipes Mutter trägt den Namen Francisca - benannt nach dem Diktator, dem sie einst als Kind zur Freude ihres Vaters Blumen überreichen durfte. Franco hatte hier ein kurzes, wenn auch unfreiwilliges Gastspiel. Als er 1936 als Oberbefehlshaber der Armee entlassen wurde, ernannte man ihn kurzerhand zum Militärkommandeur der Inseln. Die Demütigung, 1700 Kilometer von der Machtzentrale Madrid entfernt zu sein, hätte nicht größer sein können, zumal die insularen Jagdmöglichkeiten ihn enttäuscht haben sollen.
Was im Roman nun aber als Sittenbild kanarischer Gegenwart anfängt, mit den erwartbaren Spannungen zwischen Einheimischen und Touristen, nimmt Fahrt auf, wenn ein erzählerischer Rückwärtssalto nach dem anderen geschlagen wird. Kapitel für Kapitel arbeitet Mahlke sich in die Vergangenheit vor. Das Erzählverfahren hat den Reiz, dass vieles hier - wie in den Familien gedacht und nach welchen (unerklärlichen) Motiven gehandelt wird - sich erst im Nachhinein erschließt. Warum verfolgt Rosas hochbetagter Großvater Julio, der in einem Altersheim als Pförtner arbeitet, wie manisch Radrennen im Fernsehen? Erst als die Erzählung im Spanischen Bürgerkrieg angelangt ist, erfahren wir, dass Julio damals als Kurier im Einsatz war und von den Faschisten eingesperrt wurde - ein Fahrrad ist für ihn nie nur ein Fahrrad, sondern Vehikel in seine eigene Geschichte.
Unentwegt ist man mit blinden Motiven konfrontiert und Handlungen, deren Vorgeschichten vorerst im Dunkeln bleiben. Das Geschehen zu ordnen fällt schwer, erst mit fortschreitender Lektüre werden zurückliegende oder auch je nach Betrachtung künftige Ereignisse verständlich, wie auch die alten Traumata, die knapp unter der Oberfläche lauern.
"Irreversibel" könnte der Roman deshalb auch heißen, nach dem gleichnamigen und 2002 heftig umstrittenen Kinofilm, dessen Verfahren die Autorin hier in die Literatur überträgt. Hier wie da steht neben dem Erzählten auch die Erzählweise im Zentrum. Inger-Maria Mahlke will nicht allein von den Erlebnissen ihrer Protagonisten in Kriegen, Bürgerkriegen, Kolonialkriegen und Familientragödien erzählen, wer wie wo stand und deshalb heute wie wo steht. Sondern sie will mit der Verkehrung von Ursache und Wirkung vielmehr das Verhältnis von Zeit und Dasein an sich auf den Kopf stellen. Das ist radikal und manchmal unbequem zu lesen und hat doch größten Reiz. Denn wenn man die Uhr zurückdreht, funktioniert Linearität eben nicht mehr - und wer wollte schon behaupten, dass das historische Geschehen durch den Zeitlauf oder Kausalität bestimmt würde? Es sind die Ziele, Interessen und Absichten von Menschen, die Geschichte machen.
Mit den literarischen Möglichkeiten einer Insel haben vor Mahlke schon andere Autoren gespielt, etwa Lutz Seiler in "Kruso" oder Thomas Hettche in "Pfaueninsel". Auch im Mikrokosmos der Kanaren lässt sich gut beobachten, wie die Verhältnisse durch Machtwechsel oder touristischen Fortschritt umgedreht werden. Dass Mahlke in einer stark verkürzten Sprache schreibt, gehört zu ihrer Poetologie. Sie lässt weg, was ihr überflüssig erscheint in der Sprache, die sie wiederum mit spanischen und kanarischen Begriffen durchsetzt. Für das Glossar ist man dankbar - und über die Erkenntnis, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung nur für die Naturwissenschaften gilt, nicht aber für das Leben: "Auf die Zukunft!", lautet der letzte Satz.
SANDRA KEGEL
Inger-Maria Mahlke:
"Archipel". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 432 S., geb., 20 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Anfang vom Ende: Inger-Maria Mahlke erzählt in ihrem neuen Roman "Archipel" eine Jahrhundertgeschichte rückwärts.
Macht und Ohnmacht, Sicherheit und Unsicherheit, Ordnung und Chaos - das sind die Pole in jenem hochaufgeladenen Spannungsfeld, in dem sich die Romane von Inger-Maria Mahlke bewegen. Ob die Berliner Autorin von den teils verwahrlosten, teils verzweifelten Bewohnern eines Neuköllner Mietshauses erzählt, wie in ihrem zweiten Roman "Rechnung offen" (2010), oder in "Wie Ihr wollt" (2015) von der realen Mary Grey, einer kleinwüchsigen Adligen im England des sechzehnten Jahrhunderts, die unter Hausarrest stand, obwohl sie im Todesfall von Königin Elisabeth I. Anspruch auf den Thron gehabt hätte: Die Gegensätze, die Inger-Maria Mahlke in eigenwilligem Duktus aufbaut, betrachtet sie im Detail, als schriebe sie unter dem Mikroskop. So wird jeder Roman bei aller Historie, die erzählt wird, zum Naherlebnis; das Schlachtfeld der Juristin Mahlke ist vorzugsweise die Familie. Ihre Figuren entwirft sich dabei in sich widersprüchlich.
Mit "Archipel" hat die 1977 in Lübeck geborene Autorin nun einen Roman geschrieben, dessen Geschichte sie nach "Wie Ihr wollt" aufs Neue in der Fremde ansiedelt, diesmal allerdings nicht im kalten Norden im Zentrum der Macht, sondern in einer heißen entlegenen Weltgegend, den Kanaren. Die Inselgruppe im östlichen Atlantik, die politisch zu Spanien, geologisch zu Afrika und biogeographisch zu Makaronesien gehört, ist den meisten als sonnenverwöhntes Urlaubsziel bekannt. Mahlke hingegen kennt die Gegend, in der sich große Geschichte schon immer, aber immer in anderer Dosierung und mit Verzögerung abspielte, aus der Binnenperspektive. Als Kind hat sie zeitweise auf Teneriffa gelebt. Sie weiß, dass alternative Lebensentwürfe auch in maximaler Entfernung zur Herkunftswelt nicht unbedingt gelingen.
Für ihren multiperspektivischen Ritt über das Inselreich, der sich anhand mehrerer Familienschicksale ein ganzes Jahrhundert vornimmt, wählt sie eine gewagte Konstruktion. Die turbulente Historie der Bautes, der Bernadottes, Wieses und all der anderen aus den verschiedensten Gründen auf Teneriffa gestrandeten Familien wird nicht chronologisch erzählt. Die Autorin schlägt den umgekehrten Weg ein: "Archipel" beginn in der Gegenwart des Jahres 2015 bei der jungen Rosa, die gerade ihr Kunststudium in Madrid abgebrochen hat und mit gemischten Gefühlen auf die Insel zurückgekehrt ist. Von hier aus arbeitet sich die Erzählung auf dem Zeitstrahl ähnlich wie F. Scott Fitzgerald mit "Benjamin Button" zurück.
Das birgt seine Herausforderungen, doch bleiben wir zunächst bei der Gegenwart. Denn auch Rosas Eltern haben gerade mit je unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Ana ist als Lokalpolitikerin in einen Skandal verwickelt, und nach einem mysteriösen Todesfall lauert die Pressemeute schon vor der Tür. Ihr Mann, der Historiker Felipe, der seine Professur aus gekränkter Eitelkeit und Resignation an den Nagel gehängt hat, ringt mit Dämonen seiner familiären Vergangenheit. Manches versteht man zu diesem Zeitpunkt der Lektüre (noch) nicht, außer vielleicht, dass bei Spaniens einflussreichen Familien wie den Bernadottes sich immer irgendwann die Frage stellt: Wie hieltet ihr es mit Franco?
Felipe hat deshalb früh mit seiner Familie gebrochen und sein wissenschaftliches Leben der Aufarbeitung verschrieben. Die Spuren freilich sind nicht zu übersehen: Felipes Mutter trägt den Namen Francisca - benannt nach dem Diktator, dem sie einst als Kind zur Freude ihres Vaters Blumen überreichen durfte. Franco hatte hier ein kurzes, wenn auch unfreiwilliges Gastspiel. Als er 1936 als Oberbefehlshaber der Armee entlassen wurde, ernannte man ihn kurzerhand zum Militärkommandeur der Inseln. Die Demütigung, 1700 Kilometer von der Machtzentrale Madrid entfernt zu sein, hätte nicht größer sein können, zumal die insularen Jagdmöglichkeiten ihn enttäuscht haben sollen.
Was im Roman nun aber als Sittenbild kanarischer Gegenwart anfängt, mit den erwartbaren Spannungen zwischen Einheimischen und Touristen, nimmt Fahrt auf, wenn ein erzählerischer Rückwärtssalto nach dem anderen geschlagen wird. Kapitel für Kapitel arbeitet Mahlke sich in die Vergangenheit vor. Das Erzählverfahren hat den Reiz, dass vieles hier - wie in den Familien gedacht und nach welchen (unerklärlichen) Motiven gehandelt wird - sich erst im Nachhinein erschließt. Warum verfolgt Rosas hochbetagter Großvater Julio, der in einem Altersheim als Pförtner arbeitet, wie manisch Radrennen im Fernsehen? Erst als die Erzählung im Spanischen Bürgerkrieg angelangt ist, erfahren wir, dass Julio damals als Kurier im Einsatz war und von den Faschisten eingesperrt wurde - ein Fahrrad ist für ihn nie nur ein Fahrrad, sondern Vehikel in seine eigene Geschichte.
Unentwegt ist man mit blinden Motiven konfrontiert und Handlungen, deren Vorgeschichten vorerst im Dunkeln bleiben. Das Geschehen zu ordnen fällt schwer, erst mit fortschreitender Lektüre werden zurückliegende oder auch je nach Betrachtung künftige Ereignisse verständlich, wie auch die alten Traumata, die knapp unter der Oberfläche lauern.
"Irreversibel" könnte der Roman deshalb auch heißen, nach dem gleichnamigen und 2002 heftig umstrittenen Kinofilm, dessen Verfahren die Autorin hier in die Literatur überträgt. Hier wie da steht neben dem Erzählten auch die Erzählweise im Zentrum. Inger-Maria Mahlke will nicht allein von den Erlebnissen ihrer Protagonisten in Kriegen, Bürgerkriegen, Kolonialkriegen und Familientragödien erzählen, wer wie wo stand und deshalb heute wie wo steht. Sondern sie will mit der Verkehrung von Ursache und Wirkung vielmehr das Verhältnis von Zeit und Dasein an sich auf den Kopf stellen. Das ist radikal und manchmal unbequem zu lesen und hat doch größten Reiz. Denn wenn man die Uhr zurückdreht, funktioniert Linearität eben nicht mehr - und wer wollte schon behaupten, dass das historische Geschehen durch den Zeitlauf oder Kausalität bestimmt würde? Es sind die Ziele, Interessen und Absichten von Menschen, die Geschichte machen.
Mit den literarischen Möglichkeiten einer Insel haben vor Mahlke schon andere Autoren gespielt, etwa Lutz Seiler in "Kruso" oder Thomas Hettche in "Pfaueninsel". Auch im Mikrokosmos der Kanaren lässt sich gut beobachten, wie die Verhältnisse durch Machtwechsel oder touristischen Fortschritt umgedreht werden. Dass Mahlke in einer stark verkürzten Sprache schreibt, gehört zu ihrer Poetologie. Sie lässt weg, was ihr überflüssig erscheint in der Sprache, die sie wiederum mit spanischen und kanarischen Begriffen durchsetzt. Für das Glossar ist man dankbar - und über die Erkenntnis, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung nur für die Naturwissenschaften gilt, nicht aber für das Leben: "Auf die Zukunft!", lautet der letzte Satz.
SANDRA KEGEL
Inger-Maria Mahlke:
"Archipel". Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 432 S., geb., 20 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.09.2018Verloren im
ewigen Frühling
Geschichte zweier Familien und Chronik einer Insel:
Inger-Maria Mahlkes Teneriffa-Roman „Archipel“
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
In der Pförtnerloge des Altenasyls sitzt Julio Baute und sieht sich im Fernsehen die Übertragung einer Etappe der Tour de France an. Julios Pförtnertätigkeit ist im doppelten Sinne von Bedeutung. Zum einen gibt sie ihm das Gefühl, noch von Nutzen zu sein. Zum anderen hat er die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keiner der zum Teil dementen und verwirrten Heimbewohner unbemerkt das Gebäude verlassen kann. Er ist der Aufgabe nicht immer gewachsen, wie sich herausstellen wird. Julio Baute ist 95 Jahre alt und die heimliche Hauptfigur von Inger-Maria Mahlkes Roman „Archipel“, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Heimlich deshalb, weil der Roman in einem 96 Jahre umspannenden Bogen – von 2015 bis zurück in Julio Bautes Geburtsjahr 1919 – einen ganzen Reigen von Figuren auf- und wieder abtreten lässt. Doch der Gravitationspunkt ist der alte Julio, an seiner Biografie entlang wird die Historie eines knappen Jahrhunderts rekonstruiert.
Die Handlung von „Archipel“ ist auf der Kanareninsel Teneriffa angesiedelt, der Insel des ewigen Frühlings. Dort, in La Laguna, wo auch Julio Baute seinen Dienst verrichtet, ist Inger-Maria Mahlkes Mutter geboren. Das ist einem 2015 erschienenen Essay Mahlkes zu entnehmen, in dem sie sich mit der Insel beschäftigt. Viele Monate hat die Autorin, die 1977 in Hamburg geboren wurde, seit ihrer Kindheit auf der Insel zugebracht. Und sie erinnert sich noch, wie die Großmutter auch nach dem Ende der Franco-Diktatur beim Anblick der Guardia Civil reflexartig zusammengezuckt ist, weil sie Repressionen befürchtete.
Es ist also kein willkürlich gesuchter, sondern ein gewachsener und gereifter Entschluss, der Mahlke dazu bewogen hat, Teneriffa nicht nur als Schauplatz zu wählen, sondern als einen Brennpunkt geostrategischer, ökonomischer und individueller Interessen zu inszenieren. Die fundierte Kenntnis von Geografie und Mentalität ist zu spüren. Denn die Stärken des Romans sind von der ersten Seite an erkennbar. Sie resultieren aus Mahlkes Fähigkeit, durch Milieu- und Ortsschilderungen Atmosphäre zu schaffen, prägnante Szenen zu entwerfen und in kurzen Kapiteln glaubwürdige, klischeefreie Charaktere zu zeichnen.
„Archipel“ beginnt mit der detaillierten Beschreibung der meteorologischen Gegebenheiten. Möglicherweise eine zarte Hommage an den Auftakt von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, die sich in einem Satz zusammenfassen lässt: Es war ein schöner Julitag des Jahres 2015. Ana Baute Marrero, Staatssekretärin, Mitglied der konservativen Partei und Julio Bautes Tochter, schickt sich an, gemeinsam mit ihrem Mann Felipe Bernadotte Gonzalez und ihrer Tochter Rosa eine Kunstausstellung zu besuchen.
Felipe ist der daueralkoholisierte und desillusionierte letzte Spross einer ruhmreichen Familie, die mindestens das letzte Jahrhundert hindurch die Geschicke der Insel entscheidend geprägt hat. Nun sitzt der Historiker, der sein Forschungsprojekt „Bürgerkrieg und Repression auf den Kanarischen Inseln“ aufgegeben hat und seine Lehrtätigkeit an der Universität gleich mit, Tag für Tag im Lederfauteuil seines Klubs und hält den Whiskeypegel auf stabilem Niveau. Auch die Tochter Rosa ist mit 21 Jahren bereits eine Gescheiterte. Nach Madrid aufgebrochen, um irgend etwas mit Kunst zu machen, ist sie nun zurück auf der Insel und weiß zunächst wenig mit sich anzufangen.
Inger-Maria Mahlke gibt einen Eindruck der allgemeinen Depravation, um diesen Zustand dann historisch herzuleiten. Die Insel wird zu einem Sinnbild eines von der großen europäischen Krise geschüttelten Landes. Zugebaut mit halblegalen und illegalen Hotel- und Feriensiedlungen, die Strände verseucht von Algen, die das Ergebnis mangelhafter Umweltpolitik sind. Ein Ort ohne Perspektive für die junge Generation. Dazu passt, dass in jenem Sommer 2015 gegen Ana Ermittlungen wegen Korruption eingeleitet werden, weswegen sie sich zunächst einmal im Familienanwesen der Bernadottes vor der Presse verschanzt. Ein Anwesen, das, versteht sich, schleichend verfällt. All das erzählt Inger-Maria Mahlke in einer vokabel- und windungsreichen Sprache, die ihren Roman zunächst gegen jeglichen Verdacht des Plakativen imprägniert. Die ersten 200 Seiten von „Archipel“ sind in ihrem Detailreichtum und ihrer Beschreibungspotenz starke Literatur.
Die Bautes und die Bernadottes werden im Rückblick paradigmatisch über Jahrzehnte hinweg als politische Antipoden gezeigt. Felipes Großvater Lorenzo steht von Beginn an auf der Seite der Falangisten und steigt als Zeitungsverleger zum propagandistischen Sprachrohr des Regimes auf, um nach der Absetzung der falangistischen Minister im Februar 1957 weinend in seinem Arbeitszimmer zu sitzen. Julio Baute zieht gegen die Faschisten in den Bürgerkrieg, landet im Gefängnis und kehrt nach sieben Jahren traumatisiert und perspektivlos zurück auf die Insel. Der Krieg und das Franco-Regime kennen keine Sieger. Die Privilegierten sind untergegangen in Dekadenz, die Verlierer sind Verlierer geblieben.
Das Problem des Romans ist nicht ein Mangel an Sprachvermögen, sondern seine Konstruktion. Inger-Maria Mahlke erzählt chronologisch rückwärts. Sie unternimmt den Versuch, das Desaster der Gegenwart aus den Tiefenschichten der Vergangenheit auszugraben und damit zu erklären. Dadurch allerdings schafft sie sich eine Reihe formaler Zwänge. Wenn man als Leser immer schon weiß, welche Konsequenzen eine bestimmte Episode hat (weil man davon ja bereits im vorangegangenen Kapitel gelesen hat), stellt sich schnell eine gewisse Spannungslosigkeit ein.
Selbst wenn jede einzelne Szene in sich noch so gelungen sein mag – die Aneinanderreihung von mit Bedeutung aufgeladenen historischen Standbildern funktioniert als Erzählprinzip eines Romans nicht. Die Einzelkapitel müssen, das ist der Zwang des Konstrukts, sowohl permanent resümieren als auch illustrieren. Putschversuch und Bürgerkrieg, Hochzeiten, soziale Positionskämpfe und ein bisschen Inselgeschichte: „Archipel“ will Chronik und Seelenerkundung zugleich sein. Das ist zu viel. Darum flacht der im ersten Teil so staunenswert gelungene Text etwa ab der Mitte in zunehmend kürzeren Kapiteln zu einer brav abgearbeiteten Geschichtslektion ab, in der die Charaktere an Kontur verlieren. Es war eine so kluge wie notwendige Entscheidung der Autorin, dem Buch ein Personenverzeichnis anzuhängen.
Inger-Maria Mahlke hat mit Romanen wie „Wie Ihr wollt“ und vor allem dem kühlen Glanzstück „Rechnung offen“ gezeigt, dass sie eine versierte Schriftstellerin ist. Auch „Archipel“ ist ein Buch, das mit vielen imponierenden Passagen im Gedächtnis bleibt. Aber es ist, leider, ein nur teilweise gelungener Roman.
Inger-Maria Mahlke: Archipel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 432 Seiten, 20 Euro.
Der Krieg und das
Franco-Regime
kennen keine Sieger
Die Aneinanderreihung
historischer Standbilder wird
zum erzählerischen Problem
Auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018: Inger-Maria Mahlke.
Foto: Dagmar Morath
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ewigen Frühling
Geschichte zweier Familien und Chronik einer Insel:
Inger-Maria Mahlkes Teneriffa-Roman „Archipel“
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
In der Pförtnerloge des Altenasyls sitzt Julio Baute und sieht sich im Fernsehen die Übertragung einer Etappe der Tour de France an. Julios Pförtnertätigkeit ist im doppelten Sinne von Bedeutung. Zum einen gibt sie ihm das Gefühl, noch von Nutzen zu sein. Zum anderen hat er die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keiner der zum Teil dementen und verwirrten Heimbewohner unbemerkt das Gebäude verlassen kann. Er ist der Aufgabe nicht immer gewachsen, wie sich herausstellen wird. Julio Baute ist 95 Jahre alt und die heimliche Hauptfigur von Inger-Maria Mahlkes Roman „Archipel“, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises steht. Heimlich deshalb, weil der Roman in einem 96 Jahre umspannenden Bogen – von 2015 bis zurück in Julio Bautes Geburtsjahr 1919 – einen ganzen Reigen von Figuren auf- und wieder abtreten lässt. Doch der Gravitationspunkt ist der alte Julio, an seiner Biografie entlang wird die Historie eines knappen Jahrhunderts rekonstruiert.
Die Handlung von „Archipel“ ist auf der Kanareninsel Teneriffa angesiedelt, der Insel des ewigen Frühlings. Dort, in La Laguna, wo auch Julio Baute seinen Dienst verrichtet, ist Inger-Maria Mahlkes Mutter geboren. Das ist einem 2015 erschienenen Essay Mahlkes zu entnehmen, in dem sie sich mit der Insel beschäftigt. Viele Monate hat die Autorin, die 1977 in Hamburg geboren wurde, seit ihrer Kindheit auf der Insel zugebracht. Und sie erinnert sich noch, wie die Großmutter auch nach dem Ende der Franco-Diktatur beim Anblick der Guardia Civil reflexartig zusammengezuckt ist, weil sie Repressionen befürchtete.
Es ist also kein willkürlich gesuchter, sondern ein gewachsener und gereifter Entschluss, der Mahlke dazu bewogen hat, Teneriffa nicht nur als Schauplatz zu wählen, sondern als einen Brennpunkt geostrategischer, ökonomischer und individueller Interessen zu inszenieren. Die fundierte Kenntnis von Geografie und Mentalität ist zu spüren. Denn die Stärken des Romans sind von der ersten Seite an erkennbar. Sie resultieren aus Mahlkes Fähigkeit, durch Milieu- und Ortsschilderungen Atmosphäre zu schaffen, prägnante Szenen zu entwerfen und in kurzen Kapiteln glaubwürdige, klischeefreie Charaktere zu zeichnen.
„Archipel“ beginnt mit der detaillierten Beschreibung der meteorologischen Gegebenheiten. Möglicherweise eine zarte Hommage an den Auftakt von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, die sich in einem Satz zusammenfassen lässt: Es war ein schöner Julitag des Jahres 2015. Ana Baute Marrero, Staatssekretärin, Mitglied der konservativen Partei und Julio Bautes Tochter, schickt sich an, gemeinsam mit ihrem Mann Felipe Bernadotte Gonzalez und ihrer Tochter Rosa eine Kunstausstellung zu besuchen.
Felipe ist der daueralkoholisierte und desillusionierte letzte Spross einer ruhmreichen Familie, die mindestens das letzte Jahrhundert hindurch die Geschicke der Insel entscheidend geprägt hat. Nun sitzt der Historiker, der sein Forschungsprojekt „Bürgerkrieg und Repression auf den Kanarischen Inseln“ aufgegeben hat und seine Lehrtätigkeit an der Universität gleich mit, Tag für Tag im Lederfauteuil seines Klubs und hält den Whiskeypegel auf stabilem Niveau. Auch die Tochter Rosa ist mit 21 Jahren bereits eine Gescheiterte. Nach Madrid aufgebrochen, um irgend etwas mit Kunst zu machen, ist sie nun zurück auf der Insel und weiß zunächst wenig mit sich anzufangen.
Inger-Maria Mahlke gibt einen Eindruck der allgemeinen Depravation, um diesen Zustand dann historisch herzuleiten. Die Insel wird zu einem Sinnbild eines von der großen europäischen Krise geschüttelten Landes. Zugebaut mit halblegalen und illegalen Hotel- und Feriensiedlungen, die Strände verseucht von Algen, die das Ergebnis mangelhafter Umweltpolitik sind. Ein Ort ohne Perspektive für die junge Generation. Dazu passt, dass in jenem Sommer 2015 gegen Ana Ermittlungen wegen Korruption eingeleitet werden, weswegen sie sich zunächst einmal im Familienanwesen der Bernadottes vor der Presse verschanzt. Ein Anwesen, das, versteht sich, schleichend verfällt. All das erzählt Inger-Maria Mahlke in einer vokabel- und windungsreichen Sprache, die ihren Roman zunächst gegen jeglichen Verdacht des Plakativen imprägniert. Die ersten 200 Seiten von „Archipel“ sind in ihrem Detailreichtum und ihrer Beschreibungspotenz starke Literatur.
Die Bautes und die Bernadottes werden im Rückblick paradigmatisch über Jahrzehnte hinweg als politische Antipoden gezeigt. Felipes Großvater Lorenzo steht von Beginn an auf der Seite der Falangisten und steigt als Zeitungsverleger zum propagandistischen Sprachrohr des Regimes auf, um nach der Absetzung der falangistischen Minister im Februar 1957 weinend in seinem Arbeitszimmer zu sitzen. Julio Baute zieht gegen die Faschisten in den Bürgerkrieg, landet im Gefängnis und kehrt nach sieben Jahren traumatisiert und perspektivlos zurück auf die Insel. Der Krieg und das Franco-Regime kennen keine Sieger. Die Privilegierten sind untergegangen in Dekadenz, die Verlierer sind Verlierer geblieben.
Das Problem des Romans ist nicht ein Mangel an Sprachvermögen, sondern seine Konstruktion. Inger-Maria Mahlke erzählt chronologisch rückwärts. Sie unternimmt den Versuch, das Desaster der Gegenwart aus den Tiefenschichten der Vergangenheit auszugraben und damit zu erklären. Dadurch allerdings schafft sie sich eine Reihe formaler Zwänge. Wenn man als Leser immer schon weiß, welche Konsequenzen eine bestimmte Episode hat (weil man davon ja bereits im vorangegangenen Kapitel gelesen hat), stellt sich schnell eine gewisse Spannungslosigkeit ein.
Selbst wenn jede einzelne Szene in sich noch so gelungen sein mag – die Aneinanderreihung von mit Bedeutung aufgeladenen historischen Standbildern funktioniert als Erzählprinzip eines Romans nicht. Die Einzelkapitel müssen, das ist der Zwang des Konstrukts, sowohl permanent resümieren als auch illustrieren. Putschversuch und Bürgerkrieg, Hochzeiten, soziale Positionskämpfe und ein bisschen Inselgeschichte: „Archipel“ will Chronik und Seelenerkundung zugleich sein. Das ist zu viel. Darum flacht der im ersten Teil so staunenswert gelungene Text etwa ab der Mitte in zunehmend kürzeren Kapiteln zu einer brav abgearbeiteten Geschichtslektion ab, in der die Charaktere an Kontur verlieren. Es war eine so kluge wie notwendige Entscheidung der Autorin, dem Buch ein Personenverzeichnis anzuhängen.
Inger-Maria Mahlke hat mit Romanen wie „Wie Ihr wollt“ und vor allem dem kühlen Glanzstück „Rechnung offen“ gezeigt, dass sie eine versierte Schriftstellerin ist. Auch „Archipel“ ist ein Buch, das mit vielen imponierenden Passagen im Gedächtnis bleibt. Aber es ist, leider, ein nur teilweise gelungener Roman.
Inger-Maria Mahlke: Archipel. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 432 Seiten, 20 Euro.
Der Krieg und das
Franco-Regime
kennen keine Sieger
Die Aneinanderreihung
historischer Standbilder wird
zum erzählerischen Problem
Auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018: Inger-Maria Mahlke.
Foto: Dagmar Morath
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sandra Kegel kann sich keine bessere Begleitung für eine Jahrhundertreise durch die Kanaren vorstellen, als die Autorin und Juristin Inger-Maria Mahlke, die selbst auf Teneriffa aufwuchs. Die Kritikerin liest hier die komplett auf Chronologie verzichtende und multiperspektivisch erzählte Geschichte verschiedener Familien, die allesamt aus unterschiedlichen Beweggründen auf Teneriffa gelandet sind, springt von der Gegenwart zum Spanischen Bürgerkrieg zu den Kolonialkriegen und zurück, erlebt allerhand Tragödien und staunt nicht nur, wie Mahlke Ursache und Wirkung auf den Kopf stellt, sondern auch das große Ganze erst nach und nach zusammensetzt und doch stets im Blick behält. Die reduzierte, mit spanischen und kanarischen Begriffen durchsetzte Sprache macht dabei den besonderen Reiz aus, findet Kegel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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