Wer von uns käme auf die Idee, am Wochenende zum Flanieren und Schauen etwa in die Frankfurter Nordweststadt zu fahren, nach Darmstadt-Kranichstein oder in die Kasseler Kurt-Schumacher-Straße, allesamt städtebauliche und architektonische Hervorbringungen der zweiten Moderne? Wir ziehen es vor, lieber Wiesbaden zu besuchen, Melsungen oder Gelnhausen, auf jeden Fall aber Orte, denen Geschichte abzulesen ist und die (zumindest in einigen Bereichen) noch über intakte städtebauliche Zusammenhänge verfügen. Für die Architektur der letzten Jahrzehnte kommt dieser Befund einem Offenbarungseid gleich, Plätze wie die Konstablerwache in Frankfurt oder der Königsplatz in Kassel sind außerhalb der Ladenöffnungszeiten weitgehend städtisches Ödland, ihnen fehlt es offenkundig an Urbanität, Lebendigkeit und Attraktivität. Woran liegt das? Warum hat der Städtebau unserer Zeit so eklatant versagt? Warum empfinden wir unsere Städte überwiegend als unwirtlich? Der Autor Manfred E. Schuchmann und Christoph Mäckler, einer der bekanntesten deutschen Architekten, sind diesen Fragen nachgegangen. Sie haben sich in 25 hessischen Städten umgeschaut und haben immer wieder horrende Architektursünden vorgefunden, die mitunter einer Zerstörung des Stadtbildes gleichkommen. Christoph Mäckler hat jedes Mal sein kleines, schwarzes Skizzenbuch gezückt und an Ort und Stelle alternative Lösungen gezeichnet, die einer "Stadtreparatur" den Weg weisen. Die Beiträge des Buches gehen auf die erfolgreiche, gleichnamige Fernsehserie in der Sendung "Hauptsache Kultur" des Hessischen Rundfunks zurück. Sie wurden aktualisiert und mit zwei grundsätzlichen Betrachtungen zum Zustand unserer gebauten Umwelt und den wesentlichen Ursachen der städtebaulichen Misere ergänzt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.10.2009Betonklötze und Asphaltwüsten
An 25 Beispielen verdeutlicht ein neues Buch die zweite Zerstörung hessischer Städte durch Architekten und Bauherren nach dem Krieg.
MARBURG (lhe). Die Landeshymne lobt Hessens Architektur in den höchsten Tönen: Zwischen Werra und Lahn "glänzen die Städte" und "sind herrlich im Lichte zu schauen", heißt es im Hessenlied. Der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler und der Journalist Manfred Schuchmann sehen das ganz anders. Die beiden haben 25 Orte im Land besichtigt und ihre Eindrücke in einem Buch mit eindeutigem Titel gesammelt: "Architektursünden in Hessen".
Der im Marburger Jonas Verlag erschienene Band ist ein Alphabet des missglückten Städtebaus von A wie Alsfeld bis W wie Wetzlar und Wiesbaden. Der Rundgang durch Betonklötze und Asphaltwüsten soll zeigen: Nach 1945 wurden viele Innenstädte Hessens zum zweiten Mal zerstört - nicht von den Bomben der Alliierten, sondern von geschmacklosen Bauherren und Architekten.
Mit Lust an der Provokation beschreiben Mäckler und Schuchmann den Zustand der hessischen Innenstädte. Mitunter gibt es Lob für Neubauten, meistens aber vernichtende Kritik. Gleich drei abschreckende Beispiele finden die Autoren in Frankfurt: Der Vorplatz des Hauptbahnhofs wird als "Schrotthaufen" aus "altem Nachkriegselend und neuem Planungschaos" abgekanzelt. Die Hauptwache besteht für die beiden Kritiker aus "banaler Geschäfts- und Kaufhausarchitektur ohne jede Ausstrahlung". Noch härter ist das Urteil über die Konstablerwache als "städtebauliche Bankrotterklärung der Moderne". Kein Platz in Hessen sei so gestaltlos wie dieser mit seiner "riesigen Leerfläche" und "Gebäuden auf der Schwundstufe architektonischen Gestaltungsvermögens".
In Kassel stört die Autoren vor allem die breite Bundesstraße am Friedrichsplatz als Hindernis zwischen Innenstadt und Karlsaue. Das neue Großkino in der Nachbarschaft - "ein blechernes und gläsernes Monstrum" - gebe dem Ort den städtebaulichen Gnadenstoß. Nur ein Abriss des Kinos könne die Gegend noch retten, meinen Mäckler und Schuchmann. In Wiesbaden kritisieren die Autoren ideenlose Neubauten im Kurviertel, in Darmstadt den "Gigantismus" von Luisencenter und Darmstadtium. Mäckler und Schuchmann waren nicht nur in Großstädten unterwegs. Im südhessischen Dieburg mit seinen rund 15 000 Einwohnern fanden die Autoren sogar eine "Todsünde": das Neue Rathaus aus den siebziger Jahren. "Dieser Neubau drängt sich ungebührlich an die alten Baukörper heran, er berührt sie geradezu unsittlich. In seinen Formen ist er beliebig und in vielen Details außerdem unfunktional, kurzum: sehr schlechte Architektur und städtebaulich eine Katastrophe."
Die Vogelsbergstadt Alsfeld preisen die Architekturexperten zwar als "Schmuckkästlein der deutschen Fachwerkromantik", bedauern aber umso mehr, dass ein altes Scheunenviertel einem Parkdeck weichen musste - ein "Kollateralschaden der allgemeinen Mobilität".
Immer wieder sind es Rathäuser aus den siebziger und achtziger Jahren, die die beiden zur Verzweiflung treiben. Kein Bauherr der Geschichte "hätte sich solchen Schund hingestellt, wie es unser öffentliches Gemeinwesen fertiggebracht hat". Auch Bankfilialen mit "einfallsloser Allerweltsmoderne" störten vielerorts das Stadtbild - umso stärker, je kleiner die Kommune.
Was macht einen Bau zur Architektursünde? Meist werde keine Rücksicht auf die Umgebung eines Neubaus genommen, meinen die beiden Autoren. Grundriss, Gliederung und Baustoffe müssten sich aber an den Nachbargebäuden orientieren: "Nicht einzelnes allein zu sehen, sondern Relationen zu geben, dies ist das erste Bemühen des (historischen) Stadtbaus." Weil Bauherren und Architekten diese Regel zu oft missachteten, müsse die Baupolitik strengere Vorgaben machen.
Ein Umdenken verlangen Mäckler und Schuchmann auch bei der Verkehrsplanung, bisher ein "Zerstörungsfaktor erster Güte". Hessens Stadtbilder dürften nicht länger "auf dem Altar des Individualverkehrs geopfert werden".
Die beiden Autoren belassen es nicht bei der Kritik, sondern fragen auch: "Was machen wir mit all den missgestalteten Plätzen, Straßen und Quartieren, an und in denen wir zu leben gezwungen sind?" Auf keinen Fall dürften die Innenstädte zu Freilichtmuseen mit rekonstruiertem Fachwerk werden, so Mäckler und Schuchmann. Ein falsches Alter der Gebäude vorzutäuschen sei "Kulissenschieberei".
Stattdessen plädieren sie für moderne Häuser, die aber die Eigenarten ihrer Umgebung aufgreifen. Aber die Vorschläge dürften nur selten günstig zu verwirklichen sein. Es wird wohl noch lange dauern, bis Hessen Städte so hell glänzen, wie es die Landeshymne verspricht.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
An 25 Beispielen verdeutlicht ein neues Buch die zweite Zerstörung hessischer Städte durch Architekten und Bauherren nach dem Krieg.
MARBURG (lhe). Die Landeshymne lobt Hessens Architektur in den höchsten Tönen: Zwischen Werra und Lahn "glänzen die Städte" und "sind herrlich im Lichte zu schauen", heißt es im Hessenlied. Der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler und der Journalist Manfred Schuchmann sehen das ganz anders. Die beiden haben 25 Orte im Land besichtigt und ihre Eindrücke in einem Buch mit eindeutigem Titel gesammelt: "Architektursünden in Hessen".
Der im Marburger Jonas Verlag erschienene Band ist ein Alphabet des missglückten Städtebaus von A wie Alsfeld bis W wie Wetzlar und Wiesbaden. Der Rundgang durch Betonklötze und Asphaltwüsten soll zeigen: Nach 1945 wurden viele Innenstädte Hessens zum zweiten Mal zerstört - nicht von den Bomben der Alliierten, sondern von geschmacklosen Bauherren und Architekten.
Mit Lust an der Provokation beschreiben Mäckler und Schuchmann den Zustand der hessischen Innenstädte. Mitunter gibt es Lob für Neubauten, meistens aber vernichtende Kritik. Gleich drei abschreckende Beispiele finden die Autoren in Frankfurt: Der Vorplatz des Hauptbahnhofs wird als "Schrotthaufen" aus "altem Nachkriegselend und neuem Planungschaos" abgekanzelt. Die Hauptwache besteht für die beiden Kritiker aus "banaler Geschäfts- und Kaufhausarchitektur ohne jede Ausstrahlung". Noch härter ist das Urteil über die Konstablerwache als "städtebauliche Bankrotterklärung der Moderne". Kein Platz in Hessen sei so gestaltlos wie dieser mit seiner "riesigen Leerfläche" und "Gebäuden auf der Schwundstufe architektonischen Gestaltungsvermögens".
In Kassel stört die Autoren vor allem die breite Bundesstraße am Friedrichsplatz als Hindernis zwischen Innenstadt und Karlsaue. Das neue Großkino in der Nachbarschaft - "ein blechernes und gläsernes Monstrum" - gebe dem Ort den städtebaulichen Gnadenstoß. Nur ein Abriss des Kinos könne die Gegend noch retten, meinen Mäckler und Schuchmann. In Wiesbaden kritisieren die Autoren ideenlose Neubauten im Kurviertel, in Darmstadt den "Gigantismus" von Luisencenter und Darmstadtium. Mäckler und Schuchmann waren nicht nur in Großstädten unterwegs. Im südhessischen Dieburg mit seinen rund 15 000 Einwohnern fanden die Autoren sogar eine "Todsünde": das Neue Rathaus aus den siebziger Jahren. "Dieser Neubau drängt sich ungebührlich an die alten Baukörper heran, er berührt sie geradezu unsittlich. In seinen Formen ist er beliebig und in vielen Details außerdem unfunktional, kurzum: sehr schlechte Architektur und städtebaulich eine Katastrophe."
Die Vogelsbergstadt Alsfeld preisen die Architekturexperten zwar als "Schmuckkästlein der deutschen Fachwerkromantik", bedauern aber umso mehr, dass ein altes Scheunenviertel einem Parkdeck weichen musste - ein "Kollateralschaden der allgemeinen Mobilität".
Immer wieder sind es Rathäuser aus den siebziger und achtziger Jahren, die die beiden zur Verzweiflung treiben. Kein Bauherr der Geschichte "hätte sich solchen Schund hingestellt, wie es unser öffentliches Gemeinwesen fertiggebracht hat". Auch Bankfilialen mit "einfallsloser Allerweltsmoderne" störten vielerorts das Stadtbild - umso stärker, je kleiner die Kommune.
Was macht einen Bau zur Architektursünde? Meist werde keine Rücksicht auf die Umgebung eines Neubaus genommen, meinen die beiden Autoren. Grundriss, Gliederung und Baustoffe müssten sich aber an den Nachbargebäuden orientieren: "Nicht einzelnes allein zu sehen, sondern Relationen zu geben, dies ist das erste Bemühen des (historischen) Stadtbaus." Weil Bauherren und Architekten diese Regel zu oft missachteten, müsse die Baupolitik strengere Vorgaben machen.
Ein Umdenken verlangen Mäckler und Schuchmann auch bei der Verkehrsplanung, bisher ein "Zerstörungsfaktor erster Güte". Hessens Stadtbilder dürften nicht länger "auf dem Altar des Individualverkehrs geopfert werden".
Die beiden Autoren belassen es nicht bei der Kritik, sondern fragen auch: "Was machen wir mit all den missgestalteten Plätzen, Straßen und Quartieren, an und in denen wir zu leben gezwungen sind?" Auf keinen Fall dürften die Innenstädte zu Freilichtmuseen mit rekonstruiertem Fachwerk werden, so Mäckler und Schuchmann. Ein falsches Alter der Gebäude vorzutäuschen sei "Kulissenschieberei".
Stattdessen plädieren sie für moderne Häuser, die aber die Eigenarten ihrer Umgebung aufgreifen. Aber die Vorschläge dürften nur selten günstig zu verwirklichen sein. Es wird wohl noch lange dauern, bis Hessen Städte so hell glänzen, wie es die Landeshymne verspricht.
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