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Produktdetails
  • Verlag: Campus
  • ISBN-13: 9783593388670
  • ISBN-10: 3593388677
  • Artikelnr.: 25670830
Autorenporträt
Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft an der Mai 2009 Universität Köln. Er ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema Kinderarmut, Rechtsextremismus und Neoliberalismus sowie viel gefragter Experte auf Diskussionsveranstaltungen und in den Medien.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.09.2009

Frivoles Spiel mit der Armut
Das Thema wurde jahrzehntelang schlicht ignoriert
Armut ist „ein mehrdeutiger, missverständlicher sowie moralisch und emotional aufgeladener Terminus”. Darin ist dem Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge ebenso zuzustimmen wie dem Befund, dass es keine objektive – von Ort und Zeit unabhängige – Definition gibt. Armut ist eine Zuschreibung oder Selbstzuschreibung, aber auf jeden Fall ein gesellschaftliches Konstrukt. Jede quantitative Festlegung, wo sie beginnt oder aufhört, ist willkürlich. Hierzulande gilt als arm, wer über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens verfügt. Zweierlei verweist auf die Willkür, die dabei im Spiel ist. Erstens: Je nachdem, wie man dieses Durchschnittseinkommen berechnet, kommt man für 2005 auf 938 Euro monatlich, für 2008 dagegen auf 781 Euro. Zweitens: Wichtiger als solche Zahlen ist die Einsicht, wie Butterwegge überzeugend darlegt, dass Armut nicht in Geld allein messbar ist, sondern viele Facetten hat. Vor allem ist Armut prinzipiell relativ. Armut ist ein Indikator für soziale Ungleichheit und ohne Umverteilung nicht aufzuheben.
Mit der Relativität der Armut wird oft ein frivoles ideologisches Kalkül angestellt – mit schiefen Vergleichen. So heißt es an Stammtischen ebenso wie in der konservativen Publizistik, verglichen mit den meisten Menschen in Afrika sei hierzulande niemand arm. „Kaum jemand, der sich in Deutschland legal aufhält, ist arm” – so Hans Werner Sinn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.
Zwischen 1950 und 1970 beschäftigte sich die Sozialwissenschaft kaum mit der Armut und den Armen, sondern beruhigte sich mit dem Begriff einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft”, den der Soziologe Helmut Schelsky 1953 lanciert hatte. Die Studie Ralf Dahrendorfs über „Soziale Klassen und Klassenkonflikt” (1957) ist ein Solitär, weil der Autor – gegen die wissenschaftlichen und die politischen Eliten – daran festhielt, dass weder Klassen noch Armut verschwunden seien. Die wirtschaftliche Rezession von 1966/67 und die Protestbewegung von 1968 brachten das Thema Armut in der Wissenschaft wie in der Politik wieder auf die Tagesordnung. Aber erst durch die Ölpreiskrise von 1973 und die Rezession von 1980-1982 wurde die Mehrheit der Westdeutschen aus „ihrem Traum immerwährender Prosperität gerissen” (Burkart Lutz).
Mit der „Wiederentdeckung” der Armut begann die Suche nach den Ursachen. Viele machten den Sozialstaat und überzogene Sozialleistungen für die wirtschaftliche Krise verantwortlich. Mit der Forderung nach Einschnitten ins soziale Netz begann Mitte der 70er Jahre ein „dreißigjähriger Feldzug gegen den Sozialstaat” (Friedhelm Hengsbach). Das Lambsdorff-Papier von 1982 – „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit” – leitete nicht nur das Ende der sozial-liberalen Koalition ein, sondern auch die Hegemonie des Neoliberalismus in der Sozial- und Wirtschaftswissenschaft wie in der öffentlichen Meinung.
In der Ära Kohl waren es nur die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände und die Gewerkschaften, die auf steigende Armutsquoten und damit verbundene Probleme (Kinderarmut, Bildungsarmut, Armut alleinerziehender Frauen usw.) hinwiesen, während die Regierungen das Thema mit dem Verweis auf die Sozialhilfe mehr oder weniger für gelöst erklärten. Jährlich wachsende Zahlen von Sozialhilfeempfängern galten nicht als Indiz für Armut, sondern wurden zum Beleg für den funktionierenden Sozialstaat umfrisiert.
2001 stellte sich Rot-Grün der Frage und veröffentlichte einen umfangreichen „Armuts- und Reichtumsbericht”. Hier wurde erstmals offiziell eingeräumt, „dass es Armut hierzulande gibt und zumindest im Titel gleichzeitig ein Zusammenhang mit dem Reichtum hergestellt” (Butterwegge). Nach der Bundestagswahl 2002 begab sich jedoch auch diese Regierung mit ihrer Agenda 2010 und mit dem Hartz-Paket auf den Weg der Umwandlung von Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik in Armutspolitik – also Politik auf Kosten der Armen. Die „Gesellschaft des Weniger” (Ulrich Beck) bescherte dem Land 1,4 Millionen Hartz-IV-Empfänger – mit Familienangehörigen 3,1 Millionen –, den Gesichts- und Profilverlust der SPD und die Entstehung der Linkspartei.
Butterwegges Studie besticht durch analytische Klarheit und präzise politische Urteile. Wer sich über alle Aspekte von Armut informieren möchte, kommt an ihr nicht vorbei. RUDOLF WALTHER
CHRISTOPH BUTTERWEGGE: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird. Campus Verlag, Frankfurt 2009. 400 S., 24,90 Euro.
In der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft”sollte es eigentlich keine Armut mehr geben. Die Realität ist eine andere. Foto: dpa
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dass Armut viele Facetten hat und sich einer eindeutigen Definition widersetzt, erfährt Rudolf Walther einmal mehr aus dieser, wie er findet, analytisch klaren und von präzisen politischen Urteilen geprägten Studie des Sozialwissenschaftlers Christoph Butterwegge. Die Erkenntnis der Relativität von Armut, das Wissen, dass Armut nicht in Geld allein messbar ist, legt ihm der Autor "überzeugend" dar. Ebenso den Wandel des politischen Verständnisses von Armut. Ein Buch, meint Walther, an dem niemand vorbeikommt, der sich umfassend über das Thema informieren möchte.

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