Der Untergang des Varus ist ein deutscher Mythos. Wo genau fanden die Ereignisse statt, und was waren die taktischen Fehler des Varus? Boris Dreyer lässt die Menschen und Ereignisse jener Tage lebendig werden.
Mit der Niederlage des Varus im Jahre 9 n. Chr. ist ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung bezeichnet. Langfristig bedeutete der Sieg des Arminius über die Legionen Roms, dass das Gebiet zwischen Rhein und Elbe sich dem Zugriff des römischen Kaiserreichs entzog. Aber nicht nur das: Die Folge der Schlacht war eine radikale Umorientierung der imperialen Politik Roms, Britannien geriet in den Blick des römischen Adlers ...
Mit detektivischem Spürsinn rekonstruiert Boris Dreyer die wahren Begebenheiten der Schlacht und erzählt sie plastisch nach. Sein Buch zeichnet ein vollkommen neues Bild der römischen Germanienpolitik und gibt klare Antworten auf zahlreiche Fragen, die bis heute vielen Historikern rätselhaft blieben: Warum scheiterte der Prozess der Romanisierung zu einem Zeitpunkt, an dem niemand mehr damit gerechnet hatte, am wenigsten die Römer selbst? Und vor allem: Welche Bedeutung hatte die Partisanenstrategie des Arminius für den weiteren Verlauf der Geschichte?
Mit der Niederlage des Varus im Jahre 9 n. Chr. ist ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung bezeichnet. Langfristig bedeutete der Sieg des Arminius über die Legionen Roms, dass das Gebiet zwischen Rhein und Elbe sich dem Zugriff des römischen Kaiserreichs entzog. Aber nicht nur das: Die Folge der Schlacht war eine radikale Umorientierung der imperialen Politik Roms, Britannien geriet in den Blick des römischen Adlers ...
Mit detektivischem Spürsinn rekonstruiert Boris Dreyer die wahren Begebenheiten der Schlacht und erzählt sie plastisch nach. Sein Buch zeichnet ein vollkommen neues Bild der römischen Germanienpolitik und gibt klare Antworten auf zahlreiche Fragen, die bis heute vielen Historikern rätselhaft blieben: Warum scheiterte der Prozess der Romanisierung zu einem Zeitpunkt, an dem niemand mehr damit gerechnet hatte, am wenigsten die Römer selbst? Und vor allem: Welche Bedeutung hatte die Partisanenstrategie des Arminius für den weiteren Verlauf der Geschichte?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2009Das Vietnam der Römer
Der erste dreißigjährige Krieg auf deutschem Boden, aber keine nationale Empörung: Neue Bücher über Roms Feldzüge in Germanien
Die eigentliche Geschichte ist schnell erzählt: Drei römische Legionen lassen sich von germanischen Aufständischen in einen Hinterhalt locken und werden fast bis auf den letzten Mann vernichtet. Die Geschichte hinter dieser Geschichte ist hingegen komplizierter. Was trieb die Römer vor 2000 Jahren in den Teutoburger Wald? Was reizte sie an den Stammesgebieten der Germanen? Zum Jubiläum der Varusschlacht werden vom 16. Mai an in Haltern, Kalkriese und Detmold die drei Ausstellungen „Imperium Konflikt Mythos” gezeigt – eine gute Gelegenheit, sich die zuletzt neu erschienenen Bücher zu diesem Thema vorzunehmen.
Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer schließt in seiner Studie über das römische Provinzwesen prinzipiell zwei Motive für Roms Expansion aus, die sonst häufig genannt werden: Erstens geben die Quellen in den Augen des Althistorikers der Fernuniversität Hagen keinen Hinweis darauf, dass der römische Senat eine imperiale Strategie verfolgt hätte. Aber als Hegemonialmacht geriet Rom immer stärker in den Sog imperialer Handlungslogik: Von bedrängten Staaten um Hilfe gebeten oder durch Verträge dazu verpflichtet, konnte der Senat keine defensive Politik betreiben, sondern musste politisch und militärisch intervenieren. Andernfalls hätte Rom seine imperiale wie seine hegemoniale Position verloren.
Zweitens – das lässt sich gerade auch für das wirtschaftlich eher arme Germanien sagen – betrieb Rom seine Expansion nach der Analyse von Meyer-Zwiffelhoffer nicht aus ökonomischen Motiven, wie es beim modernen Imperialismus der Fall war, also um sich Ressourcen anzueignen, Handelsstützpunkte aufzubauen oder Absatzmärkte zu erschließen. Dass die Römer von ihrer Expansion auch wirtschaftlich in Form von Beute, Sklaven, Tributen und Land profitieren konnten und wollten, lässt Meyer-Zwiffelhoffer nicht als Grund der Kriegführung gelten.
Doch was trieb die Römer dann in die germanische Peripherie ihres Reiches, eine Gegend, die in ihren Augen eigentlich keine Romanisierung zuließ und daher vorwiegend durch Vasallenbeziehungen mit Stammesführern unter Kontrolle gehalten wurde? Der Grund waren die Germanen selbst. Sie fielen immer wieder in Roms linksrheinische Provinzen ein. Im Jahr 16 v. Chr. hatten zwei germanische Stämme den Rhein überschritten und bei Aachen eine römische Legion nahezu vernichtet. Daher sollten die Germanen unter Augustus „befriedet” werden.
Wie sehr dies misslang, macht der Düsseldorfer Althistoriker Bruno Bleckmann in seiner klug komponierten und gut geschriebenen Geschichte der Germanen deutlich: Sie konnten weder durch die Feldzüge von Drusus 12 v. Chr. noch durch Tiberius 4 bis 5 n. Chr. dauerhaft unterworfen werden. Dennoch glaubte Rom, eben dies erreicht zu haben – eine Fehlwahrnehmung, die direkt zur Varus-Katastrophe führen sollte. Bis zur Elbe galt die römische Herrschaft als so stabilisiert, dass man begann, die für das Regiment Roms in den Provinzen üblichen Strukturen einzurichten. Tatsächlich haben Archäologen Indizien für einen beginnenden Urbanisierungs- und Provinzialisierungsprozess im rechtsrheinischen Raum gefunden. So ist der seit 1993 ausgegrabene Platz von Lahnau-Waldgirmes bei Gießen eine nach römischem Muster angelegte und bereits 5 oder 4 v. Chr. geplante städtische Siedlung gewesen.
Auch einige der Winterquartiere von Roms Legionen konnten sich zu städtischen Siedlungen entwickeln. Ihre monumentalen Formen wie die großen Torbauten verkörperten römische Autorität im germanischen Umland und lockten mit der Zurschaustellung überlegener Zivilisation. So verfügte das um eine zivile Vorstadt erweiterte Legionslager Haltern über eine städtische Infrastruktur mit Annehmlichkeiten wie Bädern, eine Gräberstraße oder Töpferöfen. Kapitale der neuen Provinz sollte vermutlich Köln werden, wo die umgesiedelten und mit den Römern befreundeten Ubier lebten. Die Stadt erhielt unter Augustus eine aus großen Steinquadern gefügte Mauer. Ihre Schaufassade zum Rhein hin sollte die Größe Roms gegenüber den rechtsrheinischen Völkern sichtbar machen. In Köln stand auch der Altar für den Kaiserkult. Seine Priesterwürde bekleidete im Jahr 9 n. Chr. Segimundus, ein Angehöriger der bei den Cheruskern dominierenden Adelsfamilie. Bleckmann folgert daraus, dass der neue Kölner Kult keinen lokalen Charakter hatte, sondern die Eliten Innergermaniens binden sollte.
Im Jahr 7 n. Chr. übernahm Quinctilius Varus das Kommando über die Rheinlegionen. Mit dem Kaiserhaus verschwägert, führte er lediglich den schon vor ihm eingeschlagenen Kurs der Umgestaltung Germaniens in eine Provinz fort. Dabei soll er aber nach Bleckmanns Analyse nicht in besonders unsensibler Weise agiert haben. Das werde in einer späten Tradition behauptet, um ihn zum eigentlichen Verantwortlichen für den germanischen Aufstand zu machen. Richtig sei allenfalls, dass die Einführung eines Systems zur Erhebung von Steuern auf Widerstand stoßen musste. Gleichwohl habe nicht unüberwindlicher Leidensdruck oder gar eine „nationale Empörung” über die Fremdherrschaft den großen germanischen Aufstand des Jahres 9 n. Chr. hervorgerufen, sondern der Ehrgeiz des Arminius.
Wer war dieser Cheruskerfürst, dessen germanischer Name unbekannt ist? Nach dem Quellenstudium des Göttinger Historikers Boris Dreyer hatte Arminius eine stolze „Karriere” im römischen Dienst vorzuweisen, als „praefectus” einer Cherusker-Kohorte, die in Xanten stationiert war. Noch bis zum Jahr 8 n. Chr. bekämpfte er auf Seite der Römer den Aufstand der Pannonier. Zwar bewährte er sich als Führer der Kontingente, die sein Stamm für die römischen Hilfstruppen zu stellen hatte. Aber im germanischen Adel war seine Führung nicht konkurrenzlos – nicht einmal im Lager der antirömischen Opposition. Ihr gegenüber stand ohnehin eine streng romtreue „Fraktion”, angeführt von Segestes, dem Schwiegervater von Arminius. Als dieser von den Aufstandsplänen seines Schwiegersohnes erfuhr, verriet er den geplanten Hinterhalt an die Römer. Doch Varus glaubte ihm nicht, zu eng war sein trügerisches Vertrauensverhältnis zu Arminius, der als römischer Ritter zur sozialen Elite Roms gehörte.
Während des Einsatzes der Cherusker im pannonischen Aufstand 6 bis 9 n. Chr. waren die römischen Truppen mehrfach, bedingt durch schlechte Straßen und ungünstige Jahreszeiten, in erhebliche Bedrängnis geraten. Diese Beobachtung aus eigener Anschauung machte sich Arminius nicht nur im Kampf gegen Varus, sondern auch in der Abwehr der römischen Rachefeldzüge zu Nutze.
Daher nennt Peter Arens, Leiter der ZDF-Redaktion „Kultur und Wissenschaft, in seinem Buch „Kampf um Germanien” das Ringen um Germanien einen dreißigjährigen Krieg – den ersten auf deutschem Boden. Denn die Römer gaben nach der Niederlage des Varus keinesfalls auf: Zuerst verstärkten sie ihre Stützpunkte am Niederrhein. Dann stellte der neue Kommandeur Tiberius acht Legionen zusammen. Ein Drittel der gesamten römischen Armee stand nun am Rhein. Strafexpeditionen verwüsteten ab 11 n. Chr. die Gebiete der Marser und Brukterer. Doch als Tiberius zwei Jahre später von der Rheinfront nach Rom abberufen wurde, hatte er keine sichtbaren Erfolge oder Territorialgewinne vorzuweisen.
Auch Tiberius’ Neffe und Adoptivsohn Germanicus scheiterte. 14 n. Chr. drang er tief in Germanien ein. Doch seine Massaker an unbewaffneten Dorfeinwohnern, Müttern und Kindern festigten nur den Widerstandswillen der Germanen. 15 n. Chr. zog Germanicus mit all seinen acht Legionen, mit Reitergeschwadern und Hilfseinheiten ins Land der Chatten. Wieder hinterließ er eine Spur der Verwüstung. Aber gegen die bereits gegen Varus bewährte Guerillataktik des Arminius war auch Germanicus machtlos. Die große Offensive der Jahre 15 und 16 n. Chr. lief sich tot. Militärische Einzelerfolge ließen sich nicht in dauerhafte Besatzung umwandeln. Der Kampfgeist der Germanen war nicht zu brechen. Germanicus zog sich endgültig über den Rhein zurück.
Neueste archäologische Funde im Kreis Northeim zeigen allerdings, dass sogar noch zwischen 230 und 235 n. Chr. Römer gegen Germanen auf rechtsrheinischem Gebiet gekämpft haben. Daher dürften die militärische Auseinandersetzungen zwischen einer städtischen Mittelmeerzivilisation und einer nordischen Naturgemeinschaft insgesamt länger als Arens’ dreißigjähriger Krieg gedauert haben. Doch das Ergebnis blieb seit der Varusschlacht unverändert: Die Germanen entzogen sich einer Kultivierung durch ihre Besatzer. Eine erste und prägende Spaltung Europas war hiermit festgeschrieben. Es entstand ein „ungeheurer Zivilisationsabstand”, wie Arens den Göttinger Althistoriker Gustav Adolf Lehmann zitiert: Im römisch beherrschten Süddeutschland wurden Villen mit Fußbodenheizung gebaut, im Norden sollte es für Jahrhunderte keine einzige Stadt geben.
Im Gespräch mit dem ehemaligen Bundeswehrgeneral Klaus Reinhardt versucht Sachbuchautor Hans Dieter Stöver schließlich, aus dem römischen Desaster in Germanien für die Gegenwart zu lernen. Dabei formuliert Reinhardt, der deutsche Soldaten in Somalia und im Kosovo befehligt hat, eine Lehre, die mit Blick auf die westlichen Kampfeinsätze im Irak und in Afghanistan zeitlos aktuell erscheint: „Wenn eine Siegermacht eine Bevölkerung unterdrückt und jeden angeblichen Terroristen oder Widerständler mit der gesamten Kampfkraft, die ihr zur Verfügung steht, zu vernichten versucht und dabei bewusst in Kauf nimmt, im Rahmen der Kriegshandlungen auch unschuldige Zivilisten zu töten, dann schafft sie sich durch dieses scharfe Vorgehen neue Gegner.” So gesehen war Germanien das Vietnam der Römer. Wird Afghanistan zum Germanien unserer Tage? THOMAS SPECKMANN
PETER ARENS: Kampf um Germanien. Die Schlacht im Teutoburger Wald. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 238 Seiten, 19,95 Euro.
BRUNO BLECKMANN: Die Germanen. Von Ariovist bis zu den Wikingern. Verlag C. H. Beck, München 2009. 359 Seiten, 24,90 Euro.
BORIS DREYER: Arminius und der Untergang des Varus. Warum die Germanen keine Römer wurden. Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 317 Seiten, 24,90 Euro.
ECKHARD MEYER-ZWIFFELHOFFER: Imperium Romanum. Geschichte der römischen Provinzen. C. H. Beck, München 2009. 128 Seiten, 7,90 Euro.
HANS DIETER STÖVER: Der Sieg über Varus. Die Germanen gegen die Weltmacht Rom. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 399 S., 14,90 Euro.
Nach der Varusschlacht folgten Jahre germanischer Guerillataktik
Die Germanen entzogen sich einer Kultivierung durch ihre Besatzer
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Der erste dreißigjährige Krieg auf deutschem Boden, aber keine nationale Empörung: Neue Bücher über Roms Feldzüge in Germanien
Die eigentliche Geschichte ist schnell erzählt: Drei römische Legionen lassen sich von germanischen Aufständischen in einen Hinterhalt locken und werden fast bis auf den letzten Mann vernichtet. Die Geschichte hinter dieser Geschichte ist hingegen komplizierter. Was trieb die Römer vor 2000 Jahren in den Teutoburger Wald? Was reizte sie an den Stammesgebieten der Germanen? Zum Jubiläum der Varusschlacht werden vom 16. Mai an in Haltern, Kalkriese und Detmold die drei Ausstellungen „Imperium Konflikt Mythos” gezeigt – eine gute Gelegenheit, sich die zuletzt neu erschienenen Bücher zu diesem Thema vorzunehmen.
Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer schließt in seiner Studie über das römische Provinzwesen prinzipiell zwei Motive für Roms Expansion aus, die sonst häufig genannt werden: Erstens geben die Quellen in den Augen des Althistorikers der Fernuniversität Hagen keinen Hinweis darauf, dass der römische Senat eine imperiale Strategie verfolgt hätte. Aber als Hegemonialmacht geriet Rom immer stärker in den Sog imperialer Handlungslogik: Von bedrängten Staaten um Hilfe gebeten oder durch Verträge dazu verpflichtet, konnte der Senat keine defensive Politik betreiben, sondern musste politisch und militärisch intervenieren. Andernfalls hätte Rom seine imperiale wie seine hegemoniale Position verloren.
Zweitens – das lässt sich gerade auch für das wirtschaftlich eher arme Germanien sagen – betrieb Rom seine Expansion nach der Analyse von Meyer-Zwiffelhoffer nicht aus ökonomischen Motiven, wie es beim modernen Imperialismus der Fall war, also um sich Ressourcen anzueignen, Handelsstützpunkte aufzubauen oder Absatzmärkte zu erschließen. Dass die Römer von ihrer Expansion auch wirtschaftlich in Form von Beute, Sklaven, Tributen und Land profitieren konnten und wollten, lässt Meyer-Zwiffelhoffer nicht als Grund der Kriegführung gelten.
Doch was trieb die Römer dann in die germanische Peripherie ihres Reiches, eine Gegend, die in ihren Augen eigentlich keine Romanisierung zuließ und daher vorwiegend durch Vasallenbeziehungen mit Stammesführern unter Kontrolle gehalten wurde? Der Grund waren die Germanen selbst. Sie fielen immer wieder in Roms linksrheinische Provinzen ein. Im Jahr 16 v. Chr. hatten zwei germanische Stämme den Rhein überschritten und bei Aachen eine römische Legion nahezu vernichtet. Daher sollten die Germanen unter Augustus „befriedet” werden.
Wie sehr dies misslang, macht der Düsseldorfer Althistoriker Bruno Bleckmann in seiner klug komponierten und gut geschriebenen Geschichte der Germanen deutlich: Sie konnten weder durch die Feldzüge von Drusus 12 v. Chr. noch durch Tiberius 4 bis 5 n. Chr. dauerhaft unterworfen werden. Dennoch glaubte Rom, eben dies erreicht zu haben – eine Fehlwahrnehmung, die direkt zur Varus-Katastrophe führen sollte. Bis zur Elbe galt die römische Herrschaft als so stabilisiert, dass man begann, die für das Regiment Roms in den Provinzen üblichen Strukturen einzurichten. Tatsächlich haben Archäologen Indizien für einen beginnenden Urbanisierungs- und Provinzialisierungsprozess im rechtsrheinischen Raum gefunden. So ist der seit 1993 ausgegrabene Platz von Lahnau-Waldgirmes bei Gießen eine nach römischem Muster angelegte und bereits 5 oder 4 v. Chr. geplante städtische Siedlung gewesen.
Auch einige der Winterquartiere von Roms Legionen konnten sich zu städtischen Siedlungen entwickeln. Ihre monumentalen Formen wie die großen Torbauten verkörperten römische Autorität im germanischen Umland und lockten mit der Zurschaustellung überlegener Zivilisation. So verfügte das um eine zivile Vorstadt erweiterte Legionslager Haltern über eine städtische Infrastruktur mit Annehmlichkeiten wie Bädern, eine Gräberstraße oder Töpferöfen. Kapitale der neuen Provinz sollte vermutlich Köln werden, wo die umgesiedelten und mit den Römern befreundeten Ubier lebten. Die Stadt erhielt unter Augustus eine aus großen Steinquadern gefügte Mauer. Ihre Schaufassade zum Rhein hin sollte die Größe Roms gegenüber den rechtsrheinischen Völkern sichtbar machen. In Köln stand auch der Altar für den Kaiserkult. Seine Priesterwürde bekleidete im Jahr 9 n. Chr. Segimundus, ein Angehöriger der bei den Cheruskern dominierenden Adelsfamilie. Bleckmann folgert daraus, dass der neue Kölner Kult keinen lokalen Charakter hatte, sondern die Eliten Innergermaniens binden sollte.
Im Jahr 7 n. Chr. übernahm Quinctilius Varus das Kommando über die Rheinlegionen. Mit dem Kaiserhaus verschwägert, führte er lediglich den schon vor ihm eingeschlagenen Kurs der Umgestaltung Germaniens in eine Provinz fort. Dabei soll er aber nach Bleckmanns Analyse nicht in besonders unsensibler Weise agiert haben. Das werde in einer späten Tradition behauptet, um ihn zum eigentlichen Verantwortlichen für den germanischen Aufstand zu machen. Richtig sei allenfalls, dass die Einführung eines Systems zur Erhebung von Steuern auf Widerstand stoßen musste. Gleichwohl habe nicht unüberwindlicher Leidensdruck oder gar eine „nationale Empörung” über die Fremdherrschaft den großen germanischen Aufstand des Jahres 9 n. Chr. hervorgerufen, sondern der Ehrgeiz des Arminius.
Wer war dieser Cheruskerfürst, dessen germanischer Name unbekannt ist? Nach dem Quellenstudium des Göttinger Historikers Boris Dreyer hatte Arminius eine stolze „Karriere” im römischen Dienst vorzuweisen, als „praefectus” einer Cherusker-Kohorte, die in Xanten stationiert war. Noch bis zum Jahr 8 n. Chr. bekämpfte er auf Seite der Römer den Aufstand der Pannonier. Zwar bewährte er sich als Führer der Kontingente, die sein Stamm für die römischen Hilfstruppen zu stellen hatte. Aber im germanischen Adel war seine Führung nicht konkurrenzlos – nicht einmal im Lager der antirömischen Opposition. Ihr gegenüber stand ohnehin eine streng romtreue „Fraktion”, angeführt von Segestes, dem Schwiegervater von Arminius. Als dieser von den Aufstandsplänen seines Schwiegersohnes erfuhr, verriet er den geplanten Hinterhalt an die Römer. Doch Varus glaubte ihm nicht, zu eng war sein trügerisches Vertrauensverhältnis zu Arminius, der als römischer Ritter zur sozialen Elite Roms gehörte.
Während des Einsatzes der Cherusker im pannonischen Aufstand 6 bis 9 n. Chr. waren die römischen Truppen mehrfach, bedingt durch schlechte Straßen und ungünstige Jahreszeiten, in erhebliche Bedrängnis geraten. Diese Beobachtung aus eigener Anschauung machte sich Arminius nicht nur im Kampf gegen Varus, sondern auch in der Abwehr der römischen Rachefeldzüge zu Nutze.
Daher nennt Peter Arens, Leiter der ZDF-Redaktion „Kultur und Wissenschaft, in seinem Buch „Kampf um Germanien” das Ringen um Germanien einen dreißigjährigen Krieg – den ersten auf deutschem Boden. Denn die Römer gaben nach der Niederlage des Varus keinesfalls auf: Zuerst verstärkten sie ihre Stützpunkte am Niederrhein. Dann stellte der neue Kommandeur Tiberius acht Legionen zusammen. Ein Drittel der gesamten römischen Armee stand nun am Rhein. Strafexpeditionen verwüsteten ab 11 n. Chr. die Gebiete der Marser und Brukterer. Doch als Tiberius zwei Jahre später von der Rheinfront nach Rom abberufen wurde, hatte er keine sichtbaren Erfolge oder Territorialgewinne vorzuweisen.
Auch Tiberius’ Neffe und Adoptivsohn Germanicus scheiterte. 14 n. Chr. drang er tief in Germanien ein. Doch seine Massaker an unbewaffneten Dorfeinwohnern, Müttern und Kindern festigten nur den Widerstandswillen der Germanen. 15 n. Chr. zog Germanicus mit all seinen acht Legionen, mit Reitergeschwadern und Hilfseinheiten ins Land der Chatten. Wieder hinterließ er eine Spur der Verwüstung. Aber gegen die bereits gegen Varus bewährte Guerillataktik des Arminius war auch Germanicus machtlos. Die große Offensive der Jahre 15 und 16 n. Chr. lief sich tot. Militärische Einzelerfolge ließen sich nicht in dauerhafte Besatzung umwandeln. Der Kampfgeist der Germanen war nicht zu brechen. Germanicus zog sich endgültig über den Rhein zurück.
Neueste archäologische Funde im Kreis Northeim zeigen allerdings, dass sogar noch zwischen 230 und 235 n. Chr. Römer gegen Germanen auf rechtsrheinischem Gebiet gekämpft haben. Daher dürften die militärische Auseinandersetzungen zwischen einer städtischen Mittelmeerzivilisation und einer nordischen Naturgemeinschaft insgesamt länger als Arens’ dreißigjähriger Krieg gedauert haben. Doch das Ergebnis blieb seit der Varusschlacht unverändert: Die Germanen entzogen sich einer Kultivierung durch ihre Besatzer. Eine erste und prägende Spaltung Europas war hiermit festgeschrieben. Es entstand ein „ungeheurer Zivilisationsabstand”, wie Arens den Göttinger Althistoriker Gustav Adolf Lehmann zitiert: Im römisch beherrschten Süddeutschland wurden Villen mit Fußbodenheizung gebaut, im Norden sollte es für Jahrhunderte keine einzige Stadt geben.
Im Gespräch mit dem ehemaligen Bundeswehrgeneral Klaus Reinhardt versucht Sachbuchautor Hans Dieter Stöver schließlich, aus dem römischen Desaster in Germanien für die Gegenwart zu lernen. Dabei formuliert Reinhardt, der deutsche Soldaten in Somalia und im Kosovo befehligt hat, eine Lehre, die mit Blick auf die westlichen Kampfeinsätze im Irak und in Afghanistan zeitlos aktuell erscheint: „Wenn eine Siegermacht eine Bevölkerung unterdrückt und jeden angeblichen Terroristen oder Widerständler mit der gesamten Kampfkraft, die ihr zur Verfügung steht, zu vernichten versucht und dabei bewusst in Kauf nimmt, im Rahmen der Kriegshandlungen auch unschuldige Zivilisten zu töten, dann schafft sie sich durch dieses scharfe Vorgehen neue Gegner.” So gesehen war Germanien das Vietnam der Römer. Wird Afghanistan zum Germanien unserer Tage? THOMAS SPECKMANN
PETER ARENS: Kampf um Germanien. Die Schlacht im Teutoburger Wald. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 238 Seiten, 19,95 Euro.
BRUNO BLECKMANN: Die Germanen. Von Ariovist bis zu den Wikingern. Verlag C. H. Beck, München 2009. 359 Seiten, 24,90 Euro.
BORIS DREYER: Arminius und der Untergang des Varus. Warum die Germanen keine Römer wurden. Klett-Cotta, Stuttgart 2009. 317 Seiten, 24,90 Euro.
ECKHARD MEYER-ZWIFFELHOFFER: Imperium Romanum. Geschichte der römischen Provinzen. C. H. Beck, München 2009. 128 Seiten, 7,90 Euro.
HANS DIETER STÖVER: Der Sieg über Varus. Die Germanen gegen die Weltmacht Rom. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 399 S., 14,90 Euro.
Nach der Varusschlacht folgten Jahre germanischer Guerillataktik
Die Germanen entzogen sich einer Kultivierung durch ihre Besatzer
Diese Sonderbriefmarke wird vom 4. Juni an von der Deutschen Post ausgegeben. Foto: AP
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Thomas Speckmann hat aus Boris Dreyers Buch "Arminius und der Untergang des Varus", das er im Rahmen einer Sammelrezension von Publikationen über die Schlacht im Teutoburger Wald vor 2000 Jahren kurz bespricht, eine Menge über den Cheruskerfürsten gelernt. Wie er berichtet, hatte Arminius eine stolze "Karriere" im römischen Dienst vorzuweisen, befehligte als "praefectus" eine Cherusker-Kohorte und bekämpfte auf römischer Seite noch bis zum Jahr 8 n. Chr. den Aufstand der Pannonier, ehe er die Seiten wechselte. Deutlich wird für ihn auch, dass sich Arminius das in der römischen Armee erworbene Wissen im Kampf gegen Varus sowie in der Abwehr der römischen Rachefeldzüge gut gebrauchen konnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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