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»Reichtum vergeht, aber Armut lebt fort« - so ein russisches Sprichwort: Eine umfassende Geschichte der Bettelei und Armut in Russland. Hubertus Jahn hat unterschiedlichste Quellen ausgewertet: theologische Texte und Reisebeschreibungen, Verhörprotokolle der Polizei, schöngeistige Literatur und Malerei, ethnographische Erhebungen und eigene Erfahrungen im spät- und post-sowjetischen Russland. Besonderes Augenmerk gilt der Repräsentation von Bettlern in den Quellen, also der »sozialen Imagination« derer, die diese Quellen produziert haben. Damit hebt sich die Arbeit ab von üblichen…mehr

Produktbeschreibung
»Reichtum vergeht, aber Armut lebt fort« - so ein russisches Sprichwort: Eine umfassende Geschichte der Bettelei und Armut in Russland. Hubertus Jahn hat unterschiedlichste Quellen ausgewertet: theologische Texte und Reisebeschreibungen, Verhörprotokolle der Polizei, schöngeistige Literatur und Malerei, ethnographische Erhebungen und eigene Erfahrungen im spät- und post-sowjetischen Russland. Besonderes Augenmerk gilt der Repräsentation von Bettlern in den Quellen, also der »sozialen Imagination« derer, die diese Quellen produziert haben. Damit hebt sich die Arbeit ab von üblichen Sozialgeschichten. Auch die alltäglichen Lebensumstände von realen Bettlern finden ausgiebig Beachtung und vermitteln dem Leser ein Gefühl für die Besonderheiten des Bettelns in Russland.
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010

Das Leid des großen Ungewaschenen

Wer als Bettler dem Wodka widerstand, konnte über die Runden kommen: Hubertus Jahn schreibt die Geschichte des Armenhauses Russland.

Von Kerstin Holm

Wie repräsentativ Russlands Probleme für die der Welt sind, sieht man schon daran, dass seine Minimalversorgungsgesellschaft, wie sie in der Spätphase der Sowjetunion bestand, durch erzwungene allgemeine Armut erkauft war. Mangel leiden war hier nie ein lokalisierbarer Defekt, sondern das Schicksal der meisten. Davon kündet auch das schöne russische Sprichwort, das der Osteuropahistoriker Hubertus Jahn seinem neuen Buch zu dem Thema vorangestellt hat: "Reichtum vergeht, aber Armut lebt fort."

Mittelknappheit prägt auch die russische Geschichtsschreibung, die im besonderen Maß reale Nöte legitimieren oder über sie hinausweisen musste. Kein Wunder, dass russische Geschichtsschreiber sich selten dazu aufraffen konnten, die ausufernde Bedürftigkeit in ihrem Land sozial- oder kulturhistorisch gesondert zu erforschen. Umso verdienstvoller, dass jetzt Jahn, der deutsche Professor in Cambridge, in einer dichten, materialgesättigten Studie vorführt, welche Überlebensstrategien sich bei russischen Habenichtsen seit dem Mittelalter bis zur Gegenwart bewährten, und wie die Gesellschaft und Obrigkeit mit ihnen umgingen.

Dass Armut eine gottgefällige Lebensform darstellte, vergegenwärtigt die russische Sprache schon durch das Adjektiv für arm, "ubogi" ("bei Gott"). Das alte fromme Russland dichtet um Almosen bittenden Pilgern deswegen manchmal sogar physische Schönheit an. Dass die Elite fromme Bettler unterhielt, nützte beiden Seiten. Zar und Kaufleute investierten durchs Almosengeben in ihr Seelenheil, beobachtete der deutsche Gelehrte Adam Olearius im 17. Jahrhundert in Moskau. Und die Bettler bekämen dabei so viel Brot, dass sie Überschüsse zu Zwieback rösteten und verkauften. Zwar äußerten sich immer wieder Kirchenpolitiker kritisch über die professionellen Bettler, die auf Kosten anderer lebten und als Erzähler frommer Märchen viel Unsinn in die Köpfe pflanzten. Doch erst Peter der Große, der seinem Land Effektivitätsdenken beibringen wollte, sagte der Bettelei den Kampf an. Der Reformzar wollte bei seinen Untertanen, auch den Armen, das ziellose "Herumstreunen" unterbinden, sie polizeilich erfassen und dazu bringen, sich nützlich zu machen. Er ließ Armenhäuser einrichten, die durch Klöster und Sonderkollekten unterhalten werden sollten, aber nur für die wirklich Arbeitsunfähigen. Diese Gruppe wuchs indessen auch durch Peters Feldzüge.

Mit einer Fülle statistischer Daten über Festnahmen, Verordnungen und die bewunderungswürdigen, überforderten Armenkomitees führt der Autor vor, wie der Staat dem Heer der Hungrigen Herr zu werden versucht, das durch die Modernisierung stetig anschwillt. Beinahe noch aussagekräftiger sind die Aquarelle des Malers Iwan Jemenjow (1746 bis 1797) im Illustrationsteil, erhaben enigmatische Darstellungen von Bettlern, die das abgrundtiefe Leid des "Großen Ungewaschenen" ebenso spüren lassen wie seine quantitative Stärke und Bedrohlichkeit. Dem russischen Goya Jemenjow waren freilich auch die Schwächen seiner Modelle nicht fremd. Als er 1785 ein Paris-Stipendium bekam, begann er dort zu trinken und sich gehenzulassen, bis man ihn, weil er seine Heimat blamierte, 1788 nach Russland zurückholte.

Doch wer als Bettler dem Wodka widerstand, konnte mit dem Beruf oft nicht schlecht leben. Jahn berichtet von Landbewohnerinnen bei Rjasan, die nach der Bauernbefreiung betteln gingen, weil das einträglicher war, als einen Job anzunehmen. Bauern des Gouvernements Witebsk zogen im späten 19. Jahrhundert neben der Feldarbeit regelmäßig in die Hauptstadt und besserten durch Betteln ihre Einkünfte auf. Eine unternehmerische Ausnahmebegabung war die "arme Pilgerin" Alexandra Boljaka, die um 1900, angeblich für kirchliche Zwecke, milde Gaben sammelte, sie dann verkaufte und sich ein ausschweifendes Luxusleben leistete. Auch die dunkle Seite der Gesellschaft differenzierte sich. In der Boomzeit vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich innerhalb der Hauptstadt Petersburg autarke Slumviertel gebildet, dessen berühmtestes in der Nähe des Heumarktes "Wjasemskaja lawra" genannt wurde, als sei es ein Höhlenkloster. Zu den Ordensregeln gehörte auch ein Frühwarnsystem, das tausende Bettler und Kriminelle vor Polizeirazzien schützte.

Die Oktoberrevolution verurteilte ganze Klassen zu Elend und Hungertod, bevor sich die Gesellschaft in primitiverer Form regenerierte. Siebzig Jahre Sozialismus haben eine kriminalisierte Wirtschaft geprägt, aber auch eine Armutskultur, die man insbesondere an Petersburgerinnen bewundern kann, die gepflegt und mit höflicher Reserve um milde Gaben bitten. Doch die Renaissance der Orthodoxie verchristlicht auch die Bettler-Etikette. Wer heute bei einer Kirche um Almosen heischt, muss dunkle Lumpen anziehen, sich bekreuzigen und Spendern "Gebe Gott Ihnen Gesundheit!" zurufen. Sonst diskreditiert er die Zunft und wird von den Kollegen alsbald vertrieben.

Hubertus F. Jahn: "Armes Russland". Bettler und Notleidende in der russischen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2010. 250 S., geb., 34,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der alte russische Name für Bettler: "ubogi", übersetzt heißt das: "bei Gott". Soll heißen: Das Ansehen der Bettler war nicht das Schlechteste, bis dann Peter der Große kam und das "Herumstreunen" (offenbar aber nicht mit dem durchschlagendsten Erfolg) verbot, auf der anderen Seite Armenhäuser einrichten ließ für all jene, die ihr Brot nicht aus eigener Kraft verdienen konnten. Hubertus F. Jahn schildert in seiner Studie einerseits Maßnahmen aus der russischen Geschichte wie diese. Er stellt auch fest, dass sich vom Betteln im 19. Jahrhundert durchaus recht respektabel leben ließ, bis hin zu Extremfällen wie dem der angeblich "armen Pilgerin" Alexandra Boljaka, die es durch Betrug zum "Luxusleben" gebracht haben soll. Mindestens ebenso interessant wie die sozialstatistischen Informationen findet die Rezensentin Kerstin Holm jedoch das eindrucksvolle Bildmaterial, etwa vom "russischen Goya" Iwan Jemenjow.

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