Die Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gilt als Periode des extremen Nationalismus. Doch paradoxerweise bildeten sich zwischen 1919 und 1939 starke internationale Kooperationen aus, die für das 20. Jahrhundert maßgeblich werden sollten. Am Beispiel des Agrarmarkts, eines besonders national ausgerichteten Wirtschaftssektors, zeigt Fritz Georg von Graevenitz, dass Protektionismus als Abbild des wirtschaftlichen Nationalismus und internationale Kooperation in Form von Marktintervention in den krisenhaften 1920er- und 1930er-Jahren zwei Seiten derselben Medaille sein konnten. Im Fokus seiner Analyse stehen nicht staatliche Akteure, die bei der Ausgestaltung einer europäischen Agrarpolitik entscheidend mitwirkten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2017Zucker gegen Gewalt?
Internationalismus im Bereich der Agrarwirtschaft in der Zwischenkriegszeit
Mit Internationalismus in der Zwischenkriegszeit verbindet man sogleich eine Geschichte des Scheiterns. War doch die internationale Organisation des Völkerbunds, der von Woodrow Wilson erzwungene Versuch, den Egoismus der Nationalstaaten zu zähmen, allzu offensichtlich ein Fehlschlag. Die Idee der kollektiven Sicherheit blieb eine lediglich rhetorisch vielbemühte Formel. Die schon 1925 im Grundsatz beschlossene Abrüstungskonferenz des Völkerbunds trat erst 1932 zusammen, als der Verfall der Nachkriegsordnung schon Platz griff. Aber auch die 1927 in Genf durchgeführte Weltwirtschaftskonferenz brachte nicht die erhoffte Rückkehr zur Stabilisierung einer aus den Fugen geratenen europäischen Wirtschaft, ebenso wenig wie die 1933 vom Völkerbund organisierte Londoner Konferenz über Währungs- und Wirtschaftsfragen.
Die Neigung zu Protektionismus war stärker als die Bereitschaft zum Abbau von Handelsbarrieren. Bereits auf dem Höhepunkt der deutsch-französischen Entspannung während der Locarno-Ära hatten die Außenminister Stresemann und Briand hochgesteckte Erwartungen geäußert. Wirtschaftliche Kooperation sollte nicht nur Wachstumsimpulse auslösen, sie sollte darüber hinaus auch zur Wahrung und Sicherung des Friedens beitragen. Doch ging das liberale Modell im Strudel der schon 1927 bestehenden Agrarkrise mit ihrem weltweiten Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte und dann endgültig in den Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise unter.
Ohne die gängige Darstellung des Völkerbunds und seiner Rolle in den internationalen Beziehungen grundlegend in Frage stellen zu können, will der Autor doch zu einem "historiographischen Perspektivwechsel" beitragen. Man solle nicht in erster Linie nach Erfolg oder Misserfolg des Völkerbunds fragen, sondern nach seinem Vermächtnis und seiner Langzeitwirkung über den Krieg hinaus, den er nicht verhindern konnte. Nachdem das sicherheitspolitische Mandat des Völkerbunds seit der Expansion Japans 1931 und dem Austritt Deutschlands 1933 praktisch obsolet geworden war, "erfand sich die Genfer Institution neu" und reduzierte ihren vormals umfassenden Auftrag auf Wirtschaftsinternationalismus. Es galt nun, jenseits des Nationalstaats über die Schaffung weltwirtschaftlicher Strukturen zu reflektieren, über eine globale Ordnung, von der sich der Brite Arthur Salter als Direktor der Wirtschafts- und Finanzorganisation des Völkerbunds eine Verschmelzung von kooperativem Handel, sozialer Gerechtigkeit und transnationaler Demokratie erhoffte.
Ohne dieser maximalistischen Vision anhängen zu müssen, richteten kleinere Expertengremien in den wirtschaftspolitischen Unterabteilungen des Völkerbunds den Blick jenseits der gleichzeitig einsetzenden Kriegsvorbereitung auf internationale Kooperationsformen und Marktplanung. Der damit beschrittene "Möglichkeitsraum" wies in die Zukunft. Nachkriegsinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) und nicht zuletzt die gemeinsame europäische Agrarpolitik im Rahmen der EWG konnten an die konzeptionelle Arbeit der Genfer Denkfabrik anknüpfen.
Man muss nicht überschwänglich von der "Gestaltungsmacht des Völkerbunds" sprechen und kann doch die akribische Suche des Autors dieser am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz entstandenen Arbeit nach Ansätzen zu "internationaler Staatlichkeit" bewundern. Nicht von ungefähr konnte das "Argument Europa" im Bereich der Agrarwirtschaft Überzeugungskraft gewinnen. Es entsprang zum einen aus dem Zwang, einen Ausweg aus der Krise finden zu müssen, zum anderen aber nicht zuletzt aus Erfahrungen agrarischer Interessenverbände mit internationaler Kooperation. Die Krise rührte an Grundlagen eines Wirtschaftszweigs, der immer noch als das "soziale Fundament der Nation" galt. In dieser prekären Lage wollten sich die Agrarexperten in Genf nicht auf die Selbstheilungskräfte eines freien Markts verlassen. Ein rein nationaler Protektionismus kam auch nicht in Frage, hätte der doch dem Grundgedanken der Société des Nations widersprochen. Die Lösung schien in einem Agrarprotektionismus europäischen Zuschnitts zu liegen.
Organisatorisch konnte auf Einrichtungen zurückgegriffen werden, die schon im Zuge eines vor dem Ersten Weltkrieg blühenden Internationalismus entstanden waren. Der erste internationale Agrarkongress 1889 führte zur Gründung der Commission Internationale d'Agriculture (CIA), einer in Paris ansässigen nichtstaatlichen "agrarischen Informationsstelle". Auch Vertreter aus den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada nahmen an den regelmäßig tagenden Kongressen teil, insgesamt aber handelte es sich um Veranstaltungen der Europäer. Nach dem Krieg waren die Deutschen zunächst ausgeschlossen und seinerseits zögerte der Deutsche Landwirtschaftsrat, Paris als Hauptsitz der CIA zu akzeptieren.
Der Beitritt zur CIA wurde dadurch erleichtert, dass ihr Sekretariat im schweizerischen Brugg zu Hause war, der Heimatsstadt von Ernst Laur, einem Vordenker der "Grünen Internationale". Damit war ein rühriger privatwirtschaftlicher Verband entstanden, der die Einrichtungen des Völkerbunds nutzte, um marktinterventionistische Absprachen über Export- und Produktionsquoten insbesondere für Weizen und Zucker zu erreichen. Die Zuckerindustrie spielte 1931 mit einem internationalen Warenabkommen eine Pionierrolle. Daraus speiste sich schon bald die "diskursive Konstruktion eines Europas um die Zuckerrübe herum".
Seitenblicke wirft Fritz Georg von Graevenitz auch auf das Internationale Agrarinstitut in Rom und die Versuche faschistischer Unterwanderung des Agrarinternationalismus. Von Instrumentalisierung spricht er im Fall des nationalsozialistischen Deutschland. Dessen regimekonforme Verbände verhandelten über internationale Warenabkommen, die der Steigerung des deutschen Kriegspotentials dienten. Von der Teilnahme Deutschlands an Wirtschaftsverhandlungen sollte aber nicht auf die Bereitschaft zu "regem internationalen Austausch" geschlossen werden. Wie die Weltzucker-Konferenz 1937 zeigte, standen die Signale schon auf Krieg.
GOTTFRIED NIEDHART.
Fritz Georg von Graevenitz: Argument Europa. Internationalismus in der globalen Agrarkrise der Zwischenkriegszeit (1927-1937). Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2017. 470 S., 49,95 [Euro].
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Internationalismus im Bereich der Agrarwirtschaft in der Zwischenkriegszeit
Mit Internationalismus in der Zwischenkriegszeit verbindet man sogleich eine Geschichte des Scheiterns. War doch die internationale Organisation des Völkerbunds, der von Woodrow Wilson erzwungene Versuch, den Egoismus der Nationalstaaten zu zähmen, allzu offensichtlich ein Fehlschlag. Die Idee der kollektiven Sicherheit blieb eine lediglich rhetorisch vielbemühte Formel. Die schon 1925 im Grundsatz beschlossene Abrüstungskonferenz des Völkerbunds trat erst 1932 zusammen, als der Verfall der Nachkriegsordnung schon Platz griff. Aber auch die 1927 in Genf durchgeführte Weltwirtschaftskonferenz brachte nicht die erhoffte Rückkehr zur Stabilisierung einer aus den Fugen geratenen europäischen Wirtschaft, ebenso wenig wie die 1933 vom Völkerbund organisierte Londoner Konferenz über Währungs- und Wirtschaftsfragen.
Die Neigung zu Protektionismus war stärker als die Bereitschaft zum Abbau von Handelsbarrieren. Bereits auf dem Höhepunkt der deutsch-französischen Entspannung während der Locarno-Ära hatten die Außenminister Stresemann und Briand hochgesteckte Erwartungen geäußert. Wirtschaftliche Kooperation sollte nicht nur Wachstumsimpulse auslösen, sie sollte darüber hinaus auch zur Wahrung und Sicherung des Friedens beitragen. Doch ging das liberale Modell im Strudel der schon 1927 bestehenden Agrarkrise mit ihrem weltweiten Preisverfall für landwirtschaftliche Produkte und dann endgültig in den Verwerfungen der Weltwirtschaftskrise unter.
Ohne die gängige Darstellung des Völkerbunds und seiner Rolle in den internationalen Beziehungen grundlegend in Frage stellen zu können, will der Autor doch zu einem "historiographischen Perspektivwechsel" beitragen. Man solle nicht in erster Linie nach Erfolg oder Misserfolg des Völkerbunds fragen, sondern nach seinem Vermächtnis und seiner Langzeitwirkung über den Krieg hinaus, den er nicht verhindern konnte. Nachdem das sicherheitspolitische Mandat des Völkerbunds seit der Expansion Japans 1931 und dem Austritt Deutschlands 1933 praktisch obsolet geworden war, "erfand sich die Genfer Institution neu" und reduzierte ihren vormals umfassenden Auftrag auf Wirtschaftsinternationalismus. Es galt nun, jenseits des Nationalstaats über die Schaffung weltwirtschaftlicher Strukturen zu reflektieren, über eine globale Ordnung, von der sich der Brite Arthur Salter als Direktor der Wirtschafts- und Finanzorganisation des Völkerbunds eine Verschmelzung von kooperativem Handel, sozialer Gerechtigkeit und transnationaler Demokratie erhoffte.
Ohne dieser maximalistischen Vision anhängen zu müssen, richteten kleinere Expertengremien in den wirtschaftspolitischen Unterabteilungen des Völkerbunds den Blick jenseits der gleichzeitig einsetzenden Kriegsvorbereitung auf internationale Kooperationsformen und Marktplanung. Der damit beschrittene "Möglichkeitsraum" wies in die Zukunft. Nachkriegsinstitutionen wie der Internationale Währungsfonds, das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (Gatt) und nicht zuletzt die gemeinsame europäische Agrarpolitik im Rahmen der EWG konnten an die konzeptionelle Arbeit der Genfer Denkfabrik anknüpfen.
Man muss nicht überschwänglich von der "Gestaltungsmacht des Völkerbunds" sprechen und kann doch die akribische Suche des Autors dieser am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz entstandenen Arbeit nach Ansätzen zu "internationaler Staatlichkeit" bewundern. Nicht von ungefähr konnte das "Argument Europa" im Bereich der Agrarwirtschaft Überzeugungskraft gewinnen. Es entsprang zum einen aus dem Zwang, einen Ausweg aus der Krise finden zu müssen, zum anderen aber nicht zuletzt aus Erfahrungen agrarischer Interessenverbände mit internationaler Kooperation. Die Krise rührte an Grundlagen eines Wirtschaftszweigs, der immer noch als das "soziale Fundament der Nation" galt. In dieser prekären Lage wollten sich die Agrarexperten in Genf nicht auf die Selbstheilungskräfte eines freien Markts verlassen. Ein rein nationaler Protektionismus kam auch nicht in Frage, hätte der doch dem Grundgedanken der Société des Nations widersprochen. Die Lösung schien in einem Agrarprotektionismus europäischen Zuschnitts zu liegen.
Organisatorisch konnte auf Einrichtungen zurückgegriffen werden, die schon im Zuge eines vor dem Ersten Weltkrieg blühenden Internationalismus entstanden waren. Der erste internationale Agrarkongress 1889 führte zur Gründung der Commission Internationale d'Agriculture (CIA), einer in Paris ansässigen nichtstaatlichen "agrarischen Informationsstelle". Auch Vertreter aus den Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada nahmen an den regelmäßig tagenden Kongressen teil, insgesamt aber handelte es sich um Veranstaltungen der Europäer. Nach dem Krieg waren die Deutschen zunächst ausgeschlossen und seinerseits zögerte der Deutsche Landwirtschaftsrat, Paris als Hauptsitz der CIA zu akzeptieren.
Der Beitritt zur CIA wurde dadurch erleichtert, dass ihr Sekretariat im schweizerischen Brugg zu Hause war, der Heimatsstadt von Ernst Laur, einem Vordenker der "Grünen Internationale". Damit war ein rühriger privatwirtschaftlicher Verband entstanden, der die Einrichtungen des Völkerbunds nutzte, um marktinterventionistische Absprachen über Export- und Produktionsquoten insbesondere für Weizen und Zucker zu erreichen. Die Zuckerindustrie spielte 1931 mit einem internationalen Warenabkommen eine Pionierrolle. Daraus speiste sich schon bald die "diskursive Konstruktion eines Europas um die Zuckerrübe herum".
Seitenblicke wirft Fritz Georg von Graevenitz auch auf das Internationale Agrarinstitut in Rom und die Versuche faschistischer Unterwanderung des Agrarinternationalismus. Von Instrumentalisierung spricht er im Fall des nationalsozialistischen Deutschland. Dessen regimekonforme Verbände verhandelten über internationale Warenabkommen, die der Steigerung des deutschen Kriegspotentials dienten. Von der Teilnahme Deutschlands an Wirtschaftsverhandlungen sollte aber nicht auf die Bereitschaft zu "regem internationalen Austausch" geschlossen werden. Wie die Weltzucker-Konferenz 1937 zeigte, standen die Signale schon auf Krieg.
GOTTFRIED NIEDHART.
Fritz Georg von Graevenitz: Argument Europa. Internationalismus in der globalen Agrarkrise der Zwischenkriegszeit (1927-1937). Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2017. 470 S., 49,95 [Euro].
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»Von Graevenitz's study is well researched and unearths a plethora of archival materials, actors and institutions that deserve a greater place in the international history of the interwar years.[...] The book will be of great interest to those interested in the history of the interwar economic order and the longue durée of European agricultural policy. The book will also appeal to scholars interested in the history of international institutions and especially in the history of the League of Nations.« Amalia Ribi Forclaz, H-Soz-Kult, 25.07.2018»Man muss nicht überschwänglich von der 'Gestaltungsmacht des Völkerbunds' sprechen und kann doch die akribische Suche des Autors dieser am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz entstandenen Arbeit nach Ansätzen zu 'internationaler Staatlichkeit' bewundern.« Gottfried Niedhart, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2017