Ist die Architektur eine Kunst, obwohl Bauwerke meistens keine Kunstwerke sind? Was macht Bauwerke zu Kunstwerken und was bestimmt ihren ästhetischen Wert? Was ist spezifisch für unsere Erfahrung architektonischer Werke? In welcher Weise, wenn überhaupt, tragen Bau werke Bedeutung? Was ist gemeint, wenn von der Identi tät von Bauwerken die Rede ist? Hat die Architektur eine ethische Funktion? Brauchen wir eine Ethik der Architektur? Die hier versammelten Aufsätze nehmen zu solchen Fragen Stellung. Der Band führt so anhand exemplarischer Positionen in die zeitgenössische Philosophie der Architektur ein. Neben phänomenologischen und hermeneutischen Auffassungen kommt insbesondere die analytische Architekturphilosophie zu Wort. Die meisten Beiträge liegen hier erstmals in deutscher ÜberSetzung vor oder wurden eigens für diesen Band geschrieben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2013In Kunst möchte man nicht immer wohnen
Für den Streit um das nächste Bauprojekt der Berliner Republik: Ein Band mit Texten zur Architekturphilosophie
Gut zweitausend Jahre lang bestand die Philosophie nur aus einer Handvoll Disziplinen: etwa der Logik, der Erkenntnistheorie, der Metaphysik, der Ethik, der Poetik oder der Rhetorik. Mit dieser schönen Übersichtlichkeit ist es jedoch schon lange vorbei. Spätestens mit der "Erfindung" der Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten Ende des achtzehnten Jahrhunderts setzte auch in der Philosophie der Prozess wissenschaftlicher Differenzierung ein, der charakteristisch für die Entwicklung der Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert werden sollte. Die Folge waren etwa eine Philosophie der Geschichte, eine Wissenschaftsphilosophie, eine Philosophie der Sprache und eine der Musik.
Geschürt durch einen Innovationszwang, der mittels Exzellenzinitiativen und Drittmittelwettbewerben noch verschärft wird, sind in den letzten Jahren zudem eine Reihe von Bindestrich-Philosophien initiiert worden, über deren Sinn man durchaus streiten kann.
Dementsprechend nimmt man den Band "Architekturphilosophie" zunächst mit einer gewissen Skepsis zur Hand, zumal sich der unvoreingenommene Leser unwillkürlich fragt, wo eigentlich der Unterschied zwischen Architekturphilosophie und Architekturtheorie liegen soll.
Es ist daher sehr hilfreich, dass der Herausgeber Christoph Baumberger in seinem einleitenden Vorwort die Architekturphilosophie zunächst von einer allgemeinen Theorie der Architektur abgrenzt. Architekturphilosophie befasse nicht mit einzelnen Bauwerken oder Epochen, sondern versuche, die begrifflichen Grundlagen des Nachdenkens über Architektur zu klären. Dementsprechend geht es ihr nicht darum, für oder gegen besondere Stile oder Richtungen Partei zu ergreifen, sondern darum, die kategorialen Grundlagen der Auseinandersetzung über Architektur herauszuarbeiten.
Allerdings ist die Architekturphilosophie ein Teil der Ästhetik und somit eine normativ ausgerichtete Disziplin. Ein gutes Beispiel hierfür ist Roger Scrutons Buch "The Aesthetics of Architecture", das als Geburtsurkunde der analytischen Architekturphilosophie gilt. Scruton, bekannt nicht nur durch seine Elogen an den Wein oder seine Heimat England, sondern auch für seinen pointierten Konservativismus und eben seine Arbeiten zur Ästhetik, plädiert dort für den Klassizismus und gegen die Moderne - von Neutralität kann also keine Rede sein. Dass Scrutons Buch dennoch als Meilenstein gilt und Baumberger zu Recht ein Kapitel aus ihm für den vorliegenden Band übernommen hat, liegt vor allem daran, dass Scruton elegant und präzise eine Theorie der architektonischen Erfahrung entwickelt, die grundlegend für weitere Diskussionen ist. Für Scruton ist die Wahrnehmung von Architektur imaginativer Art, also immer schon reflexiv und begrifflich bestimmt. Auch wenn man natürlich fragen kann, ob es überhaupt eine andere Form der Wahrnehmung gibt, markiert Scruton damit den Rahmen (und die Grenzen) der kategorialen Analyse von Architektur.
Entwickelt Scruton seine Theorie am Beispiel der klassischen Kulturarchitektur, etwa dem Palazzo Pisani Moretta in Venedig oder dem Palazzo Massimo alle Colonne in Rom, so plädiert Allen Carlson dafür, sich der Alltagsarchitektur zuzuwenden und die Architekturästhetik dementsprechend als Teil der Alltagsästhetik aufzufassen. Die Architekturästhetik habe sich nicht auf einzelne Gebäude zu beschränken, sondern die notwendige Infrastruktur und den praktischen Nutzen eines Gebäudes mit einzubeziehen. Damit überschreitet Carlson zugleich den klassischen Funktionalismus, der sich auf das einzelne Gebäude beschränkt, und betont die funktionale Angepasstheit eines Gebäudes an seine Umgebung. Wie in der natürlichen Umwelt, so stehe auch in der menschlichen Umwelt nichts für sich allein. Gebäude und Stadträume müsse daher "im Hinblick auf die interne Angepasstheit und die Angepasstheit an ihre Umwelt wertgeschätzt werden".
Sowohl für Scruton als auch für Carlson sind die fertigen Gebäude Gegenstände der Architekturästhetik - und nicht etwa die Pläne des Architekten. Da jedoch offensichtlich die wenigsten Gebäude Kunstwerke sind, ist für Stephen Davies Architektur keine Kunstform, sondern eine Praxis, die manchmal Kunstwerke hervorbringt.
Dagegen argumentiert Robert Stecker: Auch anerkannte Kunstformen wie Film oder Fotografie würden nicht immer Werke hervorbringen, die das Prädikat "Kunst" verdienten. Ob ein Bauwerk Kunst ist, hängt für Stecker daher von den Absichten des Architekten und den realisierten Zwecken ab. Allerdings gesteht Stecker zu, dass die Bedingungen, die ein Gebäude zu einem Kunstwerk machen, bestenfalls hinreichend, aber nicht notwendig sind. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass es zwar gute Gründe geben mag, ein Gebäude gegenüber einem anderen als Kunstwerk auszuweisen, allerdings sind diese alles andere als objektiv: "Die Überlegungen, die für die Wertschätzung oder Bewertung von Bauwerken, die Kunstwerke sind, relevant sind, unterscheiden sich nur unwesentlich von denjenigen, die für Bauwerke relevant sind, die keine Kunstwerke sind."
Wie nicht anders zu erwarten, beantworten die Beiträge des Sammelbandes weder die Frage, was einen Bau zu einem Kunstwerk macht, noch, worin die Grundlagen der ästhetischen Bewertung von Architektur liegen. Allerdings liefern die begrifflichen Grundlagen für architekturästhetische Diskussionen. Insofern ist der vorliegende Band nicht nur für philosophische Seminare und Architekten hilfreich, sondern auch für interessierte Laien. Wie notwendig einschlägige Debatten sind, zeigen die architektonischen Prestigeprojekte der Berliner Republik. Zumal man häufig den Eindruck hat, dass es gerade der diffuse Kunstwille vieler Architekten ist, der verhindert, dass die entstehenden Bauwerke ihren vornehmsten Zweck erfüllen: zu funktionieren.
ALEXANDER GRAU.
Christoph Baumberger (Hrsg.): "Architekturphilosophie". Grundlagentexte.
mentis Verlag, Münster 2013. 200 S., br., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für den Streit um das nächste Bauprojekt der Berliner Republik: Ein Band mit Texten zur Architekturphilosophie
Gut zweitausend Jahre lang bestand die Philosophie nur aus einer Handvoll Disziplinen: etwa der Logik, der Erkenntnistheorie, der Metaphysik, der Ethik, der Poetik oder der Rhetorik. Mit dieser schönen Übersichtlichkeit ist es jedoch schon lange vorbei. Spätestens mit der "Erfindung" der Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten Ende des achtzehnten Jahrhunderts setzte auch in der Philosophie der Prozess wissenschaftlicher Differenzierung ein, der charakteristisch für die Entwicklung der Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert werden sollte. Die Folge waren etwa eine Philosophie der Geschichte, eine Wissenschaftsphilosophie, eine Philosophie der Sprache und eine der Musik.
Geschürt durch einen Innovationszwang, der mittels Exzellenzinitiativen und Drittmittelwettbewerben noch verschärft wird, sind in den letzten Jahren zudem eine Reihe von Bindestrich-Philosophien initiiert worden, über deren Sinn man durchaus streiten kann.
Dementsprechend nimmt man den Band "Architekturphilosophie" zunächst mit einer gewissen Skepsis zur Hand, zumal sich der unvoreingenommene Leser unwillkürlich fragt, wo eigentlich der Unterschied zwischen Architekturphilosophie und Architekturtheorie liegen soll.
Es ist daher sehr hilfreich, dass der Herausgeber Christoph Baumberger in seinem einleitenden Vorwort die Architekturphilosophie zunächst von einer allgemeinen Theorie der Architektur abgrenzt. Architekturphilosophie befasse nicht mit einzelnen Bauwerken oder Epochen, sondern versuche, die begrifflichen Grundlagen des Nachdenkens über Architektur zu klären. Dementsprechend geht es ihr nicht darum, für oder gegen besondere Stile oder Richtungen Partei zu ergreifen, sondern darum, die kategorialen Grundlagen der Auseinandersetzung über Architektur herauszuarbeiten.
Allerdings ist die Architekturphilosophie ein Teil der Ästhetik und somit eine normativ ausgerichtete Disziplin. Ein gutes Beispiel hierfür ist Roger Scrutons Buch "The Aesthetics of Architecture", das als Geburtsurkunde der analytischen Architekturphilosophie gilt. Scruton, bekannt nicht nur durch seine Elogen an den Wein oder seine Heimat England, sondern auch für seinen pointierten Konservativismus und eben seine Arbeiten zur Ästhetik, plädiert dort für den Klassizismus und gegen die Moderne - von Neutralität kann also keine Rede sein. Dass Scrutons Buch dennoch als Meilenstein gilt und Baumberger zu Recht ein Kapitel aus ihm für den vorliegenden Band übernommen hat, liegt vor allem daran, dass Scruton elegant und präzise eine Theorie der architektonischen Erfahrung entwickelt, die grundlegend für weitere Diskussionen ist. Für Scruton ist die Wahrnehmung von Architektur imaginativer Art, also immer schon reflexiv und begrifflich bestimmt. Auch wenn man natürlich fragen kann, ob es überhaupt eine andere Form der Wahrnehmung gibt, markiert Scruton damit den Rahmen (und die Grenzen) der kategorialen Analyse von Architektur.
Entwickelt Scruton seine Theorie am Beispiel der klassischen Kulturarchitektur, etwa dem Palazzo Pisani Moretta in Venedig oder dem Palazzo Massimo alle Colonne in Rom, so plädiert Allen Carlson dafür, sich der Alltagsarchitektur zuzuwenden und die Architekturästhetik dementsprechend als Teil der Alltagsästhetik aufzufassen. Die Architekturästhetik habe sich nicht auf einzelne Gebäude zu beschränken, sondern die notwendige Infrastruktur und den praktischen Nutzen eines Gebäudes mit einzubeziehen. Damit überschreitet Carlson zugleich den klassischen Funktionalismus, der sich auf das einzelne Gebäude beschränkt, und betont die funktionale Angepasstheit eines Gebäudes an seine Umgebung. Wie in der natürlichen Umwelt, so stehe auch in der menschlichen Umwelt nichts für sich allein. Gebäude und Stadträume müsse daher "im Hinblick auf die interne Angepasstheit und die Angepasstheit an ihre Umwelt wertgeschätzt werden".
Sowohl für Scruton als auch für Carlson sind die fertigen Gebäude Gegenstände der Architekturästhetik - und nicht etwa die Pläne des Architekten. Da jedoch offensichtlich die wenigsten Gebäude Kunstwerke sind, ist für Stephen Davies Architektur keine Kunstform, sondern eine Praxis, die manchmal Kunstwerke hervorbringt.
Dagegen argumentiert Robert Stecker: Auch anerkannte Kunstformen wie Film oder Fotografie würden nicht immer Werke hervorbringen, die das Prädikat "Kunst" verdienten. Ob ein Bauwerk Kunst ist, hängt für Stecker daher von den Absichten des Architekten und den realisierten Zwecken ab. Allerdings gesteht Stecker zu, dass die Bedingungen, die ein Gebäude zu einem Kunstwerk machen, bestenfalls hinreichend, aber nicht notwendig sind. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass es zwar gute Gründe geben mag, ein Gebäude gegenüber einem anderen als Kunstwerk auszuweisen, allerdings sind diese alles andere als objektiv: "Die Überlegungen, die für die Wertschätzung oder Bewertung von Bauwerken, die Kunstwerke sind, relevant sind, unterscheiden sich nur unwesentlich von denjenigen, die für Bauwerke relevant sind, die keine Kunstwerke sind."
Wie nicht anders zu erwarten, beantworten die Beiträge des Sammelbandes weder die Frage, was einen Bau zu einem Kunstwerk macht, noch, worin die Grundlagen der ästhetischen Bewertung von Architektur liegen. Allerdings liefern die begrifflichen Grundlagen für architekturästhetische Diskussionen. Insofern ist der vorliegende Band nicht nur für philosophische Seminare und Architekten hilfreich, sondern auch für interessierte Laien. Wie notwendig einschlägige Debatten sind, zeigen die architektonischen Prestigeprojekte der Berliner Republik. Zumal man häufig den Eindruck hat, dass es gerade der diffuse Kunstwille vieler Architekten ist, der verhindert, dass die entstehenden Bauwerke ihren vornehmsten Zweck erfüllen: zu funktionieren.
ALEXANDER GRAU.
Christoph Baumberger (Hrsg.): "Architekturphilosophie". Grundlagentexte.
mentis Verlag, Münster 2013. 200 S., br., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Antworten auf die Fragen, was einen Bau zum Kunstwerk macht, oder wie Architektur zu bewerten sei, erhält der Rezensent zwar nicht von den Autoren dieses Buche. Dennoch möchte Alexander Grau den von Christoph Baumberger herausgegebenen Sammelband Laien und Fachleuten gleichermaßen empfehlen, um Debatten zum Thema besser verfolgen zu können. Rüstzeug dafür bieten die Beiträge laut Baumberger allemal dadurch, dass sie die begriffliche Basis herstellen, wie etwa der in den Band aufgenommene Aufsatz von Roger Scruton über architektonische Erfahrung. Alltagsästehtik oder Kunst? Diese Frage umkreisen laut Rezensent weitere hier versammelte Texte und vermitteln kategoriale Grundlagen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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