Eine Familie aus New York bricht zu einer Reise auf. Das Ziel ist Apacheria, das Land, in dem einst die Apachen zu Hause waren. Gleichzeitig sind Tausende von Kindern aus Südamerika auf dem Weg in den Norden. Meisterhaft verknüpft Archiv der verlorenen Kinder Reise und Flucht zu einem vielschichtigen Roman voller Echos und Reflektionen.Eine Mutter, ein Vater, ein Junge und ein Mädchen packen in New York ihre Sachen ins Auto und machen sich auf in die Gegend, die einst die Heimat der Apachen war. Sie fahren durch Wüsten und Berge, machen Halt an einem Diner, wenn sie Hunger haben, und übernachten, wenn es dunkel wird, in einem Motel. Das kleine Mädchen erzählt Witze und bringt alle zum Lachen, der Junge korrigiert jeden, der etwas Falsches sagt. Vater und Mutter sprechen kaum miteinander.Zur gleichen Zeit machen sich Tausende von Kindern aus Zentralamerika und Mexiko nach Norden auf, zu ihren Eltern, die schon in den USA leben. Jedes hat einen Rucksack dabei mit einem Spielzeug und sauberer Unterwäsche. Die Kinder reisen mit einem Coyote: einem Mann, der ihnen Angst macht. Sie haben einen langen Marsch vor sich, für den sie sich Essen und Trinken einteilen müssen. Sie klettern auf Züge und in offene Frachtcontainer. Nicht alle kommen bis zur Grenze.Mit literarischer Virtuosität verknüpft Valeria Luiselli Reise und Flucht zu einem vielschichtigen Roman voller Echos und Reflektionen, zu einer bewegenden und brandaktuellen Geschichte darüber, was Flucht und was Menschlichkeit bedeuten in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Eva-Christina Meier versteht, warum "Archiv der verlorenen Kinder" für den Booker Prize nominiert wurde: Die Geschichte über den Roadtrip einer Patchwork-Familie - mexikanische Radiojournalistin, ihr amerikanischer Mann und die beiden Kinder - in den Süden der USA hat sie tief berührt. Die Reporterin will in Texas über geflüchtete Kinder aus Mittelamerika recherchieren, nacheinander schildern sie und ihr Sohn, wie sie die Reise wahrnehmen, erzählt die Kritikerin. Den Jungen beeindrucken die Gedanken seiner Stiefmutter zu den Schicksalen der Flüchtlingskinder nachhaltig und so entsteht laut Meier ein feinsinniger und düsterer Roman über aktuelle drängende Fragen, den die Rezensentin nur stellenweise ein wenig überambitioniert fand.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2019Untiefen im
Aquarium
Aus der Perspektive von Kindern zu erzählen, ohne die Ängste und Utopien
der Erwachsenen auf sie zu projizieren, ist eine schwere literarische Prüfung.
Valeria Luiselli besteht sie glänzend. Ein Besuch in der Bronx
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Von Minderjährigen erzählt die mexikanische Schriftstellerin Valeria Luiselli in ihrem Roman „Das Archiv der verlorenen Kinder“, die auf der Flucht aus Lateinamerika zwischen Mexiko und den USA verloren gehen: Sie werden von Schleppern im Stich gelassen, verkauft, in der Wüste ihrem Schicksal überlassen, von Grenzpolizisten zurückgeschickt. Man könnte ohne größeres Risiko die Erzählerin des Romans, eine 33-jährige Radioreporterin, mit der Autorin identifizieren: Beide sind mexikanischer Abstammung und leben mit ihrer Tochter in New York. Lässt sich die Erfahrung unbegleiteter Jugendlicher auf der Flucht überhaupt verarbeiten, zu einem Radio-Feature etwa? Diese Frage nagt an der Erzählerin, während sie mit ihrer Familie in den Sommerurlaub Richtung Südstaaten fährt. Es liegt nahe, dass sich auch die Autorin mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Grund genug, sie in der Bronx zu besuchen.
Ein kleines Reihenhaus, aus Holz und weiß gestrichen. Anders als im gerasterten Manhattan sind die Straßen hier auf einem kleinen Hügel im Rund angelegt. Im Hintergrund ragen Wohntürme auf. Weil das Holz der Veranda knarrt, bemerkt Valeria Luiselli glücklicherweise meine Ankunft, bevor ich mir den Kopf darüber zerbreche, wo hier eine Klingel sein soll. Wir sitzen in der gemütlichen Küche, die Spülmaschine läuft, nachher bekommt sie Besuch.
Am Vortag hat Luiselli eines der begehrten, mit mehr als einer halben Million Dollar dotierten MacArthur-Stipendien bekommen. Als sie vor fünf Jahren anfing, den Roman zu schreiben, war ihre Situation prekärer. Am Einwanderungsgericht in New York arbeitete sie als ehrenamtliche Übersetzerin: „Ich wartete selbst auf meine Green Card und durfte eine Zeit lang nicht unterrichten. Das war noch während der Obama-Jahre, bevor das Thema Migration ständig auf der Tagesordnung stand, und ich war frustriert und verärgert über das, was ich sah. In dieser Stimmung wurde ich weder dem Roman gerecht noch der politischen Situation.“ Also schrieb sie „Tell Me How It Ends“, ein Essay, das sich an dem Fragenkatalog orientiert, der asylsuchenden Kindern vorgelegt wird. Erst danach fühlte sie sich frei für den Roman: „Natürlich geht es auch in dem Roman gewissermaßen um Politik, aber er hat keinen journalistischen Anspruch. Es ist eher ein Roman über die Frage, wie wir Geschichten formen und von einer zur nächsten Generation weitertragen.“
Eine Familie bricht in die Sommerferien auf. Die Radioreporterin auf dem Beifahrersitz, ihr schweigsamer Lebensgefährte am Steuer, auf der Rückbank quengeln, spielen, schlafen die Kinder, die nur „der Junge“ und „das Mädchen“ heißen. Sie sind zehn und fünf Jahre alt und ahnen, was die Eltern über ihre Köpfe hinweg beinahe schon entschieden haben: dass dies der letzte gemeinsame Urlaub ist und die Patchworkfamilie sich danach auflösen wird. Die Reise der Familie hat kein klares Ziel, und auch die Gedanken der Erzählerin kommen zu keinem Abschluss. Der Großteil des Romans findet – wie ein Kammerspiel auf Rädern – im Auto statt, an Raststätten, in billigen Motels. Es wirkt, als wolle Valeria Luiselli die Untiefen menschlicher Schicksale ausloten, indem sie ein Aquarium als Modell aufstellt und mit einem Lineal von außen den Wasserstand abliest.
Mitten im Roman wechselt die Perspektive. Dann ist es nicht mehr die Radioreporterin, die erzählt, sondern der Sohn, der mit ihrem Aufnahmegerät seine Eindrücke des Roadtrips festhält. Er stellt sich vor, wie seine jüngere Schwester die Aufnahme anhört, wenn sie älter ist, und sich so an diese letzte gemeinsame Reise erinnert. Als sie eines Tages beschließen, wegzulaufen, um die Aufmerksamkeit der mit sich selbst beschäftigten Eltern auf sich zu lenken, beginnt ihre eigene, fantasievolle Expedition. Der Titel des Romans bekommt dadurch eine doppelte Bedeutung. Denn er beschreibt zum einen das Archiv, das die Radioreporterin über die verschwundenen Kinder anlegt. Und verweist zum anderen auf das Archiv, das die weggelaufenen Kinder selbst erstellen, das ihnen gehört.
Was geschieht, wenn Kinder auf sich allein gestellt sind? Die Welt ohne Erwachsene wird in der Jugendliteratur oft als Utopie dargestellt, in Luisellis Roman erscheint sie eher als bedrohliche Szenerie. „In Kinderbüchern geht es meiner Meinung nach weniger um Kinder als um Erwachsene, die versuchen, mit einer Sache ins Reine zu kommen“, sagt sie, „mit Angst und Einsamkeit zum Beispiel. Oder die wissen wollen, wie eigentlich die Gesellschaft funktioniert.“ Vielleicht besitzen Kinder und Jugendliche gerade dadurch eine besondere Kraft, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. 2018 demonstrierte die damals 19-jährige Emma González nach einem Amoklauf an ihrer Schule für eine Änderung des US-amerikanischen Waffengesetzes. Mit gerade einmal 16 Jahren ist Greta Thunberg in diesem Jahr mit ihrem Klimastreik zur Ikone einer globalen Protestbewegung geworden.
„Es gibt ein Wunderkind-Narrativ“, sagt Luiselli, „durch das Kindern von den Medien eine Art Freifahrtschein erteilt wird. Bei Greta Thunberg ist interessant, dass sie nicht sagt: Ich bin ein kleines Mädchen, gebt mir meine Kindheit zurück. Stattdessen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf eine ganze Generation und besteht darauf, dass man nicht ihr, sondern den Experten, den Wissenschaftlern zuhören soll.“ Doch das Problem, so Luiselli, sei, dass der Protest von Kindern meist nicht zur Folge hat, Jugendlichen mehr politische Eigenständigkeit zuzuschreiben. „Auch die asylsuchenden Kinder, mit denen ich am Gericht zu tun hatte, vertreten bestimmte politische und religiöse Standpunkte. Oft sind das die Gründe, weshalb sie ihre Heimat verlassen mussten. Kinder sind unter diesen Umständen politische Flüchtlinge, aber sie werden nie als solche wahrgenommen.“
Immerhin: In Deutschland wurden im Zuge der Klimaproteste auch Forderungen laut, das Wahlalter abzusenken. Da kann Luiselli nur lachen: „Das wird in den USA so schnell nicht passieren. Hier kann ein 16-Jähriger zum Militär eingezogen werden, aber wählen kann er erst ab 18. Und darauf anstoßen darf er dann mit 21.“
Valeria Luiselli machte als Autorin zuerst mit Essays und kurzen autobiografischen Reisebeschreibungen von sich reden. Als 27-Jährige veröffentlichte sie 2010 ihren ersten Essayband „Falsche Papiere“, der vier Jahre später auf Deutsch erschien. Darin fasst sie ihre Beobachtungen in kurze Absätze, so als wolle sie alle Dinge nur knapp umreißen, um sich gleich etwas anderem zu widmen. Auch ihr Roman besteht aus schlaglichtartigen Szenen.
Wie die meisten ihrer Bücher hat sie ihren neuen Roman auf Spanisch verfasst, obwohl sie lange unentschlossen war: „Ich bin vor allem mit englischen Büchern aufgewachsen. Als ich eingeschult wurde, lebten meine Eltern in Korea, sie arbeiteten erst für eine Nichtregierungsorganisation, dann im diplomatischen Dienst. Wir gingen anschließend nach Südafrika, und später war ich in Indien auf einem Internat. Erst dann habe ich vier Jahre auf Spanisch Philosophie in Mexiko studiert und schließlich in New York promoviert.“ Dass für Luiselli das Lesen, und eine Art weltbürgerlicher Bildung, von großer Bedeutung ist, merkt man dem Roman an. Jedem Kapitel ist eine Liste mit Klassikern und geisteswissenschaftlichen Studien vorangestellt – ein literarisches Archiv, das in den Roman eingeflossen ist. „Ich war vor das Problem gestellt, wie ich über die Grausamkeiten schreiben soll, die flüchtende Kinder erleiden. Ich wollte mich auf keinen Fall der Sprache der Medien bedienen. Deshalb habe ich die Geschichte aus literarischen Episoden zusammengesetzt, der ganze Roman ist von einem Stimmengewirr erfüllt wie das Familienauto.“ Neben den plappernden Kindern läuft das Autoradio mit Schreckensnachrichten, dazu Hörbücher vom iPhone und das Gespräch der Eltern über ihre Tonaufnahmen.
Schlägt die Fiktion hier auf die Wirklichkeit durch? Zurzeit arbeitet Valeria Luiselli an einem neuen Projekt, bei dem sie mit Tonaufnahmen dem Schicksal von Frauen im mexikanischen Grenzland nachspüren will. Tatsächlich sei es erste Mal, dass sie an einem Soundprojekt arbeite: „Als ich den Roman geschrieben habe, hatte ich keine Ahnung davon! Ich habe das Gefühl, jedes meiner Projekte trägt mich zum nächsten.“ Dass der Roman oft autobiografisch gelesen werden würde, habe auch ihre 10-jährige Tochter begriffen. „Sie weiß natürlich, dass viele Begebenheiten aus dem Roman so nie geschehen sind – sie und ihr Bruder sind niemals von zu Hause weggelaufen. Aber einmal aßen wir mit meinen niederländischen Übersetzerinnen zu Mittag und meine Tochter erzählte unvermittelt einen Witz, den das Mädchen im Roman erzählt. Ich dachte: Jetzt kopiert mich schon meine Tochter! Es ist witzig, dass der Roman in dem Moment seine eigenes Thema in die Wirklichkeit eingespeist hat: Wie verquicken sich Gedächtnis und Fiktion? Wozu erzählen wir einander Geschichten?“
Luiselli sagt, sie schreibe nicht über ihr Leben, ihren Alltag, auch in ihren Essays nicht. Ihr Schreiben sei vielmehr eine Anreicherung von Alltagspartikeln. Dieses Bild ist ihr lieber als der Begriff Inspiration: „Ich höre im Bus einen Jungen seine Mutter fragen: Wer war der erste Mensch, der eine Kuh gemolken hat? Und diesen Satz lege ich dann dem Jungen im Roman in den Mund. So gesehen dokumentiere ich eher, als dass ich mir etwas ausdenke. Aber machen das nicht alle Schriftsteller so?“
Ganz am Ende des Romans, als man schon denkt, der Text drehe sich um eine Leerstelle, treffen der Junge und seine Schwester in der Wüste doch noch auf die verlorenen Kinder. Es lässt sich kaum entscheiden, ob diese Begegnung nicht einfach der Fantasie des Sohnes entspringt. „Aber es geht nicht darum, ob er die Wahrheit erzählt“, sagt Luiselli. „Entscheidend ist, dass Geschichten das Fundament unserer gemeinsamen Welt bilden.“ Die Autolautsprecher, heißt es an einer Stelle im Archiv der verlorenen Kinder, knistern ein bisschen, „wie ein Kamin, um den wir uns versammeln“.
Valeria Luiselli: Das Archiv der verlorenen Kinder. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 432 Seiten, 25 Euro.
Ich dokumentiere
eher, als dass ich mir
etwas ausdenke.
Aber machen das nicht alle
Schriftsteller so?“
Ihr neues Soundprojekt folgt
dem Schicksal von Frauen
im mexikanischen Grenzland
Valeria Luiselli lebt in
New York City, ihr Leben und ihre Bildung sind kosmopolitisch.
Foto: Basso CANNARSA/Opale via Leemage/ddp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Aquarium
Aus der Perspektive von Kindern zu erzählen, ohne die Ängste und Utopien
der Erwachsenen auf sie zu projizieren, ist eine schwere literarische Prüfung.
Valeria Luiselli besteht sie glänzend. Ein Besuch in der Bronx
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Von Minderjährigen erzählt die mexikanische Schriftstellerin Valeria Luiselli in ihrem Roman „Das Archiv der verlorenen Kinder“, die auf der Flucht aus Lateinamerika zwischen Mexiko und den USA verloren gehen: Sie werden von Schleppern im Stich gelassen, verkauft, in der Wüste ihrem Schicksal überlassen, von Grenzpolizisten zurückgeschickt. Man könnte ohne größeres Risiko die Erzählerin des Romans, eine 33-jährige Radioreporterin, mit der Autorin identifizieren: Beide sind mexikanischer Abstammung und leben mit ihrer Tochter in New York. Lässt sich die Erfahrung unbegleiteter Jugendlicher auf der Flucht überhaupt verarbeiten, zu einem Radio-Feature etwa? Diese Frage nagt an der Erzählerin, während sie mit ihrer Familie in den Sommerurlaub Richtung Südstaaten fährt. Es liegt nahe, dass sich auch die Autorin mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Grund genug, sie in der Bronx zu besuchen.
Ein kleines Reihenhaus, aus Holz und weiß gestrichen. Anders als im gerasterten Manhattan sind die Straßen hier auf einem kleinen Hügel im Rund angelegt. Im Hintergrund ragen Wohntürme auf. Weil das Holz der Veranda knarrt, bemerkt Valeria Luiselli glücklicherweise meine Ankunft, bevor ich mir den Kopf darüber zerbreche, wo hier eine Klingel sein soll. Wir sitzen in der gemütlichen Küche, die Spülmaschine läuft, nachher bekommt sie Besuch.
Am Vortag hat Luiselli eines der begehrten, mit mehr als einer halben Million Dollar dotierten MacArthur-Stipendien bekommen. Als sie vor fünf Jahren anfing, den Roman zu schreiben, war ihre Situation prekärer. Am Einwanderungsgericht in New York arbeitete sie als ehrenamtliche Übersetzerin: „Ich wartete selbst auf meine Green Card und durfte eine Zeit lang nicht unterrichten. Das war noch während der Obama-Jahre, bevor das Thema Migration ständig auf der Tagesordnung stand, und ich war frustriert und verärgert über das, was ich sah. In dieser Stimmung wurde ich weder dem Roman gerecht noch der politischen Situation.“ Also schrieb sie „Tell Me How It Ends“, ein Essay, das sich an dem Fragenkatalog orientiert, der asylsuchenden Kindern vorgelegt wird. Erst danach fühlte sie sich frei für den Roman: „Natürlich geht es auch in dem Roman gewissermaßen um Politik, aber er hat keinen journalistischen Anspruch. Es ist eher ein Roman über die Frage, wie wir Geschichten formen und von einer zur nächsten Generation weitertragen.“
Eine Familie bricht in die Sommerferien auf. Die Radioreporterin auf dem Beifahrersitz, ihr schweigsamer Lebensgefährte am Steuer, auf der Rückbank quengeln, spielen, schlafen die Kinder, die nur „der Junge“ und „das Mädchen“ heißen. Sie sind zehn und fünf Jahre alt und ahnen, was die Eltern über ihre Köpfe hinweg beinahe schon entschieden haben: dass dies der letzte gemeinsame Urlaub ist und die Patchworkfamilie sich danach auflösen wird. Die Reise der Familie hat kein klares Ziel, und auch die Gedanken der Erzählerin kommen zu keinem Abschluss. Der Großteil des Romans findet – wie ein Kammerspiel auf Rädern – im Auto statt, an Raststätten, in billigen Motels. Es wirkt, als wolle Valeria Luiselli die Untiefen menschlicher Schicksale ausloten, indem sie ein Aquarium als Modell aufstellt und mit einem Lineal von außen den Wasserstand abliest.
Mitten im Roman wechselt die Perspektive. Dann ist es nicht mehr die Radioreporterin, die erzählt, sondern der Sohn, der mit ihrem Aufnahmegerät seine Eindrücke des Roadtrips festhält. Er stellt sich vor, wie seine jüngere Schwester die Aufnahme anhört, wenn sie älter ist, und sich so an diese letzte gemeinsame Reise erinnert. Als sie eines Tages beschließen, wegzulaufen, um die Aufmerksamkeit der mit sich selbst beschäftigten Eltern auf sich zu lenken, beginnt ihre eigene, fantasievolle Expedition. Der Titel des Romans bekommt dadurch eine doppelte Bedeutung. Denn er beschreibt zum einen das Archiv, das die Radioreporterin über die verschwundenen Kinder anlegt. Und verweist zum anderen auf das Archiv, das die weggelaufenen Kinder selbst erstellen, das ihnen gehört.
Was geschieht, wenn Kinder auf sich allein gestellt sind? Die Welt ohne Erwachsene wird in der Jugendliteratur oft als Utopie dargestellt, in Luisellis Roman erscheint sie eher als bedrohliche Szenerie. „In Kinderbüchern geht es meiner Meinung nach weniger um Kinder als um Erwachsene, die versuchen, mit einer Sache ins Reine zu kommen“, sagt sie, „mit Angst und Einsamkeit zum Beispiel. Oder die wissen wollen, wie eigentlich die Gesellschaft funktioniert.“ Vielleicht besitzen Kinder und Jugendliche gerade dadurch eine besondere Kraft, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. 2018 demonstrierte die damals 19-jährige Emma González nach einem Amoklauf an ihrer Schule für eine Änderung des US-amerikanischen Waffengesetzes. Mit gerade einmal 16 Jahren ist Greta Thunberg in diesem Jahr mit ihrem Klimastreik zur Ikone einer globalen Protestbewegung geworden.
„Es gibt ein Wunderkind-Narrativ“, sagt Luiselli, „durch das Kindern von den Medien eine Art Freifahrtschein erteilt wird. Bei Greta Thunberg ist interessant, dass sie nicht sagt: Ich bin ein kleines Mädchen, gebt mir meine Kindheit zurück. Stattdessen lenkt sie die Aufmerksamkeit auf eine ganze Generation und besteht darauf, dass man nicht ihr, sondern den Experten, den Wissenschaftlern zuhören soll.“ Doch das Problem, so Luiselli, sei, dass der Protest von Kindern meist nicht zur Folge hat, Jugendlichen mehr politische Eigenständigkeit zuzuschreiben. „Auch die asylsuchenden Kinder, mit denen ich am Gericht zu tun hatte, vertreten bestimmte politische und religiöse Standpunkte. Oft sind das die Gründe, weshalb sie ihre Heimat verlassen mussten. Kinder sind unter diesen Umständen politische Flüchtlinge, aber sie werden nie als solche wahrgenommen.“
Immerhin: In Deutschland wurden im Zuge der Klimaproteste auch Forderungen laut, das Wahlalter abzusenken. Da kann Luiselli nur lachen: „Das wird in den USA so schnell nicht passieren. Hier kann ein 16-Jähriger zum Militär eingezogen werden, aber wählen kann er erst ab 18. Und darauf anstoßen darf er dann mit 21.“
Valeria Luiselli machte als Autorin zuerst mit Essays und kurzen autobiografischen Reisebeschreibungen von sich reden. Als 27-Jährige veröffentlichte sie 2010 ihren ersten Essayband „Falsche Papiere“, der vier Jahre später auf Deutsch erschien. Darin fasst sie ihre Beobachtungen in kurze Absätze, so als wolle sie alle Dinge nur knapp umreißen, um sich gleich etwas anderem zu widmen. Auch ihr Roman besteht aus schlaglichtartigen Szenen.
Wie die meisten ihrer Bücher hat sie ihren neuen Roman auf Spanisch verfasst, obwohl sie lange unentschlossen war: „Ich bin vor allem mit englischen Büchern aufgewachsen. Als ich eingeschult wurde, lebten meine Eltern in Korea, sie arbeiteten erst für eine Nichtregierungsorganisation, dann im diplomatischen Dienst. Wir gingen anschließend nach Südafrika, und später war ich in Indien auf einem Internat. Erst dann habe ich vier Jahre auf Spanisch Philosophie in Mexiko studiert und schließlich in New York promoviert.“ Dass für Luiselli das Lesen, und eine Art weltbürgerlicher Bildung, von großer Bedeutung ist, merkt man dem Roman an. Jedem Kapitel ist eine Liste mit Klassikern und geisteswissenschaftlichen Studien vorangestellt – ein literarisches Archiv, das in den Roman eingeflossen ist. „Ich war vor das Problem gestellt, wie ich über die Grausamkeiten schreiben soll, die flüchtende Kinder erleiden. Ich wollte mich auf keinen Fall der Sprache der Medien bedienen. Deshalb habe ich die Geschichte aus literarischen Episoden zusammengesetzt, der ganze Roman ist von einem Stimmengewirr erfüllt wie das Familienauto.“ Neben den plappernden Kindern läuft das Autoradio mit Schreckensnachrichten, dazu Hörbücher vom iPhone und das Gespräch der Eltern über ihre Tonaufnahmen.
Schlägt die Fiktion hier auf die Wirklichkeit durch? Zurzeit arbeitet Valeria Luiselli an einem neuen Projekt, bei dem sie mit Tonaufnahmen dem Schicksal von Frauen im mexikanischen Grenzland nachspüren will. Tatsächlich sei es erste Mal, dass sie an einem Soundprojekt arbeite: „Als ich den Roman geschrieben habe, hatte ich keine Ahnung davon! Ich habe das Gefühl, jedes meiner Projekte trägt mich zum nächsten.“ Dass der Roman oft autobiografisch gelesen werden würde, habe auch ihre 10-jährige Tochter begriffen. „Sie weiß natürlich, dass viele Begebenheiten aus dem Roman so nie geschehen sind – sie und ihr Bruder sind niemals von zu Hause weggelaufen. Aber einmal aßen wir mit meinen niederländischen Übersetzerinnen zu Mittag und meine Tochter erzählte unvermittelt einen Witz, den das Mädchen im Roman erzählt. Ich dachte: Jetzt kopiert mich schon meine Tochter! Es ist witzig, dass der Roman in dem Moment seine eigenes Thema in die Wirklichkeit eingespeist hat: Wie verquicken sich Gedächtnis und Fiktion? Wozu erzählen wir einander Geschichten?“
Luiselli sagt, sie schreibe nicht über ihr Leben, ihren Alltag, auch in ihren Essays nicht. Ihr Schreiben sei vielmehr eine Anreicherung von Alltagspartikeln. Dieses Bild ist ihr lieber als der Begriff Inspiration: „Ich höre im Bus einen Jungen seine Mutter fragen: Wer war der erste Mensch, der eine Kuh gemolken hat? Und diesen Satz lege ich dann dem Jungen im Roman in den Mund. So gesehen dokumentiere ich eher, als dass ich mir etwas ausdenke. Aber machen das nicht alle Schriftsteller so?“
Ganz am Ende des Romans, als man schon denkt, der Text drehe sich um eine Leerstelle, treffen der Junge und seine Schwester in der Wüste doch noch auf die verlorenen Kinder. Es lässt sich kaum entscheiden, ob diese Begegnung nicht einfach der Fantasie des Sohnes entspringt. „Aber es geht nicht darum, ob er die Wahrheit erzählt“, sagt Luiselli. „Entscheidend ist, dass Geschichten das Fundament unserer gemeinsamen Welt bilden.“ Die Autolautsprecher, heißt es an einer Stelle im Archiv der verlorenen Kinder, knistern ein bisschen, „wie ein Kamin, um den wir uns versammeln“.
Valeria Luiselli: Das Archiv der verlorenen Kinder. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 432 Seiten, 25 Euro.
Ich dokumentiere
eher, als dass ich mir
etwas ausdenke.
Aber machen das nicht alle
Schriftsteller so?“
Ihr neues Soundprojekt folgt
dem Schicksal von Frauen
im mexikanischen Grenzland
Valeria Luiselli lebt in
New York City, ihr Leben und ihre Bildung sind kosmopolitisch.
Foto: Basso CANNARSA/Opale via Leemage/ddp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2020Wie soll in diesem leeren Land kein Platz sein?
Valeria Luiselli begibt sich in "Archiv der verlorenen Kinder" ins Grenzgebiet zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko
Kinder hinter Gittern, in Wärmedecken auf dem Boden kauernd, in militärisch streng geordneten Reihen auf einem Hof. Niemand kann heute über die Flüchtlingskinder sprechen, die allein, ohne ihre Eltern, entlang der Südgrenze der Vereinigten Staaten in Auffanglagern untergebracht sind, ohne an diese Bilder zu denken. Über die offenbar menschenunwürdigen Zustände in diesen Lagern wird zu recht heftig diskutiert. Zugleich legt eine längst etablierte Medienwelt routiniert unsere Mitleidserregungen fest: eilig gedrehte Filmschnipsel, unscharfe Schnappschüsse lassen die Erregungswelle hochschlagen, worauf die vorhersehbare Abkühlung und schließlich das selbstberuhigende Vergessen folgen.
Wer diskutiert heute noch die katastrophale Situation im Jahr 2015? Als in Ländern wie Guatemala und El Salvador die Bandenkriminalität über ihr eh schon unerträgliches Maß hinaus eskalierte. In den Vereinigten Staaten regierte Präsident Obama. Und die Öffentlichkeit debattierte erhitzt über Tausende Kinder, die von Schleppern geführt entweder in der Wüste verdursteten oder interniert wurden, um sie im Normalfall - nicht etwa im Ausnahmefall - in ihre Herkunftsländer abzuschieben.
Wer sich fünf Jahre später noch zuständig für das Schicksal der Flüchtlingskinder fühlt, kann nicht mehr einfach nur auf einen Auslöser drücken und auf den Schockeffekt menschlicher Schaulust setzen, sondern muss anfangen zu erzählen. Wie aber soll eine Erzählung vom Leiden aussehen? Was wäre auf diese Weise sichtbar zu machen, das von den anderen Darstellungsformen nicht ins Bild gerückt werden kann? Soll man überhaupt über diese Ereignisse schreiben? Macht man das tatsächliche Leid der Kinder dadurch nicht nur noch einmal zum Spektakel, damit die privilegierten Zuschauer sich mit einem gut dosierten Gänsehautmoment in ihre Lesekissen kuscheln können? Also besser schweigen? Anders gefragt: Hat die Literatur dort, wo das Leiden der Welt gegenwärtig zu Hause ist, nichts zu suchen?
Valeria Luiselli, in Mexiko geboren, als Tochter eines Diplomaten unter anderem in Südkorea aufgewachsen, hat sich dieser Fragen in zweifacher Weise angenommen. Zuerst in ihrem fulminanten Essay "Tell Me How It Ends", der 2017 in den Vereinigten Staaten erschienen ist, bislang aber nicht auf Deutsch veröffentlicht wurde. Und in ihrem Roman "Das Archiv der verlorenen Kinder". Die beiden Bücher sind die ersten, die Luiselli auf Englisch publiziert hat. In jener Sprache, die sie von ihrem fünften Lebensjahr an erlernt hat. Auch ihre Zuwendung zur Sprache des potentiellen Ankunftslandes, in dem 60 Millionen spanischsprachige Einwohner leben, schließt im Zuge der Einwanderungsfrage eine klare Positionierung ein.
Luisellis Roman besticht durch seine kluge Lösung dafür, wie man angemessen vom Leiden anderer erzählen kann. Er besteht aus einer Komposition verschiedenster Materialien und Erzählschichten und lässt die Geschichte in einer Stimmenvielfalt aufgehen. Abwechselnd kommt dieser oder jener Strang an der Textoberfläche zum Tragen. Und das Zusammenspiel erzeugt eine atemberaubend dichte Erzählung.
Das "Archiv der verlorenen Kinder" erzählt zuerst von einem Roadtrip. Die Erzählerin macht sich gemeinsam mit ihrem Mann, dessen zehnjährigem Sohn und ihrer eigenen fünfjährigen Tochter von New York City aus auf eine Reise in den Südosten Arizonas: Chiricahua-, Indianer-Land. Die Mutter will auf dem Weg dorthin über die beiden Töchter einer New Yorker Bekannten recherchieren. Deren Schicksal: von einem Schlepper an die Grenze gebracht, im Auffanglager gestrandet und jetzt von dort in die Wüste geflohen. Auch wenn sie die Kinder selbst nicht finden mag, so will die Erzählerin zumindest eine Tondokumentation über das Schicksal dieser verlorenen Kinder erstellen. Ihr Mann hingegen hat ein Arbeitsprojekt über die Indianerstämme der Apacheria im Sinn. Akribisch hat er sich in die Kultur der Chiricahua und ihres letzten Häuptlings Geronimo eingearbeitet. Vier Archivschachteln, gefüllt mit seinen Materialien, nimmt er mit. Eine solche Box hat auch die Erzählerin sich angelegt, voller Zeitungsartikel, Bücher, Karten, Notizen und Exzerpte. Die beiden Kinder fordern ebenfalls jeweils eine Box ein; anfangs sind sie leer. Im Laufe der Zeit füllen sie sich mit Fundstücken.
Der Sohn zum Beispiel lernt auf der Reise, mit seiner Polaroid-Kamera umzugehen. Mit diesen Bildern füllt sich seine Box. Aus seinem Fundus steuert er zwei lange Passagen des Romans bei. Denn Luiselli öffnet diese Schachteln nun nacheinander und lässt ihre Materialien für sich sprechen. Gleichzeitig balanciert die Themen- und Stimmenvielfalt die Flüchtlingsdramatik geschickt aus. Auch deshalb, weil diese Reise in das dunkle Herz einer unausweichlichen Trennung führt. Das Paar hat sich auseinandergelebt. Von vornherein steht fest: Vater und Sohn werden im Süden bleiben, während Mutter und Tochter nach New York zurückreisen. Die Kinder wissen noch nichts, ahnen aber alles.
So ungreifbar fern das Reiseziel zunächst sein mag. Die Vier im Auto sind einem sehr schnell extrem nah. Der schweigsame Vater, der sich schlagartig als passionierter Erzähler entpuppt, wenn es um die Indianer-Kultur geht. Die nicht weniger eigenwillige Mutter, die beim Gedanken an die verlorenen Kinder vor Empörung und Leidenschaft kaum zu halten ist. Der verletzlich wirkende, intellektuell wache Junge. Und das fünfjährige Mädchen, deren phantasiewirbelnde Gedankenwelten kein Weißgesicht mit einem Lasso einfangen könnte. Schon nach wenigen Seiten wartet man mit im Auto sitzend auf den Cormac-McCarthy-Satz "Wenn er im Dunkel und in der Kälte der Nacht erwachte", der auf geheimnisvolle Weise immer zuerst erklingt, wenn die Mutter ihr Smartphone an die Anlage anschließt. Man lässt auf Kinderwunsch David Bowies "Major Tom" in Dauerschleife ins Weltall entschwinden. Oder staunt über die avantgardistische Qualität jedes "Klopfklopf"-Witzes, den das Mädchen erfindet. Es muss in diesem Erzählstrom gar nicht viel passieren, und es geschieht auch nichts weiter, als dass man den Kindern und ihren Eltern zuhört, bei ihren Geschichten, Spielen, Kämpfen, Langeweile-Anfällen und vergnügten Lachepisoden.
Die Weite der amerikanischen Landschaft fügt sich perfekt zu Luisellis atmosphärischem, ruhig dahintreibendem Erzählstil, der sich zu höchster Dringlichkeit und dunklen Wolken verdichten kann. Etwa wenn es der Mutter beim Blick in die so beeindruckende Weite dieser Landschaft einfach nur absurd vorkommt, wie man flüchtenden Kindern gegenüber behaupten kann, "in diesem gigantischen leeren Land" sei "kein Platz für sie".
Dieser Familien-Roadtrip ist eine großartige Erzählung, macht allein aber noch keinen Luiselli-Roman. Dazu wird das "Archiv der verlorenen Kinder" erst, als Luisellis Erzählerin nach einiger Zeit beginnt, ein Buch von Ella Camposanto zu lesen. In sechzehn Elegien wird dort das Schicksal von zwei Mädchen auf ihrer Flucht zur Grenze erzählt. Die Mädchen haben frappierende Ähnlichkeit mit denen in New York City so sehnlich erwarteten. Ella Camposanto kann so eindringlich erzählen, als wäre sie Luiselli. Und das ist sie auch. Denn Luiselli hat sie erfunden. Mit dem Einsetzen der Elegien führen die Reiseroute der Familie und der Fluchtweg der Mädchen direkt aufeinander zu. Gekonnt spitzt der Roman die Phantasie eines möglichen Aufeinandertreffens weiter zu. Denn eines Tages fasst der Junge auf der Rückbank des Autos den Entschluss, gemeinsam mit seiner Schwester auszureißen. Was bislang Recherche war, wird plötzlich in jeder Körperfaser gespürter Ernst.
Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" ist nicht nur ein Flüchtlingsroman. Es verhandelt zugleich drängende Fragen dokumentarischer Ästhetik, eröffnet eine hochgradig spannungsreiche Kulturgeschichte des Grenzgebiets zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, spürt dem im Unglück geglückten Familienleben nach und zeigt, dass wir zu gerne aus den Augen verlieren, was die Moderne doch erst erfunden hat: die Würde des einzelnen Kindes - das beschützt, statt der Welt ausgesetzt werden soll.
CHRISTIAN METZ
Valeria Luiselli: "Archiv der verlorenen Kinder". Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Verlag Antje Kunstmann, 432 Seiten, 25 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Valeria Luiselli begibt sich in "Archiv der verlorenen Kinder" ins Grenzgebiet zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko
Kinder hinter Gittern, in Wärmedecken auf dem Boden kauernd, in militärisch streng geordneten Reihen auf einem Hof. Niemand kann heute über die Flüchtlingskinder sprechen, die allein, ohne ihre Eltern, entlang der Südgrenze der Vereinigten Staaten in Auffanglagern untergebracht sind, ohne an diese Bilder zu denken. Über die offenbar menschenunwürdigen Zustände in diesen Lagern wird zu recht heftig diskutiert. Zugleich legt eine längst etablierte Medienwelt routiniert unsere Mitleidserregungen fest: eilig gedrehte Filmschnipsel, unscharfe Schnappschüsse lassen die Erregungswelle hochschlagen, worauf die vorhersehbare Abkühlung und schließlich das selbstberuhigende Vergessen folgen.
Wer diskutiert heute noch die katastrophale Situation im Jahr 2015? Als in Ländern wie Guatemala und El Salvador die Bandenkriminalität über ihr eh schon unerträgliches Maß hinaus eskalierte. In den Vereinigten Staaten regierte Präsident Obama. Und die Öffentlichkeit debattierte erhitzt über Tausende Kinder, die von Schleppern geführt entweder in der Wüste verdursteten oder interniert wurden, um sie im Normalfall - nicht etwa im Ausnahmefall - in ihre Herkunftsländer abzuschieben.
Wer sich fünf Jahre später noch zuständig für das Schicksal der Flüchtlingskinder fühlt, kann nicht mehr einfach nur auf einen Auslöser drücken und auf den Schockeffekt menschlicher Schaulust setzen, sondern muss anfangen zu erzählen. Wie aber soll eine Erzählung vom Leiden aussehen? Was wäre auf diese Weise sichtbar zu machen, das von den anderen Darstellungsformen nicht ins Bild gerückt werden kann? Soll man überhaupt über diese Ereignisse schreiben? Macht man das tatsächliche Leid der Kinder dadurch nicht nur noch einmal zum Spektakel, damit die privilegierten Zuschauer sich mit einem gut dosierten Gänsehautmoment in ihre Lesekissen kuscheln können? Also besser schweigen? Anders gefragt: Hat die Literatur dort, wo das Leiden der Welt gegenwärtig zu Hause ist, nichts zu suchen?
Valeria Luiselli, in Mexiko geboren, als Tochter eines Diplomaten unter anderem in Südkorea aufgewachsen, hat sich dieser Fragen in zweifacher Weise angenommen. Zuerst in ihrem fulminanten Essay "Tell Me How It Ends", der 2017 in den Vereinigten Staaten erschienen ist, bislang aber nicht auf Deutsch veröffentlicht wurde. Und in ihrem Roman "Das Archiv der verlorenen Kinder". Die beiden Bücher sind die ersten, die Luiselli auf Englisch publiziert hat. In jener Sprache, die sie von ihrem fünften Lebensjahr an erlernt hat. Auch ihre Zuwendung zur Sprache des potentiellen Ankunftslandes, in dem 60 Millionen spanischsprachige Einwohner leben, schließt im Zuge der Einwanderungsfrage eine klare Positionierung ein.
Luisellis Roman besticht durch seine kluge Lösung dafür, wie man angemessen vom Leiden anderer erzählen kann. Er besteht aus einer Komposition verschiedenster Materialien und Erzählschichten und lässt die Geschichte in einer Stimmenvielfalt aufgehen. Abwechselnd kommt dieser oder jener Strang an der Textoberfläche zum Tragen. Und das Zusammenspiel erzeugt eine atemberaubend dichte Erzählung.
Das "Archiv der verlorenen Kinder" erzählt zuerst von einem Roadtrip. Die Erzählerin macht sich gemeinsam mit ihrem Mann, dessen zehnjährigem Sohn und ihrer eigenen fünfjährigen Tochter von New York City aus auf eine Reise in den Südosten Arizonas: Chiricahua-, Indianer-Land. Die Mutter will auf dem Weg dorthin über die beiden Töchter einer New Yorker Bekannten recherchieren. Deren Schicksal: von einem Schlepper an die Grenze gebracht, im Auffanglager gestrandet und jetzt von dort in die Wüste geflohen. Auch wenn sie die Kinder selbst nicht finden mag, so will die Erzählerin zumindest eine Tondokumentation über das Schicksal dieser verlorenen Kinder erstellen. Ihr Mann hingegen hat ein Arbeitsprojekt über die Indianerstämme der Apacheria im Sinn. Akribisch hat er sich in die Kultur der Chiricahua und ihres letzten Häuptlings Geronimo eingearbeitet. Vier Archivschachteln, gefüllt mit seinen Materialien, nimmt er mit. Eine solche Box hat auch die Erzählerin sich angelegt, voller Zeitungsartikel, Bücher, Karten, Notizen und Exzerpte. Die beiden Kinder fordern ebenfalls jeweils eine Box ein; anfangs sind sie leer. Im Laufe der Zeit füllen sie sich mit Fundstücken.
Der Sohn zum Beispiel lernt auf der Reise, mit seiner Polaroid-Kamera umzugehen. Mit diesen Bildern füllt sich seine Box. Aus seinem Fundus steuert er zwei lange Passagen des Romans bei. Denn Luiselli öffnet diese Schachteln nun nacheinander und lässt ihre Materialien für sich sprechen. Gleichzeitig balanciert die Themen- und Stimmenvielfalt die Flüchtlingsdramatik geschickt aus. Auch deshalb, weil diese Reise in das dunkle Herz einer unausweichlichen Trennung führt. Das Paar hat sich auseinandergelebt. Von vornherein steht fest: Vater und Sohn werden im Süden bleiben, während Mutter und Tochter nach New York zurückreisen. Die Kinder wissen noch nichts, ahnen aber alles.
So ungreifbar fern das Reiseziel zunächst sein mag. Die Vier im Auto sind einem sehr schnell extrem nah. Der schweigsame Vater, der sich schlagartig als passionierter Erzähler entpuppt, wenn es um die Indianer-Kultur geht. Die nicht weniger eigenwillige Mutter, die beim Gedanken an die verlorenen Kinder vor Empörung und Leidenschaft kaum zu halten ist. Der verletzlich wirkende, intellektuell wache Junge. Und das fünfjährige Mädchen, deren phantasiewirbelnde Gedankenwelten kein Weißgesicht mit einem Lasso einfangen könnte. Schon nach wenigen Seiten wartet man mit im Auto sitzend auf den Cormac-McCarthy-Satz "Wenn er im Dunkel und in der Kälte der Nacht erwachte", der auf geheimnisvolle Weise immer zuerst erklingt, wenn die Mutter ihr Smartphone an die Anlage anschließt. Man lässt auf Kinderwunsch David Bowies "Major Tom" in Dauerschleife ins Weltall entschwinden. Oder staunt über die avantgardistische Qualität jedes "Klopfklopf"-Witzes, den das Mädchen erfindet. Es muss in diesem Erzählstrom gar nicht viel passieren, und es geschieht auch nichts weiter, als dass man den Kindern und ihren Eltern zuhört, bei ihren Geschichten, Spielen, Kämpfen, Langeweile-Anfällen und vergnügten Lachepisoden.
Die Weite der amerikanischen Landschaft fügt sich perfekt zu Luisellis atmosphärischem, ruhig dahintreibendem Erzählstil, der sich zu höchster Dringlichkeit und dunklen Wolken verdichten kann. Etwa wenn es der Mutter beim Blick in die so beeindruckende Weite dieser Landschaft einfach nur absurd vorkommt, wie man flüchtenden Kindern gegenüber behaupten kann, "in diesem gigantischen leeren Land" sei "kein Platz für sie".
Dieser Familien-Roadtrip ist eine großartige Erzählung, macht allein aber noch keinen Luiselli-Roman. Dazu wird das "Archiv der verlorenen Kinder" erst, als Luisellis Erzählerin nach einiger Zeit beginnt, ein Buch von Ella Camposanto zu lesen. In sechzehn Elegien wird dort das Schicksal von zwei Mädchen auf ihrer Flucht zur Grenze erzählt. Die Mädchen haben frappierende Ähnlichkeit mit denen in New York City so sehnlich erwarteten. Ella Camposanto kann so eindringlich erzählen, als wäre sie Luiselli. Und das ist sie auch. Denn Luiselli hat sie erfunden. Mit dem Einsetzen der Elegien führen die Reiseroute der Familie und der Fluchtweg der Mädchen direkt aufeinander zu. Gekonnt spitzt der Roman die Phantasie eines möglichen Aufeinandertreffens weiter zu. Denn eines Tages fasst der Junge auf der Rückbank des Autos den Entschluss, gemeinsam mit seiner Schwester auszureißen. Was bislang Recherche war, wird plötzlich in jeder Körperfaser gespürter Ernst.
Luisellis "Archiv der verlorenen Kinder" ist nicht nur ein Flüchtlingsroman. Es verhandelt zugleich drängende Fragen dokumentarischer Ästhetik, eröffnet eine hochgradig spannungsreiche Kulturgeschichte des Grenzgebiets zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko, spürt dem im Unglück geglückten Familienleben nach und zeigt, dass wir zu gerne aus den Augen verlieren, was die Moderne doch erst erfunden hat: die Würde des einzelnen Kindes - das beschützt, statt der Welt ausgesetzt werden soll.
CHRISTIAN METZ
Valeria Luiselli: "Archiv der verlorenen Kinder". Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Verlag Antje Kunstmann, 432 Seiten, 25 Euro
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