Die USA sind das reichste Land der Welt - und doch gibt es hier mehr Armut als in jeder anderen fortgeschrittenen Demokratie: Würden die Betroffenen einen eigenen Staat gründen, hätte dieser eine größere Bevölkerung als Australien oder Venezuela. Warum klaffen gerade hier, wo doch alle Mittel vorhanden sein sollten, Reich und Arm, Anspruch und Realität so drastisch auseinander?
Der Soziologe und Pulitzer-Preisträger Matthew Desmond zeigt eine bittere Wahrheit, die weit über die USA hinausweist und ins Innerste der kapitalistischen Gesellschaften zielt: Dass Millionen von Menschen in Armut leben, ist nicht etwa eine strukturelle Zwangsläufigkeit oder das Ergebnis je individuellen Fehlverhaltens - Armut existiert und besteht fort, weil es Menschen gibt, die davon profitieren. Doch nicht nur Konzerne und Kapitalgesellschaften, sämtliche Wohlhabenden tragen, wissend oder unwissend, zur Aufrechterhaltung der Missstände bei. Was politische Mythen, Profitinteressen, aber auchtägliche Konsumentscheidungen damit zu tun haben - das wurde selten so schonungslos aufgezeigt. Eine wütende Anklage und ein entschiedenes Plädoyer: Die Armut, dieses himmelschreiende Unrecht, muss nichts weniger als endlich abgeschafft werden.
Der Soziologe und Pulitzer-Preisträger Matthew Desmond zeigt eine bittere Wahrheit, die weit über die USA hinausweist und ins Innerste der kapitalistischen Gesellschaften zielt: Dass Millionen von Menschen in Armut leben, ist nicht etwa eine strukturelle Zwangsläufigkeit oder das Ergebnis je individuellen Fehlverhaltens - Armut existiert und besteht fort, weil es Menschen gibt, die davon profitieren. Doch nicht nur Konzerne und Kapitalgesellschaften, sämtliche Wohlhabenden tragen, wissend oder unwissend, zur Aufrechterhaltung der Missstände bei. Was politische Mythen, Profitinteressen, aber auchtägliche Konsumentscheidungen damit zu tun haben - das wurde selten so schonungslos aufgezeigt. Eine wütende Anklage und ein entschiedenes Plädoyer: Die Armut, dieses himmelschreiende Unrecht, muss nichts weniger als endlich abgeschafft werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Lektüre dieses Buches lohnt sich, findet Rezensent Harald Eggebrecht, allerdings tut sie das nur für Leser, die sich Zeit nehmen. Denn Waubgeshig Rice beschreibt und erzählt äußerst präzise und geduldig, Schritt für Schritt begleitet der Roman, erfahren wir, eine Gruppe indigener Anishinaabe, die in ein ehemaliges Reservat in Ontario zurückkehren, das sie nach einem katastrophalen Stromausfall Jahre zuvor verlassen hatten. Sie sollen herausfinden, ob die Gegend wieder besiedelt werden kann. Weniger die Erzählung, als die Sprache steht hier im Zentrum, meint Eggebrecht, der Schreibfluss passt sich der behutsamen Geschwindigkeit er Reisegruppe an. Die Genauigkeit, mit der Rice operiert, erinnert Eggebrecht an James Fenimore Cooper oder Adalbert Stifter, und wie bei diesen geht es letztlich darum, aus der Beschreibung Erkenntnis zu gewinnen. Wer sich eben darauf einlässt, der kann, glaubt der Rezensent, mit dem Buch ein erstaunliches Abenteuer nachvollziehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Augenöffnend, informativ, klug und sachlich, mit einer Fülle an Daten und Fakten ... Eine wahnsinnig wichtige Lektüre auch hier in Deutschland. Deutschlandfunk Kultur "Lesart" 20240514
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2024Ein System, sie zu knechten
In seinem neuen Buch zeigt Matthew Desmond, wie Reichtum und Armut in den USA einander bedingen
Die Vereinigten Staaten gehören zu den Ländern, in denen es sich als reicher Mensch ausgesprochen angenehm leben lässt. Für arme Menschen gilt das Gegenteil. Das liegt einerseits daran, dass im Land des Überflusses arm sein besonders schmerzhaft ist. Aber auch - das ist zumindest die These des jüngst erschienenen Buches "Armut. Eine amerikanische Katastrophe" von Matthew Desmond -, weil Nicht-Arme davon profitieren, dass Millionen andere in Armut leben.
Matthew Desmond ist Soziologe, Pulitzerpreisträger und Aktivist. Er ist selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen und forscht seit Jahren zu Armut in den Vereinigten Staaten. In seinem Buch gehe es nicht nur um die Armen, schreibt er zu Beginn. "Es geht vielmehr darum, wie die andere 'andere Hälfte' lebt, und darum, wie einige Menschen kleingehalten werden, damit sich andere entfalten können." Desmonds Buch ist ein Sachbuch, ja. Aber vor allem ist es Anklage und Plädoyer. Desmond klagt die "unverständliche und unverschämte Ungleichheit" in den Vereinigten Staaten an und fordert, dass "jeder von uns zum Armutsbekämpfer wird". Sein Buch lässt er mit den Worten enden: "Es reicht nicht aus, wenn wir dieses Problem [die Armut, Anm. d. Red.] nur verstehen. Wir müssen es beseitigen."
Doch wie ließe sich Armut beseitigen? Desmond meint: Indem wir - er spricht immer von "wir", wenn er vom begüterteren Teil der amerikanischen Bevölkerung spricht - die Axt an jenes System anlegen, das die Armen arm hält und jene, die nicht arm sind, zum "unbewussten Feind der Armen" macht. So verweist Desmond auf die Ausbeutung auf dem Arbeits-, dem Wohnungs- und dem Geldmarkt. Er erwähnt Hausbesitzer, die ein Vermögen damit verdienen, verwahrloste Wohnungen an arme Familien zu vermieten. Banken, die mit Überziehungsgebühren einen "steten Strom an Einnahmen" generierten. Und Unternehmen, die dank des technisches Fortschritts ihre Mitarbeiter zu mehr Effizienz zwingen könnten, während sie immer mehr Verantwortung auf sie abwälzten. Beispiel Uber: Die Fahrer stellen ihr eigenes Auto zur Verfügung, tanken auf eigene Kosten und müssen sich selbst versichern.
"Sozialer Aufstieg gehört nicht mehr zum amerikanischen Alltag, heute sehen viel zu viele junge Menschen einer ungewissen Zukunft entgegen", klagt Desmond. Für ihn sind die Vereinigten Staaten ein "Sozialstaat für die Reichen". Dieser sei wichtiger als die Bekämpfung von Armut. "Die Vereinigten Staaten könnten die Armut morgen beenden, und zwar ohne neue Schulden zu machen, wenn sie konsequent gegen Steuervermeidung vorgehen und die so eingenommenen Summen an die weiterleiten würden, die sie am dringendsten benötigen." Desmond zitiert eine Schätzung des Finanzamtes, der zufolge dem amerikanischen Staat rund eine Billion Dollar pro Jahr aufgrund Steuervermeidung durch die Lappen geht.
An dieser Stelle wäre es leicht für den Leser, die Schuld bei skrupellosen Unternehmen, gewissenlosen Politikern oder bösen Vermieter zu suchen. Es ist das Verdienst des Buches, diese Ausrede nicht gelten zu lassen. Immer wieder betont Desmond: Alle sind "Nutznießer der Ausbeutung". Ein Beispiel: "Per Handy bestellen wir Taxis, Lebensmittel, Pizza oder Handwerker, alles zu Kampfpreisen. Wir sind die Herren dieser neuen Bedienstetenwirtschaft mit ihren anonymen und unterbezahlten Knechten, die rund um die Uhr für uns bereitstehen."
Doch wenn alle von der Armut profitieren, wieso sollten sie dann für deren Abschaffung eintreten? Oder anders gefragt: Sind Desmonds Theorien im Kern zwar nachvollziehbar, aber eben doch auch sehr naiv - insbesondere in dem so tief gespaltenen Amerika? Nicht unbedingt, findet er. "Ein Amerika ohne Armut wäre weder eine Utopie noch ein Land der grauen Uniformität", schreibt er. Vielmehr würden alle von der Abschaffung der Armut profitieren. "Das Ende der Armut würde den breiten Wohlstand mehren." Und ohne Armut, so seine Argumentation, wären die Vereinigten Staaten freier. "Eine Nation, die sich zu einer Beseitigung der Armut bekennt, ist eine Nation, die sich wahrhaft zur Freiheit bekennt."
Desmond setzt auf den Druck von Bewegungen. Das "Washington", das die Rassendiskriminierung abgeschafft und Gesetze zum Ausbau von Krankenversicherung, Sozialstaat und Bildung ausgebaut habe, sei genauso dysfunktional gewesen wie das "Washington" heute. "Trotzdem fanden gewöhnliche Bürger Möglichkeiten, ihre Vorstellungen durchzusetzen."
Dass das auch heute gelingen könnte, daran hat zumindest Desmond keinen Zweifel. Er teilt eine Beobachtung: Im November 2020 demonstrierte eine Gruppe vorwiegend Schwarzer und Latinos in Albany, der Hauptstadt des Bundesstaates New York, für einen Mindestlohn von 15 Dollar in der Gastronomie. Auf einmal tauchte eine Gruppe von Weißen mit "Make America Great Again"-Kappen auf. Sie wollten gegen den Wahlsieg Joe Bidens demonstrieren. Als sie hörten, dass die Arbeiter für höhere Löhne demonstrierten, schüttelten sie ihnen die Hände. Und schlossen sich den Protesten an. TATJANA HEID
Matthew Desmond: Armut. Eine amerikanische Katastrophe.
Rowohlt Polaris Verlag, Hamburg 2024. 304 S., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
In seinem neuen Buch zeigt Matthew Desmond, wie Reichtum und Armut in den USA einander bedingen
Die Vereinigten Staaten gehören zu den Ländern, in denen es sich als reicher Mensch ausgesprochen angenehm leben lässt. Für arme Menschen gilt das Gegenteil. Das liegt einerseits daran, dass im Land des Überflusses arm sein besonders schmerzhaft ist. Aber auch - das ist zumindest die These des jüngst erschienenen Buches "Armut. Eine amerikanische Katastrophe" von Matthew Desmond -, weil Nicht-Arme davon profitieren, dass Millionen andere in Armut leben.
Matthew Desmond ist Soziologe, Pulitzerpreisträger und Aktivist. Er ist selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen und forscht seit Jahren zu Armut in den Vereinigten Staaten. In seinem Buch gehe es nicht nur um die Armen, schreibt er zu Beginn. "Es geht vielmehr darum, wie die andere 'andere Hälfte' lebt, und darum, wie einige Menschen kleingehalten werden, damit sich andere entfalten können." Desmonds Buch ist ein Sachbuch, ja. Aber vor allem ist es Anklage und Plädoyer. Desmond klagt die "unverständliche und unverschämte Ungleichheit" in den Vereinigten Staaten an und fordert, dass "jeder von uns zum Armutsbekämpfer wird". Sein Buch lässt er mit den Worten enden: "Es reicht nicht aus, wenn wir dieses Problem [die Armut, Anm. d. Red.] nur verstehen. Wir müssen es beseitigen."
Doch wie ließe sich Armut beseitigen? Desmond meint: Indem wir - er spricht immer von "wir", wenn er vom begüterteren Teil der amerikanischen Bevölkerung spricht - die Axt an jenes System anlegen, das die Armen arm hält und jene, die nicht arm sind, zum "unbewussten Feind der Armen" macht. So verweist Desmond auf die Ausbeutung auf dem Arbeits-, dem Wohnungs- und dem Geldmarkt. Er erwähnt Hausbesitzer, die ein Vermögen damit verdienen, verwahrloste Wohnungen an arme Familien zu vermieten. Banken, die mit Überziehungsgebühren einen "steten Strom an Einnahmen" generierten. Und Unternehmen, die dank des technisches Fortschritts ihre Mitarbeiter zu mehr Effizienz zwingen könnten, während sie immer mehr Verantwortung auf sie abwälzten. Beispiel Uber: Die Fahrer stellen ihr eigenes Auto zur Verfügung, tanken auf eigene Kosten und müssen sich selbst versichern.
"Sozialer Aufstieg gehört nicht mehr zum amerikanischen Alltag, heute sehen viel zu viele junge Menschen einer ungewissen Zukunft entgegen", klagt Desmond. Für ihn sind die Vereinigten Staaten ein "Sozialstaat für die Reichen". Dieser sei wichtiger als die Bekämpfung von Armut. "Die Vereinigten Staaten könnten die Armut morgen beenden, und zwar ohne neue Schulden zu machen, wenn sie konsequent gegen Steuervermeidung vorgehen und die so eingenommenen Summen an die weiterleiten würden, die sie am dringendsten benötigen." Desmond zitiert eine Schätzung des Finanzamtes, der zufolge dem amerikanischen Staat rund eine Billion Dollar pro Jahr aufgrund Steuervermeidung durch die Lappen geht.
An dieser Stelle wäre es leicht für den Leser, die Schuld bei skrupellosen Unternehmen, gewissenlosen Politikern oder bösen Vermieter zu suchen. Es ist das Verdienst des Buches, diese Ausrede nicht gelten zu lassen. Immer wieder betont Desmond: Alle sind "Nutznießer der Ausbeutung". Ein Beispiel: "Per Handy bestellen wir Taxis, Lebensmittel, Pizza oder Handwerker, alles zu Kampfpreisen. Wir sind die Herren dieser neuen Bedienstetenwirtschaft mit ihren anonymen und unterbezahlten Knechten, die rund um die Uhr für uns bereitstehen."
Doch wenn alle von der Armut profitieren, wieso sollten sie dann für deren Abschaffung eintreten? Oder anders gefragt: Sind Desmonds Theorien im Kern zwar nachvollziehbar, aber eben doch auch sehr naiv - insbesondere in dem so tief gespaltenen Amerika? Nicht unbedingt, findet er. "Ein Amerika ohne Armut wäre weder eine Utopie noch ein Land der grauen Uniformität", schreibt er. Vielmehr würden alle von der Abschaffung der Armut profitieren. "Das Ende der Armut würde den breiten Wohlstand mehren." Und ohne Armut, so seine Argumentation, wären die Vereinigten Staaten freier. "Eine Nation, die sich zu einer Beseitigung der Armut bekennt, ist eine Nation, die sich wahrhaft zur Freiheit bekennt."
Desmond setzt auf den Druck von Bewegungen. Das "Washington", das die Rassendiskriminierung abgeschafft und Gesetze zum Ausbau von Krankenversicherung, Sozialstaat und Bildung ausgebaut habe, sei genauso dysfunktional gewesen wie das "Washington" heute. "Trotzdem fanden gewöhnliche Bürger Möglichkeiten, ihre Vorstellungen durchzusetzen."
Dass das auch heute gelingen könnte, daran hat zumindest Desmond keinen Zweifel. Er teilt eine Beobachtung: Im November 2020 demonstrierte eine Gruppe vorwiegend Schwarzer und Latinos in Albany, der Hauptstadt des Bundesstaates New York, für einen Mindestlohn von 15 Dollar in der Gastronomie. Auf einmal tauchte eine Gruppe von Weißen mit "Make America Great Again"-Kappen auf. Sie wollten gegen den Wahlsieg Joe Bidens demonstrieren. Als sie hörten, dass die Arbeiter für höhere Löhne demonstrierten, schüttelten sie ihnen die Hände. Und schlossen sich den Protesten an. TATJANA HEID
Matthew Desmond: Armut. Eine amerikanische Katastrophe.
Rowohlt Polaris Verlag, Hamburg 2024. 304 S., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.