Frankfurter Allgemeine ZeitungAlles über meine Mutter
Die größten privaten Probleme sind für dieses Buch gerade gut genug: Die amerikanische Comiczeichnerin Alison Bechdel setzt ihre großartige psychographische Familienerkundung fort.
Als Autorin stellt Alison Bechdel im ersten Kapitel ihres zweiten gezeichneten Erinnerungsbuches ihre Mutter vor. Ihr ganzes Leben lang hat die Mutter Tagebuch geschrieben - eine Übung, die die Tochter ihr abgeschaut hat. Die Nachahmung geht so weit, dass Alison Bechdel nicht nur das eigene Leben protokolliert, sondern auch ein paralleles Korpus täglicher Nachrichten aus der mütterlichen Welt angelegt hat. Wir sehen sie mit Kopfhörer vor dem Computer sitzen und mitschreiben, was die Mutter im täglichen Telefonat über Lektüreerlebnisse und Gespräche erzählt. Heimlich stellt die Tochter gleichsam eine Sicherheitskopie des mütterlichen Tagebuchs her, als müsste sie einen plötzlichen Verlust des handschriftlichen Originals fürchten, das am anderen Ende der Leitung Bände füllt.
Das abendliche Ritual des diskreten Diktats ist die Umkehrung eines Arrangements aus der Kindheit. Von den Eltern animiert, Tagebuch zu führen, schrieb Alison manchmal so viel, dass sie nicht fertig wurde, auch wenn sie jedes Eckchen Weißraum auf dem Blatt des Kalendertags verbrauchte. Dann nahm ihr die Mutter den Füller aus der Hand und übernahm für ein paar Wochen die Federführung - nur im wörtlichen Sinne. Sie schrieb alles auf, was Alison ihr sagte, in der ersten Person. Die Beziehung von Mutter und Tochter stellt sich als Mechanismus der Identifikation dar, den wir nicht voreilig mit dem schwärmerischen Etikett der Symbiose versehen sollten. Zurückhaltung und Distanz sind Voraussetzungen der wechselseitigen Rollenübernahme.
In der Form der Erzählung in (beschrifteten) Bildern, für die sich der Begriff der Graphic Novel eingebürgert hat, entfaltet das einzelne Bild eine Verweiskraft, die der Beschreibung desselben Sachverhalts in Worten abgeht. Eine zeichnende Schriftstellerin wie Alison Bechdel arbeitet ganz wörtlich mit Motiven. Die Tochter, die die Finger über die Tastatur eilen lässt, nimmt die Haltung der Sekretärin ein, als die die Mutter, wie wir später erfahren, vor der Geburt der drei Kinder in New York arbeitete, während der Vater seine Universitätsstudien fortsetzte. Analog dazu nimmt die Mutter, die mit Notizbuch und Schreibgerät auf der Bettkante der Tochter sitzt, die Figur der Psychoanalytikerin vorweg, der die erwachsene Alison ihr Leben erzählt - und in der sie eine Ersatzmutter entdeckt. Die Wiederkehr von Bildmustern illustriert das Konzept der Übertragung. Das Buch ist auch eine Einführung in die Psychoanalyse und steht in einer Tradition didaktischer Comics, die älter ist als das Schlagwort des graphischen Romans.
Mit dem Bemühen um anschauliche Erklärungen begrifflicher Zusammenhänge setzt Alison Bechdel zugleich eine Familientradition fort: Beide Eltern waren Englischlehrer. Im Tagesablauf der Mutter gibt es eine komplementäre Verrichtung zum abendlichen Tagebuchschreiben: die morgendliche Lektüre der "New York Times". Für die Tageszeitung und das Tagebuch steht im Englischen dasselbe Wort: "journal". Beim Doppelsinn von Wörtern setzt die psychoanalytische Hermeneutik an - auch in den Deutungen der sieben Traumsequenzen, die am Anfang der sieben Kapitel von "Wer ist hier die Mutter?" stehen. Ganz richtig schreiben Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler, die Übersetzer der deutschen Ausgabe, dass die "New York Times" für die ältere Mrs. Bechdel "noch so ein Tagebuch" war. Das Zeitungsabonnement ist der Ausweis einer methodischen Einstellung zur Welt.
Nach wie vor prangt auf jeder Titelseite der "New York Times" das stolze Motto des journalistischen Objektivismus: "All the News That's Fit to Print". Bei wiederholtem Lesen fällt die Ambivalenz des Versprechens ins Auge: Die Vollständigkeit der Berichterstattung setzt eine Auswahl voraus, die erfahrungsgemäß unter Gesichtspunkten der Schicklichkeit getroffen wird. Nicht alle Nachrichten sind für den Druck geeignet. Alison Bechdels zweites Memoirenbuch setzt ein mit dem Versuch ihrer Mutter, ihr die Publikation des ersten auszureden. "Fun Home", 2006 im Original und 2008 in deutscher Übersetzung erschienen, wurde von der amerikanischen Literaturkritik als Meisterstück gefeiert, mit dem sozusagen die gesamte Zunft der Comicromanautoren ihre Prüfung bestanden hatte: eine Geschichte, die nur in graphischer Form erzählt werden konnte, weil das Unausgesprochene ihr Sujet ist.
Das Haus der Familie Bechdel, vom Vater nach den Prinzipien der viktorianischen Kunsthandwerksreform eingerichtet, ist ein Museum der Verdrängung - wie jedes "funeral home". Die Homosexualität des Vaters, sein mutmaßlicher Selbstmord, das lesbische Coming-out der Tochter: in den Augen der Witwe von Bruce Bechdel kein Stoff, der für die Öffentlichkeit geeignet war. Alison Bechdel hatte fünfundzwanzig Jahre lang an einer Chronik des lesbischen Lebens in Form eines Zeitungsstrips geschrieben. Für ihr Experiment mit der abgeschlossenen Erzählung konnte sie sich kein anderes Thema als das Familiengeheimnis vorstellen. Auch in künftigen Werken möchte sie beim autobiographischen Genre und beim Rätsel der Familie bleiben.
Schon in "Fun Home" war das auffälligste Mittel ihres graphischen Erzählens das Abzeichnen von Gedrucktem. Als Objekte wurden die kanonischen Texte der väterlichen Bildungswelt dem Leser vor Augen gestellt. Diese konservatorische Behandlung wird nun auch der psychoanalytischen Literatur zuteil, in der Alison Bechdel nach dem Drehbuch des Mutterrollenspiels gesucht hat. Das positivistische Ethos der grauen Dame wird zum Formprinzip: Alle Aussagen müssen aus Quellen belegt werden, und auch die Quellen selbst werden als tatsächliche Dinge vorgeführt. Alison Bechdel lehnt für ihre Werke den Begriff des graphischen Romans ab, weil sie nichts erfinden will. Für die Geschichte ihrer Mutter, das Material ihres zweiten Bandes, bedeutet das eine Beschränkung: Wie Helen Bechdel den Tod ihres Mannes verarbeitet hat, kommt nicht zur Sprache, da es in den Tagebuchbänden von Mutter und Tochter dazu wohl an jeder Angabe fehlt.
Der Skandal von "Fun Home" besteht darin, dass der Vater, der die Familie zerstört hat, das geheime Vorbild der Tochter für deren Selbstfindung abgibt: Dieses Unaussprechliche bleibt unausgesprochen. Im neuen Buch erweist sich Sprachlosigkeit dagegen als vorläufig. Mit Hilfe der psychoanalytischen Autoritäten lässt sich alles definieren. In einem kunstvoll verschachtelten System von Übertragungen erhält hier auch das trivialste Faktum seine Bedeutung - genau wie im Kreuzworträtsel. Kurios, dass in der "New York Times" ein Verriss des Buches erschien! Freundlicher fällt die im letzten Kapitel zitierte Kritik der Mutter aus, deren Ordnungsdenken in Alison Bechdels Vorliebe für das rechtwinklige Raster der klassischen Comicseite durchschlägt: "Na ja, es ist stimmig."
PATRICK BAHNERS.
Alison Bechdel: "Wer ist hier die Mutter?"
Ein Comic-Drama.
Aus dem Englischen von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 293 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die größten privaten Probleme sind für dieses Buch gerade gut genug: Die amerikanische Comiczeichnerin Alison Bechdel setzt ihre großartige psychographische Familienerkundung fort.
Als Autorin stellt Alison Bechdel im ersten Kapitel ihres zweiten gezeichneten Erinnerungsbuches ihre Mutter vor. Ihr ganzes Leben lang hat die Mutter Tagebuch geschrieben - eine Übung, die die Tochter ihr abgeschaut hat. Die Nachahmung geht so weit, dass Alison Bechdel nicht nur das eigene Leben protokolliert, sondern auch ein paralleles Korpus täglicher Nachrichten aus der mütterlichen Welt angelegt hat. Wir sehen sie mit Kopfhörer vor dem Computer sitzen und mitschreiben, was die Mutter im täglichen Telefonat über Lektüreerlebnisse und Gespräche erzählt. Heimlich stellt die Tochter gleichsam eine Sicherheitskopie des mütterlichen Tagebuchs her, als müsste sie einen plötzlichen Verlust des handschriftlichen Originals fürchten, das am anderen Ende der Leitung Bände füllt.
Das abendliche Ritual des diskreten Diktats ist die Umkehrung eines Arrangements aus der Kindheit. Von den Eltern animiert, Tagebuch zu führen, schrieb Alison manchmal so viel, dass sie nicht fertig wurde, auch wenn sie jedes Eckchen Weißraum auf dem Blatt des Kalendertags verbrauchte. Dann nahm ihr die Mutter den Füller aus der Hand und übernahm für ein paar Wochen die Federführung - nur im wörtlichen Sinne. Sie schrieb alles auf, was Alison ihr sagte, in der ersten Person. Die Beziehung von Mutter und Tochter stellt sich als Mechanismus der Identifikation dar, den wir nicht voreilig mit dem schwärmerischen Etikett der Symbiose versehen sollten. Zurückhaltung und Distanz sind Voraussetzungen der wechselseitigen Rollenübernahme.
In der Form der Erzählung in (beschrifteten) Bildern, für die sich der Begriff der Graphic Novel eingebürgert hat, entfaltet das einzelne Bild eine Verweiskraft, die der Beschreibung desselben Sachverhalts in Worten abgeht. Eine zeichnende Schriftstellerin wie Alison Bechdel arbeitet ganz wörtlich mit Motiven. Die Tochter, die die Finger über die Tastatur eilen lässt, nimmt die Haltung der Sekretärin ein, als die die Mutter, wie wir später erfahren, vor der Geburt der drei Kinder in New York arbeitete, während der Vater seine Universitätsstudien fortsetzte. Analog dazu nimmt die Mutter, die mit Notizbuch und Schreibgerät auf der Bettkante der Tochter sitzt, die Figur der Psychoanalytikerin vorweg, der die erwachsene Alison ihr Leben erzählt - und in der sie eine Ersatzmutter entdeckt. Die Wiederkehr von Bildmustern illustriert das Konzept der Übertragung. Das Buch ist auch eine Einführung in die Psychoanalyse und steht in einer Tradition didaktischer Comics, die älter ist als das Schlagwort des graphischen Romans.
Mit dem Bemühen um anschauliche Erklärungen begrifflicher Zusammenhänge setzt Alison Bechdel zugleich eine Familientradition fort: Beide Eltern waren Englischlehrer. Im Tagesablauf der Mutter gibt es eine komplementäre Verrichtung zum abendlichen Tagebuchschreiben: die morgendliche Lektüre der "New York Times". Für die Tageszeitung und das Tagebuch steht im Englischen dasselbe Wort: "journal". Beim Doppelsinn von Wörtern setzt die psychoanalytische Hermeneutik an - auch in den Deutungen der sieben Traumsequenzen, die am Anfang der sieben Kapitel von "Wer ist hier die Mutter?" stehen. Ganz richtig schreiben Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler, die Übersetzer der deutschen Ausgabe, dass die "New York Times" für die ältere Mrs. Bechdel "noch so ein Tagebuch" war. Das Zeitungsabonnement ist der Ausweis einer methodischen Einstellung zur Welt.
Nach wie vor prangt auf jeder Titelseite der "New York Times" das stolze Motto des journalistischen Objektivismus: "All the News That's Fit to Print". Bei wiederholtem Lesen fällt die Ambivalenz des Versprechens ins Auge: Die Vollständigkeit der Berichterstattung setzt eine Auswahl voraus, die erfahrungsgemäß unter Gesichtspunkten der Schicklichkeit getroffen wird. Nicht alle Nachrichten sind für den Druck geeignet. Alison Bechdels zweites Memoirenbuch setzt ein mit dem Versuch ihrer Mutter, ihr die Publikation des ersten auszureden. "Fun Home", 2006 im Original und 2008 in deutscher Übersetzung erschienen, wurde von der amerikanischen Literaturkritik als Meisterstück gefeiert, mit dem sozusagen die gesamte Zunft der Comicromanautoren ihre Prüfung bestanden hatte: eine Geschichte, die nur in graphischer Form erzählt werden konnte, weil das Unausgesprochene ihr Sujet ist.
Das Haus der Familie Bechdel, vom Vater nach den Prinzipien der viktorianischen Kunsthandwerksreform eingerichtet, ist ein Museum der Verdrängung - wie jedes "funeral home". Die Homosexualität des Vaters, sein mutmaßlicher Selbstmord, das lesbische Coming-out der Tochter: in den Augen der Witwe von Bruce Bechdel kein Stoff, der für die Öffentlichkeit geeignet war. Alison Bechdel hatte fünfundzwanzig Jahre lang an einer Chronik des lesbischen Lebens in Form eines Zeitungsstrips geschrieben. Für ihr Experiment mit der abgeschlossenen Erzählung konnte sie sich kein anderes Thema als das Familiengeheimnis vorstellen. Auch in künftigen Werken möchte sie beim autobiographischen Genre und beim Rätsel der Familie bleiben.
Schon in "Fun Home" war das auffälligste Mittel ihres graphischen Erzählens das Abzeichnen von Gedrucktem. Als Objekte wurden die kanonischen Texte der väterlichen Bildungswelt dem Leser vor Augen gestellt. Diese konservatorische Behandlung wird nun auch der psychoanalytischen Literatur zuteil, in der Alison Bechdel nach dem Drehbuch des Mutterrollenspiels gesucht hat. Das positivistische Ethos der grauen Dame wird zum Formprinzip: Alle Aussagen müssen aus Quellen belegt werden, und auch die Quellen selbst werden als tatsächliche Dinge vorgeführt. Alison Bechdel lehnt für ihre Werke den Begriff des graphischen Romans ab, weil sie nichts erfinden will. Für die Geschichte ihrer Mutter, das Material ihres zweiten Bandes, bedeutet das eine Beschränkung: Wie Helen Bechdel den Tod ihres Mannes verarbeitet hat, kommt nicht zur Sprache, da es in den Tagebuchbänden von Mutter und Tochter dazu wohl an jeder Angabe fehlt.
Der Skandal von "Fun Home" besteht darin, dass der Vater, der die Familie zerstört hat, das geheime Vorbild der Tochter für deren Selbstfindung abgibt: Dieses Unaussprechliche bleibt unausgesprochen. Im neuen Buch erweist sich Sprachlosigkeit dagegen als vorläufig. Mit Hilfe der psychoanalytischen Autoritäten lässt sich alles definieren. In einem kunstvoll verschachtelten System von Übertragungen erhält hier auch das trivialste Faktum seine Bedeutung - genau wie im Kreuzworträtsel. Kurios, dass in der "New York Times" ein Verriss des Buches erschien! Freundlicher fällt die im letzten Kapitel zitierte Kritik der Mutter aus, deren Ordnungsdenken in Alison Bechdels Vorliebe für das rechtwinklige Raster der klassischen Comicseite durchschlägt: "Na ja, es ist stimmig."
PATRICK BAHNERS.
Alison Bechdel: "Wer ist hier die Mutter?"
Ein Comic-Drama.
Aus dem Englischen von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 293 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fun Home and Are You My Mother? are the kind of head-spinningly thoughtful and textured works that make you rejoice in the comic-book form. Daily Telegraph