Neben seinen großen Romanen erkundet Christoph Ransmayr in einer losen Reihe von in Leinen gebundenen Bändchen »Spielformen des Erzählens«.
Christoph Ransmayr verwandelt Erinnerungen in Erzählungen und bedankt sich mit diesen Geschichten für die Auszeichnungen nach seinem großen Erfolg »Cox oder Der Lauf der Zeit«. Wir erleben den Schriftsteller in drei Reden sehr persönlich, fast privat. Zugleich bezieht er vehement Stellung gegen Barbarei, Populismus und Ignoranz. In »Arznei gegen die Sterblichkeit« fügt er seiner Reihe »Unterwegs nach Babylon«, nach der Bildergeschichte, der Tirade, dem Duett und vielen anderen, die Danksagung als eine weitere Spielform des Erzählens hinzu.
Ein Junge schlägt den Fußball aus dem Morast eines Spielfeldes und schießt ein fatales Eigentor. Ein Mädchen im gelben Kleid schleppt einen schweren Wasserkanister durch eine afrikanische Einöde. Ein Vater kämpft verzweifelt um die Wiederherstellung seiner Ehre.
Christoph Ransmayr verwandelt Erinnerungen in Erzählungen und bedankt sich mit diesen Geschichten für die Auszeichnungen nach seinem großen Erfolg »Cox oder Der Lauf der Zeit«. Wir erleben den Schriftsteller in drei Reden sehr persönlich, fast privat. Zugleich bezieht er vehement Stellung gegen Barbarei, Populismus und Ignoranz. In »Arznei gegen die Sterblichkeit« fügt er seiner Reihe »Unterwegs nach Babylon«, nach der Bildergeschichte, der Tirade, dem Duett und vielen anderen, die Danksagung als eine weitere Spielform des Erzählens hinzu.
Ein Junge schlägt den Fußball aus dem Morast eines Spielfeldes und schießt ein fatales Eigentor. Ein Mädchen im gelben Kleid schleppt einen schweren Wasserkanister durch eine afrikanische Einöde. Ein Vater kämpft verzweifelt um die Wiederherstellung seiner Ehre.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.02.2020Das scheinbar Fernste in der Nähe
Qualitäten eines Narbenmannes: Christoph Ransmayr sucht Gerechtigkeit für die Vergangenheit.
Alle vier kurzen Texte dieses schmalen Bandes haben einen verspiegelten doppelten Boden. Drei von ihnen sind Reden, die der Wiener Schriftsteller Christoph Ransmayr hielt, als er Preise entgegennahm: 2018 den Würth-Preis für Europäische Literatur, 2017 den Marieluise-Fleißer-Preis sowie 2018 den Kleist-Preis. In jeder dieser Reden erzählt Ransmayr eine sehr persönliche Geschichte, welche er zum Anlass nimmt, über das Erzählen als menschliche Fähigkeit und deren Notwendigkeit reflektieren.
Der passionierte Entdecker und emphatische Beobachter des Fremden berichtet von einem "Mädchen im gelben Kleid" (zuerst erschienen in dieser Zeitung, F.A.Z. vom 25. Juni 2018), das ihm als Reisendem in Ostafrika begegnet. Er bettet sie in eine historische Landschaft ein, in welcher der europäische Auftritt auf diesem Kontinent in Eroberung, Ausbeutung, Sklaverei und Völkermord gipfelte. Das Mädchen schleppt Wasser; dem Kind auf der Straße durch das Nichts lastet der Kanister schwer, während parallel dicke Rohre ausländischer Unternehmen Wasser auf Plantagen pumpen. Immer noch geschieht hier Ausbeutung, die Rechnungen für die europäischen Raubzüge sind nach wie vor unbezahlt, und den Plünderern wurden Monumente erschaffen. Ransmayr nimmt diese Begegnung auf seinem Weg ins Ruwenzori-Gebirge zum Anlass, in einem langen Absatz die politisch-moralische Aufgabe zu formulieren, die dem Erzähler zufällt: Literatur soll eine Basis für das Verständnis des Fremden schaffen, sie soll von Sehnsüchten und Leiden der anderen berichten und damit "gelegentlich Brücken schlagen zwischen der nächsten Nähe und dem scheinbar Fernsten, dem Vertrauten und dem Rätselhaften und, ja, auch zwischen dem eigenen Reichtum und dem Elend, das diesen Reichtum erst möglich werden ließ". Es gehört zur Meisterschaft Ransmayrs, dass auch in dieser kurzen Geschichte beide Aspekte poetisch verschränkt sind, der Schrecken benannt wird und zugleich im letzten Satz die Hoffnung auf Menschlichkeit und Gerechtigkeit nachklingt. Man hat den Eindruck, dass gerade das weltzugewandte Reisen beim Autor Ransmayr diesen emphatischen Pendelblick verfeinert hat.
Das Zentrum einer autobiographischen Schilderung aus Jugendtagen bildet ein ransmayrsches Eigentor auf dem Fußballplatz. "Eine Zierde für den Verein", echauffierte sich daraufhin sein schimpfender Trainer, und der jahrzehntelang nachhallende Satz wird Titel der Erzählung und ist Anlass, den stilistischen Wurzeln des eigenen Schreibens nachzugehen. Denn der zornige Dorfpatriarch-Trainer zitierte, was dem jungen Kicker zunächst unbekannt blieb, einen Romantitel von Marieluise Fleißer. Dessen Lektüre ermöglicht Ransmayr, nachdem er das Buch Fleißers entdeckt hat, nicht nur das Sportdrama neu zu interpretieren. Es beflügelte ihn zudem, sich anstelle von Gedichten in Erzählungen zu versuchen. Denn Prosa konnte offenbar auch lyrisch sein, lehrte ihn die Dichterin.
Ein literarisches Denkmal setzt Ransmayr in "An der Bahre eines freien Mannes" (auch zuerst in dieser Zeitung, F.A.Z. vom 28. Dezember 2018) seinem Vater, den er zu Beginn des Texts mit den schweren Worten vorstellt, dieser sei Michael Kohlhaas gewesen. Denn wie die kleistsche Figur wird sein Vater zu Unrecht beschuldigt, angeklagt und zunächst verurteilt.
Karl Richard Ransmayr war ein uneheliches Kind, das in ländlicher Enge aufwächst und Kraft aus seiner Begabung schöpft. Trotz Gefühlen von Gehorsam und Dankbarkeit entzieht er sich dem Angebot, auf eine NS-Eliteschule zu gehen, und auch später schlägt er eine Offizierslaufbahn aus: "Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden", antwortet er sehr viel später auf die Frage seines Sohnes. Christoph Ransmayr schildert seinen Vater als fürsorglichen Mitbürger und Amtsträger, den der Schuldvorwurf so in seinem Gerechtigkeitsgefühl kränkt, dass er auch nach dessen Entkräftung durch das Berufungsgericht nicht mehr unter jenen denunziatorischen Mitbürgern leben mag. Als auch noch die Frau, die ihm zur Seite gestanden hat, stirbt, zieht der tief Verletzte fort. Den historischen Kontext dieser Lebensgeschichte bilden Nationalsozialismus, Kriegsgefangenschaft und Rückkehr. Der Aufbau einer bürgerlichen Existenz reicht bis zum Aufstieg als stellvertretender Bürgermeister, in die schließlich das juristische Unheil in Form von Anklageschriften und eines Haftbefehls einbricht.
Das "Drama seines Untergangs" endet erst mit seinem Tod auf der Wartebank einer Bushaltestelle, den der Sohn als Befreiung erzählt. Darin, so der Schriftsteller, seien sich alle vier Personen über Zeiten und Epochen verbunden: Kleist und dessen Kohlhaas, der Vater Ransmayr und dessen erzählender Sohn. Denn Erzählungen verbinden Gesagtes und Gefühle nicht nur bei Liebenden, sondern verbinden auch "die Verzweifelten, die Elenden und Enttäuschten".
Alle drei Geschichten sind moralische Geschichten, und sie berühren den Leser menschlich wie intellektuell, weil erst die Präsenz des Erzählers Sinn stiften und jenen Enttäuschten Gerechtigkeit anbieten kann. Die Verschränkung von Erzählung und Erzähltheorie bildet auch das Leitmotiv im bislang unpublizierten Eröffnungsbeitrag, dem der Titel des Bandes entspringt: "Arznei gegen die Sterblichkeit". Hier schildert Ransmayr einen schamanischen Erzähler in prähistorischer Zeit. Der Narbenmann ist zum Jagen ungeeignet (Dienstunfall), aber sein Clan hat ihn nicht verstoßen, und nun gibt er der Gemeinschaft und den Individuen Sinn, indem er sie in seine Erzählungen aufnimmt. Von hier überführt Ransmayr uns Leser in einem schnellen Schnitt in die europäische Gegenwart und lässt uns bei einer Preisverleihung an einen Schriftsteller in einem unbenannten Rathaus teilnehmen: Lobreden, Streichquintett, Urkunde und nicht zuletzt auch ein Scheck bilden die typisierten Requisiten des Rituals im Kulturbetrieb. Der Geehrte ist - natürlich keine Überraschung - der Narbenmann.
Ransmayr, der Weitgereiste, bewegt sich als Erzähler frei durch die Zeit. Als Wiedergänger des Narbenmanns steht er halb außerhalb des Clans, halb ist er die Zentralfigur, die der Gemeinschaft erst metaphysischen Sinn stiftet. In eine Erzählung aufgenommen zu werden verleiht dem sterblichen Wesen Mensch Glauben an seine Unvergänglichkeit.
MILOS VEC
Christoph Ransmayr:
"Arznei gegen die
Sterblichkeit". Drei
Geschichten zum Dank.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019, 64 S., geb., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Qualitäten eines Narbenmannes: Christoph Ransmayr sucht Gerechtigkeit für die Vergangenheit.
Alle vier kurzen Texte dieses schmalen Bandes haben einen verspiegelten doppelten Boden. Drei von ihnen sind Reden, die der Wiener Schriftsteller Christoph Ransmayr hielt, als er Preise entgegennahm: 2018 den Würth-Preis für Europäische Literatur, 2017 den Marieluise-Fleißer-Preis sowie 2018 den Kleist-Preis. In jeder dieser Reden erzählt Ransmayr eine sehr persönliche Geschichte, welche er zum Anlass nimmt, über das Erzählen als menschliche Fähigkeit und deren Notwendigkeit reflektieren.
Der passionierte Entdecker und emphatische Beobachter des Fremden berichtet von einem "Mädchen im gelben Kleid" (zuerst erschienen in dieser Zeitung, F.A.Z. vom 25. Juni 2018), das ihm als Reisendem in Ostafrika begegnet. Er bettet sie in eine historische Landschaft ein, in welcher der europäische Auftritt auf diesem Kontinent in Eroberung, Ausbeutung, Sklaverei und Völkermord gipfelte. Das Mädchen schleppt Wasser; dem Kind auf der Straße durch das Nichts lastet der Kanister schwer, während parallel dicke Rohre ausländischer Unternehmen Wasser auf Plantagen pumpen. Immer noch geschieht hier Ausbeutung, die Rechnungen für die europäischen Raubzüge sind nach wie vor unbezahlt, und den Plünderern wurden Monumente erschaffen. Ransmayr nimmt diese Begegnung auf seinem Weg ins Ruwenzori-Gebirge zum Anlass, in einem langen Absatz die politisch-moralische Aufgabe zu formulieren, die dem Erzähler zufällt: Literatur soll eine Basis für das Verständnis des Fremden schaffen, sie soll von Sehnsüchten und Leiden der anderen berichten und damit "gelegentlich Brücken schlagen zwischen der nächsten Nähe und dem scheinbar Fernsten, dem Vertrauten und dem Rätselhaften und, ja, auch zwischen dem eigenen Reichtum und dem Elend, das diesen Reichtum erst möglich werden ließ". Es gehört zur Meisterschaft Ransmayrs, dass auch in dieser kurzen Geschichte beide Aspekte poetisch verschränkt sind, der Schrecken benannt wird und zugleich im letzten Satz die Hoffnung auf Menschlichkeit und Gerechtigkeit nachklingt. Man hat den Eindruck, dass gerade das weltzugewandte Reisen beim Autor Ransmayr diesen emphatischen Pendelblick verfeinert hat.
Das Zentrum einer autobiographischen Schilderung aus Jugendtagen bildet ein ransmayrsches Eigentor auf dem Fußballplatz. "Eine Zierde für den Verein", echauffierte sich daraufhin sein schimpfender Trainer, und der jahrzehntelang nachhallende Satz wird Titel der Erzählung und ist Anlass, den stilistischen Wurzeln des eigenen Schreibens nachzugehen. Denn der zornige Dorfpatriarch-Trainer zitierte, was dem jungen Kicker zunächst unbekannt blieb, einen Romantitel von Marieluise Fleißer. Dessen Lektüre ermöglicht Ransmayr, nachdem er das Buch Fleißers entdeckt hat, nicht nur das Sportdrama neu zu interpretieren. Es beflügelte ihn zudem, sich anstelle von Gedichten in Erzählungen zu versuchen. Denn Prosa konnte offenbar auch lyrisch sein, lehrte ihn die Dichterin.
Ein literarisches Denkmal setzt Ransmayr in "An der Bahre eines freien Mannes" (auch zuerst in dieser Zeitung, F.A.Z. vom 28. Dezember 2018) seinem Vater, den er zu Beginn des Texts mit den schweren Worten vorstellt, dieser sei Michael Kohlhaas gewesen. Denn wie die kleistsche Figur wird sein Vater zu Unrecht beschuldigt, angeklagt und zunächst verurteilt.
Karl Richard Ransmayr war ein uneheliches Kind, das in ländlicher Enge aufwächst und Kraft aus seiner Begabung schöpft. Trotz Gefühlen von Gehorsam und Dankbarkeit entzieht er sich dem Angebot, auf eine NS-Eliteschule zu gehen, und auch später schlägt er eine Offizierslaufbahn aus: "Ich wollte unter diesen Leuten nichts werden", antwortet er sehr viel später auf die Frage seines Sohnes. Christoph Ransmayr schildert seinen Vater als fürsorglichen Mitbürger und Amtsträger, den der Schuldvorwurf so in seinem Gerechtigkeitsgefühl kränkt, dass er auch nach dessen Entkräftung durch das Berufungsgericht nicht mehr unter jenen denunziatorischen Mitbürgern leben mag. Als auch noch die Frau, die ihm zur Seite gestanden hat, stirbt, zieht der tief Verletzte fort. Den historischen Kontext dieser Lebensgeschichte bilden Nationalsozialismus, Kriegsgefangenschaft und Rückkehr. Der Aufbau einer bürgerlichen Existenz reicht bis zum Aufstieg als stellvertretender Bürgermeister, in die schließlich das juristische Unheil in Form von Anklageschriften und eines Haftbefehls einbricht.
Das "Drama seines Untergangs" endet erst mit seinem Tod auf der Wartebank einer Bushaltestelle, den der Sohn als Befreiung erzählt. Darin, so der Schriftsteller, seien sich alle vier Personen über Zeiten und Epochen verbunden: Kleist und dessen Kohlhaas, der Vater Ransmayr und dessen erzählender Sohn. Denn Erzählungen verbinden Gesagtes und Gefühle nicht nur bei Liebenden, sondern verbinden auch "die Verzweifelten, die Elenden und Enttäuschten".
Alle drei Geschichten sind moralische Geschichten, und sie berühren den Leser menschlich wie intellektuell, weil erst die Präsenz des Erzählers Sinn stiften und jenen Enttäuschten Gerechtigkeit anbieten kann. Die Verschränkung von Erzählung und Erzähltheorie bildet auch das Leitmotiv im bislang unpublizierten Eröffnungsbeitrag, dem der Titel des Bandes entspringt: "Arznei gegen die Sterblichkeit". Hier schildert Ransmayr einen schamanischen Erzähler in prähistorischer Zeit. Der Narbenmann ist zum Jagen ungeeignet (Dienstunfall), aber sein Clan hat ihn nicht verstoßen, und nun gibt er der Gemeinschaft und den Individuen Sinn, indem er sie in seine Erzählungen aufnimmt. Von hier überführt Ransmayr uns Leser in einem schnellen Schnitt in die europäische Gegenwart und lässt uns bei einer Preisverleihung an einen Schriftsteller in einem unbenannten Rathaus teilnehmen: Lobreden, Streichquintett, Urkunde und nicht zuletzt auch ein Scheck bilden die typisierten Requisiten des Rituals im Kulturbetrieb. Der Geehrte ist - natürlich keine Überraschung - der Narbenmann.
Ransmayr, der Weitgereiste, bewegt sich als Erzähler frei durch die Zeit. Als Wiedergänger des Narbenmanns steht er halb außerhalb des Clans, halb ist er die Zentralfigur, die der Gemeinschaft erst metaphysischen Sinn stiftet. In eine Erzählung aufgenommen zu werden verleiht dem sterblichen Wesen Mensch Glauben an seine Unvergänglichkeit.
MILOS VEC
Christoph Ransmayr:
"Arznei gegen die
Sterblichkeit". Drei
Geschichten zum Dank.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2019, 64 S., geb., 12,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
sorgfältig komponierte Miniaturen, funkelnde Prosastücke mit einer Pointe oder einer Gedankenbewegung, die eine autobiographische Erfahrung aufgreift Maike Albath Deutschlandfunk Kultur 20191106