Die Sehnsucht der Russen galt seit jeher Armenien, ihrem Süden, ihrem Italien. Für Bitow wie schon für Mandelstam ist es ein Land, das gelesen werden will. Hier hat die Geschichte "keinen Anfang - sie ist immer schon dagewesen. Kein Dorf, das nicht in grauer Vorzeit einmal Hauptstadt eines alten Staates gewesen wäre, kein Hügel, unweit dessen sich nicht eine Entscheidungsschlacht abgespielt hätte, kein Stein, über den nicht Blut geströmt wäre, und kein Mensch, den das gleichgültig ließe."
Was Armenien mich lehrt - so könnten Bitows Reisebilder überschrieben sein. Staunend steht er vor den kraftvollen, unentzifferbaren Buchstaben, lauscht der unverständlichen Sprache, die in ihrem "espressivo" der eigenen unendlich überlegen scheint. Die Landschaft mit ihren heftigen Farben und scharfen Konturen, das Licht, tastbar wie Wasser, Wind und Gras, die in Felsmassive gehauenen, über tausend Jahre alten Höhlenkirchen, die tempelartigen Bibliotheken - was er sieht, stößt ihn auf elementare Fra gen.
Seit seiner ersten Reise 1967 hat Bitow Armenien immer wieder besucht. Der erstmals 1972 zensiert publizierte Text erscheint hier in seiner ursprünglichen Gestalt, vom Autor kommentiert und fortgeschrieben bis in die Gegenwart des Jahres 2001. Die Armenischen Lektionen, in der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze, sind eines der lebendigsten und anschaulichsten Bücher über die Landschaften und Bewohner, die Sprache und Kultur Armeniens - und eines der schönsten Bücher von Andrej Bitow.
Was Armenien mich lehrt - so könnten Bitows Reisebilder überschrieben sein. Staunend steht er vor den kraftvollen, unentzifferbaren Buchstaben, lauscht der unverständlichen Sprache, die in ihrem "espressivo" der eigenen unendlich überlegen scheint. Die Landschaft mit ihren heftigen Farben und scharfen Konturen, das Licht, tastbar wie Wasser, Wind und Gras, die in Felsmassive gehauenen, über tausend Jahre alten Höhlenkirchen, die tempelartigen Bibliotheken - was er sieht, stößt ihn auf elementare Fra gen.
Seit seiner ersten Reise 1967 hat Bitow Armenien immer wieder besucht. Der erstmals 1972 zensiert publizierte Text erscheint hier in seiner ursprünglichen Gestalt, vom Autor kommentiert und fortgeschrieben bis in die Gegenwart des Jahres 2001. Die Armenischen Lektionen, in der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze, sind eines der lebendigsten und anschaulichsten Bücher über die Landschaften und Bewohner, die Sprache und Kultur Armeniens - und eines der schönsten Bücher von Andrej Bitow.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Als das "nächste Fremde" war Armenien immer Angelpunkt für die kulturelle Selbstreflexion russischer Autoren, erklärt Rezensent Ulrich M. Schmid, beispielsweise bei Puschkin und Mandelstam. Wie der Rezensent ausführt, nimmt Puschkin Armenien vor allem als "Kurisosum" wahr, bleibt einer rein russischen Perspektive verhaftet und zeigt sich alles in allem enttäuscht, während Mandelstam Armenien geradezu als "paradigmatischen Ort metaphysischer Welterfahrung" begreift, das Fremdsein dort als Grundmuster menschlichen Daseins überhaupt erfährt. Die Messlatte für Andrei Bitows 1969 erschienen Reiseeindrücke "Armenische Lektionen" liegt also hoch. Doch Bitow nimmt sie nach Ansicht des Rezensenten mit Leichtigkeit. Schmid liest Bitows Text als "künstlerische Synthese" von Puschkins und Mandelstams Reiseberichten. Sein Reisebericht handle in erster Linie nicht von Armenien, sondern von Russland: "Im Spiegel der fremden Kultur erkennt Bitow seine eigenen Wahrnehmungsmuster, die er bisher als selbstverständlich akzeptiert hatte". Die Entlarvung des touristischen Sehenwollens gehöre zu den wichtigsten "Lektionen", die Bitow aus Armenien mit nach Hause nehme. Große Anerkennung zollt der Rezensent auch Rosemarie Tietzes "stilsicherer" Neuübersetzung, die die feinen "Modulationsunterschiede" Bitows "ausgezeichnet" zur Geltung bringt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2002Europas verlorenes Kind
Einheit von Sinn und Form: Andrej Bitow bereist Armenien
Eine literarische Auftragsarbeit aus der ehemaligen Sowjetunion, geschrieben zum fünfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution 1967 unter dem üblichen Druck von Zensur und Selbstzensur. Eine von der Moskauer Zeitschrift "Druschba Narodow", zu deutsch "Völkerfreundschaft", bestellte Huldigung der sozialistischen Nationalitätenpolitik. Das verheißt keine spannende Lektüre. Andrej Bitows "Armenische Lektionen" sind aber genau das: ein spannendes, kluges und verblüffend zeitgemäßes Buch über Armenien - den historischen Anfang und das geographische Ende des christlichen Europas. Schon bei seiner Erstveröffentlichung erregte der unkonventionelle Reiseessay Aufsehen und wurde in kurzer Zeit in viele Sprachen übersetzt, darunter 1975 auch ins Deutsche. Bereinigt von allen Blessuren der sowjetischen Zensur, fortgeschrieben bis in unsere Tage und mit nachträglich angebrachten Anmerkungen des Autors versehen, erscheint er nun in stilsicherer Neuübersetzung von Rosemarie Tietze.
Flächenmäßig die einst kleinste Sowjetrepublik, zählte die Nation, die im vierten Jahrhundert als erste das Christentum als Staatsreligion angenommen hatte, in der Sowjetunion bei weitem die meisten bekennenden Gläubigen. Sieht man einmal von den sowjetischen Juden ab, so besaßen die Armenier auch die größte Diaspora. Auf der Nationalflagge thront bis zum heutigen Tag der den Armeniern heilige Ararat, der territorial zur Türkei gehört. Ein türkischer Außenminister hatte sich darüber bei seinem sowjetischen Kollegen beschwert, worauf dieser auf den Halbmond verwies, der ja auch nicht nur den Türken gehöre: pikante Marginalien der Geschichte.
Das Armenische mit seinem archaischen, nie veränderten "gußeisernen" Alphabet und dem zupackenden, gutturalen Klang wehrte sie sich wie eine "Wildkatze" gegen jede Vereinnahmung, auch gegen die in der Sowjetunion großflächig praktizierte Kyrillisierung und Reformierung der Sprachen, einschließlich des Russischen, das nach 1917 herbe Veränderungen erfuhr.
Franz Werfel und der im GULag zu Tode gequälte Ossip Mandelstam haben Armenien literarische Denkmäler gesetzt. Andrej Bitow, heute der Doyen der russischen Literatur, reiste durch das Land mit dem damals noch lange nicht rehabilitierten Mandelstam im geistigen Gepäck. Dank der Gastfreundschaft seines armenischen Schriftstellerkollegen Hrant Matewosjan gelingt es Bitow, tief in die zweitausendjährige Geschichte dieses Buchvolkes einzutauchen, das im fünften Jahrhundert, als Mittelund Westeuropa noch im historischen Embryonalzustand schlummerten, schon alles hatte, was die europäischen Nationen später ausmachte: Mythen, Sprache, Schrift, Glauben, Kathedralen.
Überall erkennt Bitow die stringente armenische Ästhetik, diese "zuweilen auf die Nerven gehende Makellosigkeit": in der Architektur des felsartigen Matenadaran in Eriwan, einer grandiosen Bibliothek mit Handschriftenarchiv, in Etschmiadsin, dem sechzehn Jahrhunderte alten Sitz der armenischen Kirche, in der grandiosen Felsenkathedrale von Gerard, den Resten heidnischer Tempel in ockerfarbener, fast baumloser Landschaft und am zweitausend Meter hoch gelegenen Sewan-See, der ein Viertel des kleinen Landes einnimmt. Selbst im städtebaulich von der Sowjetarchitektur geprägten Eriwan entdeckt Bitow Inseln der Einheit von Sinn und Form. Die Alltagskultur bildet keine Ausnahme: Familie, Gastlichkeit und Essen unterliegen einem strengen Maß. "Kultur", so resümiert Bitow angesichts der von Tradition durchtränkten Gesellschaft, sei "die Fähigkeit, Achtung zu empfinden", mit Überfluß werde nur die Kultur fertig, ansonsten drohe Verwahrlosung und geistige Sklaverei. Eine für die Sowjetunion von 1967 geradezu ungeheuerliche These, denn Bitow trennt Kultur von Ideologie und Klasse und postuliert die Achtung der Andersdenkenden als Basis jeder Kultur. Und: nur wer die eigene Kultur respektiert, kann auch die fremden schätzen. Das klingt zeitlos modern.
Beim Lesen über den Genozid an den Armeniern zu Beginn des letzten Jahrhunderts fühlt sich der Autor wie ein "Mörder". Bitow, im blutigen Jahr stalinistischer Säuberungen 1937 geboren, weiß um die Dynamik: Greuel beginnen - ebenso wie Kultur - im Kopf: "Wenn wir es nur gedacht haben, so gibt es das bereits."
Die bittere armenische Lektion lautet, daß Fremdenhaß ein hartnäckiger Bazillus ist, der sich einkapselt, um an anderer Stelle pestartig wieder aufzubrechen. So geschehen 1988 im aserbaidschanischen Sumgait, wo ein Pogrom an der armenischen Bevölkerung eines der letzten, blutigen Kapitel der sowjetischen Völkergemeinschaft einläutete, das bis heute nicht beendet ist. Armenien, gesehen mit den Augen des vielleicht europäischsten russischen Schriftstellers der Gegenwart, wird zum verlorenen Kind des christlichen Kontinents, nach dem die zu Wohlstand gelangten Eltern längst aufgehört haben zu suchen. Kein Italien der Russen, sondern ein "brüllender Steine Staat" (Mandelstam), ein biblisches Land, heimgesucht von menschlicher Gewalt und Naturkatastrophen, das die Fragilität der Nation ebenso symbolisiert wie die Vitalität von Kultur - und Traditionsbewußtsein.
Zwischen "imperialem Unterbewußtsein" und armenophiler Hingabe zur gar nicht so kolonialen Peripherie, zwischen der Perspektive von 1967 und der Retrospektive auf das zerfallende Reich entdeckt Bitow die vergessene Pforte zu einer "längst besiedelten Welt", dem nationalen Problem, und dahinter die Lehre des kleinen Volkes: die aristokratische Würde, mit der es seinen "letzten Krieg, den um die eigene Geschichte", kämpft. Das Finale, ein babylonisches Stimmengewirr an den nationalen Klagemauern, verbindet sich zum schlichten: "Geschichte ist . . . was war. Und sonst nichts."
SABINE BERKING.
Andrej Bitow: "Armenische Lektionen". Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rosemarie Tietze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 234 S., geb., 18,90 [Euro].
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Einheit von Sinn und Form: Andrej Bitow bereist Armenien
Eine literarische Auftragsarbeit aus der ehemaligen Sowjetunion, geschrieben zum fünfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution 1967 unter dem üblichen Druck von Zensur und Selbstzensur. Eine von der Moskauer Zeitschrift "Druschba Narodow", zu deutsch "Völkerfreundschaft", bestellte Huldigung der sozialistischen Nationalitätenpolitik. Das verheißt keine spannende Lektüre. Andrej Bitows "Armenische Lektionen" sind aber genau das: ein spannendes, kluges und verblüffend zeitgemäßes Buch über Armenien - den historischen Anfang und das geographische Ende des christlichen Europas. Schon bei seiner Erstveröffentlichung erregte der unkonventionelle Reiseessay Aufsehen und wurde in kurzer Zeit in viele Sprachen übersetzt, darunter 1975 auch ins Deutsche. Bereinigt von allen Blessuren der sowjetischen Zensur, fortgeschrieben bis in unsere Tage und mit nachträglich angebrachten Anmerkungen des Autors versehen, erscheint er nun in stilsicherer Neuübersetzung von Rosemarie Tietze.
Flächenmäßig die einst kleinste Sowjetrepublik, zählte die Nation, die im vierten Jahrhundert als erste das Christentum als Staatsreligion angenommen hatte, in der Sowjetunion bei weitem die meisten bekennenden Gläubigen. Sieht man einmal von den sowjetischen Juden ab, so besaßen die Armenier auch die größte Diaspora. Auf der Nationalflagge thront bis zum heutigen Tag der den Armeniern heilige Ararat, der territorial zur Türkei gehört. Ein türkischer Außenminister hatte sich darüber bei seinem sowjetischen Kollegen beschwert, worauf dieser auf den Halbmond verwies, der ja auch nicht nur den Türken gehöre: pikante Marginalien der Geschichte.
Das Armenische mit seinem archaischen, nie veränderten "gußeisernen" Alphabet und dem zupackenden, gutturalen Klang wehrte sie sich wie eine "Wildkatze" gegen jede Vereinnahmung, auch gegen die in der Sowjetunion großflächig praktizierte Kyrillisierung und Reformierung der Sprachen, einschließlich des Russischen, das nach 1917 herbe Veränderungen erfuhr.
Franz Werfel und der im GULag zu Tode gequälte Ossip Mandelstam haben Armenien literarische Denkmäler gesetzt. Andrej Bitow, heute der Doyen der russischen Literatur, reiste durch das Land mit dem damals noch lange nicht rehabilitierten Mandelstam im geistigen Gepäck. Dank der Gastfreundschaft seines armenischen Schriftstellerkollegen Hrant Matewosjan gelingt es Bitow, tief in die zweitausendjährige Geschichte dieses Buchvolkes einzutauchen, das im fünften Jahrhundert, als Mittelund Westeuropa noch im historischen Embryonalzustand schlummerten, schon alles hatte, was die europäischen Nationen später ausmachte: Mythen, Sprache, Schrift, Glauben, Kathedralen.
Überall erkennt Bitow die stringente armenische Ästhetik, diese "zuweilen auf die Nerven gehende Makellosigkeit": in der Architektur des felsartigen Matenadaran in Eriwan, einer grandiosen Bibliothek mit Handschriftenarchiv, in Etschmiadsin, dem sechzehn Jahrhunderte alten Sitz der armenischen Kirche, in der grandiosen Felsenkathedrale von Gerard, den Resten heidnischer Tempel in ockerfarbener, fast baumloser Landschaft und am zweitausend Meter hoch gelegenen Sewan-See, der ein Viertel des kleinen Landes einnimmt. Selbst im städtebaulich von der Sowjetarchitektur geprägten Eriwan entdeckt Bitow Inseln der Einheit von Sinn und Form. Die Alltagskultur bildet keine Ausnahme: Familie, Gastlichkeit und Essen unterliegen einem strengen Maß. "Kultur", so resümiert Bitow angesichts der von Tradition durchtränkten Gesellschaft, sei "die Fähigkeit, Achtung zu empfinden", mit Überfluß werde nur die Kultur fertig, ansonsten drohe Verwahrlosung und geistige Sklaverei. Eine für die Sowjetunion von 1967 geradezu ungeheuerliche These, denn Bitow trennt Kultur von Ideologie und Klasse und postuliert die Achtung der Andersdenkenden als Basis jeder Kultur. Und: nur wer die eigene Kultur respektiert, kann auch die fremden schätzen. Das klingt zeitlos modern.
Beim Lesen über den Genozid an den Armeniern zu Beginn des letzten Jahrhunderts fühlt sich der Autor wie ein "Mörder". Bitow, im blutigen Jahr stalinistischer Säuberungen 1937 geboren, weiß um die Dynamik: Greuel beginnen - ebenso wie Kultur - im Kopf: "Wenn wir es nur gedacht haben, so gibt es das bereits."
Die bittere armenische Lektion lautet, daß Fremdenhaß ein hartnäckiger Bazillus ist, der sich einkapselt, um an anderer Stelle pestartig wieder aufzubrechen. So geschehen 1988 im aserbaidschanischen Sumgait, wo ein Pogrom an der armenischen Bevölkerung eines der letzten, blutigen Kapitel der sowjetischen Völkergemeinschaft einläutete, das bis heute nicht beendet ist. Armenien, gesehen mit den Augen des vielleicht europäischsten russischen Schriftstellers der Gegenwart, wird zum verlorenen Kind des christlichen Kontinents, nach dem die zu Wohlstand gelangten Eltern längst aufgehört haben zu suchen. Kein Italien der Russen, sondern ein "brüllender Steine Staat" (Mandelstam), ein biblisches Land, heimgesucht von menschlicher Gewalt und Naturkatastrophen, das die Fragilität der Nation ebenso symbolisiert wie die Vitalität von Kultur - und Traditionsbewußtsein.
Zwischen "imperialem Unterbewußtsein" und armenophiler Hingabe zur gar nicht so kolonialen Peripherie, zwischen der Perspektive von 1967 und der Retrospektive auf das zerfallende Reich entdeckt Bitow die vergessene Pforte zu einer "längst besiedelten Welt", dem nationalen Problem, und dahinter die Lehre des kleinen Volkes: die aristokratische Würde, mit der es seinen "letzten Krieg, den um die eigene Geschichte", kämpft. Das Finale, ein babylonisches Stimmengewirr an den nationalen Klagemauern, verbindet sich zum schlichten: "Geschichte ist . . . was war. Und sonst nichts."
SABINE BERKING.
Andrej Bitow: "Armenische Lektionen". Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rosemarie Tietze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 234 S., geb., 18,90 [Euro].
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