'A master of language.' Hilary Mantel
Kate, a grieving, semi-alcoholic film student, invites an elderly woman to take part in an oral-history documentary.
Jean declines but makes her a bizarre counteroffer: if Kate can stay sober for four days, she will tell her a story. If she can stay sober beyond that, there will be another, and then another, amounting to the entire history of one family's life.
Gradually, Jean offers a heart-breaking account, not only of her own history - a lost lover, a family scarred by war - but of the American century itself; as a deep connection emerges between the women which will transform both of their lives in this remarkable novel about love grief, and the power of unlikely friendships.
'Burnside wrestles with hugeness in a way that few writers dare to ... convincingly gracious and profoundly necessary.' Ali Smith
Kate, a grieving, semi-alcoholic film student, invites an elderly woman to take part in an oral-history documentary.
Jean declines but makes her a bizarre counteroffer: if Kate can stay sober for four days, she will tell her a story. If she can stay sober beyond that, there will be another, and then another, amounting to the entire history of one family's life.
Gradually, Jean offers a heart-breaking account, not only of her own history - a lost lover, a family scarred by war - but of the American century itself; as a deep connection emerges between the women which will transform both of their lives in this remarkable novel about love grief, and the power of unlikely friendships.
'Burnside wrestles with hugeness in a way that few writers dare to ... convincingly gracious and profoundly necessary.' Ali Smith
Süddeutsche ZeitungAn den Himmel rühren
Sentimental und hellsichtig zugleich: John Burnsides neuer Roman „Ashland & Vine“
Ein sentimentaler Mensch, sagt Oscar Wilde, sei eine Art Zechpreller des Gefühls: „simply one who desires to have the luxury of an emotion without paying for it“ („einer, der den Luxus eines Gefühls begehrt, ohne dafür zu zahlen“). Man versteht, was Oscar Wilde meint, der merkantilistischen Metapher zum Trotz: all die künstlerischen Werke, die trivialen Romane, die süßen Lieder, die Bilder mit Sonnenuntergang, die ihren „Konsumenten“ erlauben, sich dem Genuss von Empfindungen hinzugeben, die sie nicht durch Erfahrungen, geschweige denn Taten haben erwerben müssen – Abstauber gewissermaßen, die ihre Taschentücher nassweinen, weil sie ein Gefühl aus zweiter oder dritter Hand erworben haben. Doch geht der kulturkritische Impuls, so populär er ist, hier fehl: Man muss nicht, wie Leonore, die Heldin in „Fidelio“, tatsächlich politische Gefangene befreien wollen, um sich von Beethoven mit Wohlgefallen durch die Freuden und Schrecken dieser Oper führen zu lassen. Sentimentalität ist bei Weitem nicht nur dem Schund vorbehalten.
Ein sentimentales Buch in diesem Sinne ist „Ashland & Vine“, der jüngste auf Deutsch erschienene Roman des schottischen Schriftstellers John Burnside. Er erzählt die Geschichte einer Errettung von den Toten: Kate, eine junge Frau in einer kleinen Universitätsstadt im amerikanischen Mittelwesten, hat nicht nur ihren Vater, sondern alle Orientierung verloren und lässt sich, ständig berauscht von Alkohol und anderen Drogen, durch ein Filmstudium und auch sonst durch das Leben treiben. Und es hätte wohl ein schlechtes Ende mit ihr genommen, wäre sie nicht scheinbar zufällig in einen verwilderten Garten geraten und in ein Haus ohne Adresse. Dort lernt sie Jean kennen, eine ältere, alleinlebende und eher eigenwillige Dame, die ein plötzliches Interesse an Kate fasst und ihr einen Handel vorschlägt. Sie erzählt der Studentin ihr Leben, und solange dieses Gegenüber besteht, bleibt ihre Zuhörerin nüchtern.
So nimmt, wie in „Tausendundeiner Nacht“, ein großes Erzählen seinen Lauf: Doch bildet der Stoff kein Märchen, sondern fällt im Wesentlichen zusammen mit der Geschichte der Vereinigten Staaten im zwanzigsten Jahrhundert, einer Geschichte mithin, in der es an Gewalt und Verrat, Bosheit und enttäuschten Idealen nicht fehlt. Und selbstverständlich tut das Erzählen seine Wirkung: nicht nur darin, dass die Studentin ein neues Leben erwirbt, sondern auch darin, dass eine alternative, moralisch vermeintlich überlegene Geschichte der Vereinigten Staaten bewahrt bleibt.
Die politische Allegorie, die John Burnside seinem Roman zugrunde legt, ist durchaus sentimental, und sie ist es auch in einem schlechten, trivialen Sinn, insofern nämlich das Gute und das Böse eindeutig verteilt sind. Der Kampf gegen den Rassismus und für den Frieden, gegen den Staatsapparat und für die Selbstbestimmung in sexuellen Dingen geht einer individuellen Auflösung entgegen, in der all diese Konflikte zur Ruhe kommen – in einem Haus ohne Adresse, einem verwilderten Garten, mit frisch gebackenen Apfeltaschen.
Doch zugleich bildet diese Allegorie den Boden für ein Erzählen, in dem es, vielleicht der Genauigkeit eines melancholischen Blicks wegen, so viele Momente der hellsichtigen Beobachtung gibt, dass sich der Leser an der moralischen Einfalt der politischen Allegorie nur selten stößt. John Burnside ist nicht nur Romancier, sondern auch Lyriker, und er hat ein poetisches Werk geschaffen, dass nicht nur etwa genauso groß ist wie sein Œuvre in Prosa, sondern diesem literarisch auch überlegen. Dieses Verhältnis spiegelt sich in „Ashland & Vine“, was damit beginnt, dass sich die Werke der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830 bis 1886) wie ein roter Faden durch den Roman ziehen, als offene Referenz ebenso wie als eher verborgenes Vorbild in der Form.
„Damit unser Dasein würdevoller wird“, schrieb Emily Dickinson in einem Gedicht aus dem Jahr 1859 („to invest existence with a stately air“), „Reicht es daran zu denken / Dass die Eichel dort / Ei ist des Walds / Der an den Himmel rührt“. Auch diese Verse sind sentimental. Darüber hinaus sind sie schlicht, und es ist dennoch Wahrheit in ihnen. Ein solches Ei ist zum Beispiel Barry Manilow, der blond gelockte Held des amerikanischen Schlagers, der im Roman den Stoff liefert zu einer kleinen Theorie der öffentlichen Ordnung. Ein solches Ei ist die kritische Phänomenologie der physischen „Attraktivität“, die sich aus der Betrachtung einer Frau ergibt, die (zum allseitigen Unglück) Kates Schwägerin wird.
Und ein solches Ei sind die Überlegungen zum Verhältnis von Diskretion und Indiskretion beim Anschauen von Filmen, aus Anlass eines wohl eher experimentellen Films (der so genau beschrieben wird, dass man das eigene Anschauen gar nicht vermisst), der im Stil Pier Paolo Pasolinis viel mit Großaufnahmen von Gesichtern arbeitet. Überhaupt gehören die vielen, wie beiläufig fallenden Bemerkungen zur populären Kultur, von polnischen Avantgardefilmen über das Klischee bis zur Countrymusik, zu den nicht nur lesenswerten, sondern auch bedenkenswerten Dingen, die dieser Roman birgt.
Am Ende des Buchs ist Kate allein. Aber sie hat gelernt, und mit ihr erkennt sich der Leser bereichert, um einige Erkenntnisse zur Verletzlichkeit des Körpers zum Beispiel, oder zur Romantik verlorener Auseinandersetzungen. Vom Erzählen und vom Zuhören handelt „Ashland & Vine“ in letzter Instanz, und wenn der mordlüsterne Sultan, dem sich die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ verdanken, auch nicht leibhaftig auftritt, so ist er doch gegenwärtig, in Gestalt einer Welt, die nicht zu Worten, und mehr noch, die nicht zu Gedanken findet. Dass es anders wird, und auch, dass auch der moderne Sultan das Morden bleiben lässt – daran hat Sentimentalität einen gewiss nicht geringen Anteil.
THOMAS STEINFELD
Hier wird ein Film so genau
beschrieben, dass man das eigene
Anschauen gar nicht vermisst
John Burnside: Ashland & Vine. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Albrecht Knaus Verlag, München 2017.
414 Seiten, 24 Euro.
E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Sentimental und hellsichtig zugleich: John Burnsides neuer Roman „Ashland & Vine“
Ein sentimentaler Mensch, sagt Oscar Wilde, sei eine Art Zechpreller des Gefühls: „simply one who desires to have the luxury of an emotion without paying for it“ („einer, der den Luxus eines Gefühls begehrt, ohne dafür zu zahlen“). Man versteht, was Oscar Wilde meint, der merkantilistischen Metapher zum Trotz: all die künstlerischen Werke, die trivialen Romane, die süßen Lieder, die Bilder mit Sonnenuntergang, die ihren „Konsumenten“ erlauben, sich dem Genuss von Empfindungen hinzugeben, die sie nicht durch Erfahrungen, geschweige denn Taten haben erwerben müssen – Abstauber gewissermaßen, die ihre Taschentücher nassweinen, weil sie ein Gefühl aus zweiter oder dritter Hand erworben haben. Doch geht der kulturkritische Impuls, so populär er ist, hier fehl: Man muss nicht, wie Leonore, die Heldin in „Fidelio“, tatsächlich politische Gefangene befreien wollen, um sich von Beethoven mit Wohlgefallen durch die Freuden und Schrecken dieser Oper führen zu lassen. Sentimentalität ist bei Weitem nicht nur dem Schund vorbehalten.
Ein sentimentales Buch in diesem Sinne ist „Ashland & Vine“, der jüngste auf Deutsch erschienene Roman des schottischen Schriftstellers John Burnside. Er erzählt die Geschichte einer Errettung von den Toten: Kate, eine junge Frau in einer kleinen Universitätsstadt im amerikanischen Mittelwesten, hat nicht nur ihren Vater, sondern alle Orientierung verloren und lässt sich, ständig berauscht von Alkohol und anderen Drogen, durch ein Filmstudium und auch sonst durch das Leben treiben. Und es hätte wohl ein schlechtes Ende mit ihr genommen, wäre sie nicht scheinbar zufällig in einen verwilderten Garten geraten und in ein Haus ohne Adresse. Dort lernt sie Jean kennen, eine ältere, alleinlebende und eher eigenwillige Dame, die ein plötzliches Interesse an Kate fasst und ihr einen Handel vorschlägt. Sie erzählt der Studentin ihr Leben, und solange dieses Gegenüber besteht, bleibt ihre Zuhörerin nüchtern.
So nimmt, wie in „Tausendundeiner Nacht“, ein großes Erzählen seinen Lauf: Doch bildet der Stoff kein Märchen, sondern fällt im Wesentlichen zusammen mit der Geschichte der Vereinigten Staaten im zwanzigsten Jahrhundert, einer Geschichte mithin, in der es an Gewalt und Verrat, Bosheit und enttäuschten Idealen nicht fehlt. Und selbstverständlich tut das Erzählen seine Wirkung: nicht nur darin, dass die Studentin ein neues Leben erwirbt, sondern auch darin, dass eine alternative, moralisch vermeintlich überlegene Geschichte der Vereinigten Staaten bewahrt bleibt.
Die politische Allegorie, die John Burnside seinem Roman zugrunde legt, ist durchaus sentimental, und sie ist es auch in einem schlechten, trivialen Sinn, insofern nämlich das Gute und das Böse eindeutig verteilt sind. Der Kampf gegen den Rassismus und für den Frieden, gegen den Staatsapparat und für die Selbstbestimmung in sexuellen Dingen geht einer individuellen Auflösung entgegen, in der all diese Konflikte zur Ruhe kommen – in einem Haus ohne Adresse, einem verwilderten Garten, mit frisch gebackenen Apfeltaschen.
Doch zugleich bildet diese Allegorie den Boden für ein Erzählen, in dem es, vielleicht der Genauigkeit eines melancholischen Blicks wegen, so viele Momente der hellsichtigen Beobachtung gibt, dass sich der Leser an der moralischen Einfalt der politischen Allegorie nur selten stößt. John Burnside ist nicht nur Romancier, sondern auch Lyriker, und er hat ein poetisches Werk geschaffen, dass nicht nur etwa genauso groß ist wie sein Œuvre in Prosa, sondern diesem literarisch auch überlegen. Dieses Verhältnis spiegelt sich in „Ashland & Vine“, was damit beginnt, dass sich die Werke der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830 bis 1886) wie ein roter Faden durch den Roman ziehen, als offene Referenz ebenso wie als eher verborgenes Vorbild in der Form.
„Damit unser Dasein würdevoller wird“, schrieb Emily Dickinson in einem Gedicht aus dem Jahr 1859 („to invest existence with a stately air“), „Reicht es daran zu denken / Dass die Eichel dort / Ei ist des Walds / Der an den Himmel rührt“. Auch diese Verse sind sentimental. Darüber hinaus sind sie schlicht, und es ist dennoch Wahrheit in ihnen. Ein solches Ei ist zum Beispiel Barry Manilow, der blond gelockte Held des amerikanischen Schlagers, der im Roman den Stoff liefert zu einer kleinen Theorie der öffentlichen Ordnung. Ein solches Ei ist die kritische Phänomenologie der physischen „Attraktivität“, die sich aus der Betrachtung einer Frau ergibt, die (zum allseitigen Unglück) Kates Schwägerin wird.
Und ein solches Ei sind die Überlegungen zum Verhältnis von Diskretion und Indiskretion beim Anschauen von Filmen, aus Anlass eines wohl eher experimentellen Films (der so genau beschrieben wird, dass man das eigene Anschauen gar nicht vermisst), der im Stil Pier Paolo Pasolinis viel mit Großaufnahmen von Gesichtern arbeitet. Überhaupt gehören die vielen, wie beiläufig fallenden Bemerkungen zur populären Kultur, von polnischen Avantgardefilmen über das Klischee bis zur Countrymusik, zu den nicht nur lesenswerten, sondern auch bedenkenswerten Dingen, die dieser Roman birgt.
Am Ende des Buchs ist Kate allein. Aber sie hat gelernt, und mit ihr erkennt sich der Leser bereichert, um einige Erkenntnisse zur Verletzlichkeit des Körpers zum Beispiel, oder zur Romantik verlorener Auseinandersetzungen. Vom Erzählen und vom Zuhören handelt „Ashland & Vine“ in letzter Instanz, und wenn der mordlüsterne Sultan, dem sich die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ verdanken, auch nicht leibhaftig auftritt, so ist er doch gegenwärtig, in Gestalt einer Welt, die nicht zu Worten, und mehr noch, die nicht zu Gedanken findet. Dass es anders wird, und auch, dass auch der moderne Sultan das Morden bleiben lässt – daran hat Sentimentalität einen gewiss nicht geringen Anteil.
THOMAS STEINFELD
Hier wird ein Film so genau
beschrieben, dass man das eigene
Anschauen gar nicht vermisst
John Burnside: Ashland & Vine. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Albrecht Knaus Verlag, München 2017.
414 Seiten, 24 Euro.
E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine ZeitungAll dieses Zeug wie Geld, Erfolg und Renommee
Hier spricht nicht nur der Autor, hier sprechen auch die Namen: John Burnside erzählt in seinem neuen Roman "Ashland & Vine" vom Weg einer aus der Bahn geratenen Frau zurück in die Welt.
Verschwitzt, planlos und fürchterlich verkatert wankt die eine Frau ins Leben der anderen, und so wie sich die Dinge dann entwickeln, möchte man diese Begegnung schicksalhaft nennen. Zumindest für Kate, die amerikanische Studentin, die in diesem Sommer 1999 entschieden zu viel trinkt und nun vor der Tür der straffen, knapp siebzigjährigen Joan Culver steht, bedeutet dieser Moment einen Wendepunkt: "Ehrlich gesagt, ich brauchte eine Pause", so kommentiert Kate das aus der Rückschau, und das klingt in ihrer Situation wie der Satz, der in der Ratgeberliteratur gern als erster Schritt auf dem Weg aus einer verfahrenen Situation empfohlen wird: "Ich brauche Hilfe."
Eigentlich sollte Kate in diesem Sommer als Mitarbeiterin in einem Projekt ihres Freundes Laurits von Tür zu Tür gehen und sich von den Bewohnern anhand eines Fragenkatalogs Lebensgeschichten erzählen lassen. Joan Culver erklärt sich dazu auch bereit, allerdings erst bei einem nächsten Treffen fünf Tage später. Ihre Bedingung ist, dass Kate bis dahin keinen Alkohol anrührt. Zu ihrer eigenen Überraschung stimmt sie zu, und in der Folge kommt es zwischen den beiden Frauen zu wechselseitigen biographischen Erzählungen - dem Kern von John Burnsides neuem Roman "Ashland & Vine".
Joan berichtet von einer Kindheit im Bundesstaat Virginia, vom Sterben der Mutter und dem Bemühen des Vaters, ihr und ihrem Bruder Jeremy trotzdem eine halbwegs glückliche Kindheit zu ermöglichen. Dann wird er auf offener Straße erschossen, weil er sich als Rechtsanwalt offenbar dem mafiosen Geflecht der städtischen Oberschicht widersetzte, was weitgehend ungesühnt bleibt - der erste von vielen Kratzern auf dem Idealbild einer freien, gleichen und gerechten amerikanischen Gesellschaft, die in diesem Roman als Erfahrungen der Protagonisten gezeigt werden.
Auch Kate ist bei einem alleinerziehenden Vater aufgewachsen, denn ihre Mutter verschwand einfach, als das Mädchen sechs Jahre alt war. Sein Tod wirft die junge Studentin völlig aus der Bahn, sie zieht mit dem manipulativen Filmwissenschaftler Laurits zusammen und gerät in einen Kreislauf aus Alkohol und Paranoia, der sie in jeder Hinsicht lähmt. An Joans Seite nun bleibt sie trocken, lernt das einfache Leben zu schätzen, das die ehemalige Gärtnereibesitzerin nun führt, und begibt sich gedanklich immer wieder zurück, um den Punkt zu ergründen, von dem aus ihr Leben damals aus der Bahn geriet, angetrieben durch "diese nagende Erinnerung, eine, die besagte, ich sei tatsächlich einst glücklich gewesen und könne, darauf aufbauend, auch wieder glücklich werden". Darin bestärken sie die Spaziergänge mit Joan durch die Stadt, etwa wenn sie vor einer Buchhandlung stehen, deren Schaufenster ausgerechnet Kates Lieblingskinderbücher zeigt. "Es war", sagt sie, "als wäre ich zu einer langen Busreise aufgebrochen und hätte irgendwo unterwegs den Anschluss verpasst."
Spätestens an dieser Stelle ist unübersehbar, dass Burnside, vertreten durch die Erzählerin Kate, eine moderne Erlösungsgeschichte im Sinn hat, in der alle Elemente nur zu gut zusammenpassen. Die Heilung kommt, als Kate, nun nicht mehr benebelt, der Vergangenheit mit ihren Verlusten ins Auge schaut, aber auch indem sie an der Seite der beharrlichen Alten lernt, vegetarisch zu leben, und zwar gern, "gab es doch so viele leckere Alternativen". Eingekauft wird in kleinen Bioläden, da macht es wieder Spaß, und auch im Studium läuft es besser, nachdem sie von dem inzwischen unter dramatischen Umständen verstorbenen Laurits zu Jean in deren großes Haus gezogen ist. Zumal die weiß: "Jeder muss trauern, nur kommt es darauf an, damit nicht auch gleich alles andere fortzuwerfen."
Derlei Erkenntnisse hat Jean nicht exklusiv, sie ist einer von mehreren, meist alten Menschen, die mit ihrer Lebenserfahrung nicht hinter dem Berg halten: "All die Jahre", so seufzt ein bejahrter Ex-Spion, "in denen wir uns genötigt fühlen, unser Leben für - Zeug herzugeben. Für Geld. Erfolg. Renommee. All die Jahre, in denen wir nicht begriffen haben, dass der einzig lohnenswerte Besitz Zeit ist." Eine Ansicht, die sich Kate schließlich so ausdrücklich zu eigen macht, dass man trotz ihrer materiell durchaus unsicheren Lage nicht weiter um sie bangt.
Drängender ist die Frage, ob John Burnside, Lyriker von Gnaden, Autor faszinierender autobiographischer Prosa und beeindruckender Romancier, diese allzu glatte Geschichte mit ihren Kalendersprüchen eigentlich so ernst meint, wie sie daherkommt, und hier nicht zuletzt die bequeme Verteilung von Gut und Böse. Reicht es beispielsweise, die Erfahrungen der Protagonisten aus Vietnam und den Demonstrationen gegen den Parteitag der Demokraten im Jahr 1968 zu referieren oder das sadistische Gebaren der FBI-Mitarbeiter, um "das System" für alles Mögliche verantwortlich zu machen? Warum werden die naheliegenden Botschaften über Schmerz und Heilung nicht nur gezeigt, sondern immer auch noch erklärt, manchmal zwei- oder dreimal? Und was hat es mit den Namen von Orten und Protagonisten auf sich, die zuverlässig sprechen und ein Verweissystem bedienen?
Das beginnt mit dem Namen jener Stadt, in der sich das Geschehen abspielt und die sich, Scarsville getauft, geradezu als Aufenthaltsort für all die Verletzten aufdrängt, und es endet keineswegs mit der Nebenfigur einer Gärtnereiangestellten, die sich mit dem berühmten Blumenmädchen Eliza Doolittle aus "My Fair Lady" den Vornamen teilt. Viele dieser Namen beziehen sich auf Ornithologisches - Jean Culver, der Nachname verweist auf die Waldtaube, wohnt in der Audubon Road, benannt nach dem berühmtesten amerikanischen Vogelmaler überhaupt. Eine "halbanimalische", wie Kate findet, Besucherin ist die zehnjährige Christina Vogel, von der nach Jeans Tod nichts mehr zu sehen ist, und ein hübscher, offensichtlich verliebter Junge heißt Alan Swann, in diesem Kontext nicht nur auf Prousts Figur, sondern auch auf die Vogelwelt deutend. Das ist kein Zufall bei einem Autor, der sich schon länger als ornithologisch interessiert gezeigt hat, aber warum häuft sich das hier?
Eine Antwort könnte sein: Weil nichts, was hier eine Rolle spielt, außerhalb eines Kosmos von Geschichtenerzählern zu denken ist. Der Roman hebt damit an und endet damit, dass eine letzte Geschichte nachgetragen wird, er fordert dazu auf, sich seiner eigenen Geschichte ebenso bewusst zu werden wie der des Landes, aber auch, sich daran zu erinnern, dass Erzählen stets Formen heißt, dass es keine Wahrheit gibt außer derjenigen, die man seiner Perspektive erzählend verleiht.
Denn auch darum geht es in diesem Roman: wie das Verweigern der Erzählung oder das Ausweichen in Märchen oder harmlose Geschichten buchstäblich Unglück erzeugt, wie es ratlose Zuhörer hinterlässt, die mit denen, die gegangen sind, keinen Frieden machen können, weil die entscheidende Geschichte fehlt. Wer - wie Laurits - seine Umgebung nur mit offensichtlichen Lügen abspeist, wenn es um die eigene Herkunft geht, und Filme hasst, die eine nacherzählbare Handlung haben, der tritt notwendigerweise mit den Worten ab, das zwischen ihm und den anderen sei "nichts Persönliches" gewesen. Wie könnte es auch anders sein?
Jeans kriegsversehrter Bruder Jeremy, so heißt es einmal, "wollte einen Sinn in Ereignissen finden, in denen kein Sinn zu finden war. Also entschied er sich für die Fiktion." Das macht die Dinge nicht besser, und am Ende ist auch er einer der vielen in diesem Roman, die einfach verschwinden. Kate aber, so scheint es, ist auf dem Weg zurück in die Welt. Das zu zeigen war erkennbar das Anliegen des Autors. Ob man seine Mittel nun akzeptiert oder nicht.
TILMAN SPRECKELSEN
John Burnside: "Ashland & Vine".
Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Albrecht Knaus Verlag, München 2017. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hier spricht nicht nur der Autor, hier sprechen auch die Namen: John Burnside erzählt in seinem neuen Roman "Ashland & Vine" vom Weg einer aus der Bahn geratenen Frau zurück in die Welt.
Verschwitzt, planlos und fürchterlich verkatert wankt die eine Frau ins Leben der anderen, und so wie sich die Dinge dann entwickeln, möchte man diese Begegnung schicksalhaft nennen. Zumindest für Kate, die amerikanische Studentin, die in diesem Sommer 1999 entschieden zu viel trinkt und nun vor der Tür der straffen, knapp siebzigjährigen Joan Culver steht, bedeutet dieser Moment einen Wendepunkt: "Ehrlich gesagt, ich brauchte eine Pause", so kommentiert Kate das aus der Rückschau, und das klingt in ihrer Situation wie der Satz, der in der Ratgeberliteratur gern als erster Schritt auf dem Weg aus einer verfahrenen Situation empfohlen wird: "Ich brauche Hilfe."
Eigentlich sollte Kate in diesem Sommer als Mitarbeiterin in einem Projekt ihres Freundes Laurits von Tür zu Tür gehen und sich von den Bewohnern anhand eines Fragenkatalogs Lebensgeschichten erzählen lassen. Joan Culver erklärt sich dazu auch bereit, allerdings erst bei einem nächsten Treffen fünf Tage später. Ihre Bedingung ist, dass Kate bis dahin keinen Alkohol anrührt. Zu ihrer eigenen Überraschung stimmt sie zu, und in der Folge kommt es zwischen den beiden Frauen zu wechselseitigen biographischen Erzählungen - dem Kern von John Burnsides neuem Roman "Ashland & Vine".
Joan berichtet von einer Kindheit im Bundesstaat Virginia, vom Sterben der Mutter und dem Bemühen des Vaters, ihr und ihrem Bruder Jeremy trotzdem eine halbwegs glückliche Kindheit zu ermöglichen. Dann wird er auf offener Straße erschossen, weil er sich als Rechtsanwalt offenbar dem mafiosen Geflecht der städtischen Oberschicht widersetzte, was weitgehend ungesühnt bleibt - der erste von vielen Kratzern auf dem Idealbild einer freien, gleichen und gerechten amerikanischen Gesellschaft, die in diesem Roman als Erfahrungen der Protagonisten gezeigt werden.
Auch Kate ist bei einem alleinerziehenden Vater aufgewachsen, denn ihre Mutter verschwand einfach, als das Mädchen sechs Jahre alt war. Sein Tod wirft die junge Studentin völlig aus der Bahn, sie zieht mit dem manipulativen Filmwissenschaftler Laurits zusammen und gerät in einen Kreislauf aus Alkohol und Paranoia, der sie in jeder Hinsicht lähmt. An Joans Seite nun bleibt sie trocken, lernt das einfache Leben zu schätzen, das die ehemalige Gärtnereibesitzerin nun führt, und begibt sich gedanklich immer wieder zurück, um den Punkt zu ergründen, von dem aus ihr Leben damals aus der Bahn geriet, angetrieben durch "diese nagende Erinnerung, eine, die besagte, ich sei tatsächlich einst glücklich gewesen und könne, darauf aufbauend, auch wieder glücklich werden". Darin bestärken sie die Spaziergänge mit Joan durch die Stadt, etwa wenn sie vor einer Buchhandlung stehen, deren Schaufenster ausgerechnet Kates Lieblingskinderbücher zeigt. "Es war", sagt sie, "als wäre ich zu einer langen Busreise aufgebrochen und hätte irgendwo unterwegs den Anschluss verpasst."
Spätestens an dieser Stelle ist unübersehbar, dass Burnside, vertreten durch die Erzählerin Kate, eine moderne Erlösungsgeschichte im Sinn hat, in der alle Elemente nur zu gut zusammenpassen. Die Heilung kommt, als Kate, nun nicht mehr benebelt, der Vergangenheit mit ihren Verlusten ins Auge schaut, aber auch indem sie an der Seite der beharrlichen Alten lernt, vegetarisch zu leben, und zwar gern, "gab es doch so viele leckere Alternativen". Eingekauft wird in kleinen Bioläden, da macht es wieder Spaß, und auch im Studium läuft es besser, nachdem sie von dem inzwischen unter dramatischen Umständen verstorbenen Laurits zu Jean in deren großes Haus gezogen ist. Zumal die weiß: "Jeder muss trauern, nur kommt es darauf an, damit nicht auch gleich alles andere fortzuwerfen."
Derlei Erkenntnisse hat Jean nicht exklusiv, sie ist einer von mehreren, meist alten Menschen, die mit ihrer Lebenserfahrung nicht hinter dem Berg halten: "All die Jahre", so seufzt ein bejahrter Ex-Spion, "in denen wir uns genötigt fühlen, unser Leben für - Zeug herzugeben. Für Geld. Erfolg. Renommee. All die Jahre, in denen wir nicht begriffen haben, dass der einzig lohnenswerte Besitz Zeit ist." Eine Ansicht, die sich Kate schließlich so ausdrücklich zu eigen macht, dass man trotz ihrer materiell durchaus unsicheren Lage nicht weiter um sie bangt.
Drängender ist die Frage, ob John Burnside, Lyriker von Gnaden, Autor faszinierender autobiographischer Prosa und beeindruckender Romancier, diese allzu glatte Geschichte mit ihren Kalendersprüchen eigentlich so ernst meint, wie sie daherkommt, und hier nicht zuletzt die bequeme Verteilung von Gut und Böse. Reicht es beispielsweise, die Erfahrungen der Protagonisten aus Vietnam und den Demonstrationen gegen den Parteitag der Demokraten im Jahr 1968 zu referieren oder das sadistische Gebaren der FBI-Mitarbeiter, um "das System" für alles Mögliche verantwortlich zu machen? Warum werden die naheliegenden Botschaften über Schmerz und Heilung nicht nur gezeigt, sondern immer auch noch erklärt, manchmal zwei- oder dreimal? Und was hat es mit den Namen von Orten und Protagonisten auf sich, die zuverlässig sprechen und ein Verweissystem bedienen?
Das beginnt mit dem Namen jener Stadt, in der sich das Geschehen abspielt und die sich, Scarsville getauft, geradezu als Aufenthaltsort für all die Verletzten aufdrängt, und es endet keineswegs mit der Nebenfigur einer Gärtnereiangestellten, die sich mit dem berühmten Blumenmädchen Eliza Doolittle aus "My Fair Lady" den Vornamen teilt. Viele dieser Namen beziehen sich auf Ornithologisches - Jean Culver, der Nachname verweist auf die Waldtaube, wohnt in der Audubon Road, benannt nach dem berühmtesten amerikanischen Vogelmaler überhaupt. Eine "halbanimalische", wie Kate findet, Besucherin ist die zehnjährige Christina Vogel, von der nach Jeans Tod nichts mehr zu sehen ist, und ein hübscher, offensichtlich verliebter Junge heißt Alan Swann, in diesem Kontext nicht nur auf Prousts Figur, sondern auch auf die Vogelwelt deutend. Das ist kein Zufall bei einem Autor, der sich schon länger als ornithologisch interessiert gezeigt hat, aber warum häuft sich das hier?
Eine Antwort könnte sein: Weil nichts, was hier eine Rolle spielt, außerhalb eines Kosmos von Geschichtenerzählern zu denken ist. Der Roman hebt damit an und endet damit, dass eine letzte Geschichte nachgetragen wird, er fordert dazu auf, sich seiner eigenen Geschichte ebenso bewusst zu werden wie der des Landes, aber auch, sich daran zu erinnern, dass Erzählen stets Formen heißt, dass es keine Wahrheit gibt außer derjenigen, die man seiner Perspektive erzählend verleiht.
Denn auch darum geht es in diesem Roman: wie das Verweigern der Erzählung oder das Ausweichen in Märchen oder harmlose Geschichten buchstäblich Unglück erzeugt, wie es ratlose Zuhörer hinterlässt, die mit denen, die gegangen sind, keinen Frieden machen können, weil die entscheidende Geschichte fehlt. Wer - wie Laurits - seine Umgebung nur mit offensichtlichen Lügen abspeist, wenn es um die eigene Herkunft geht, und Filme hasst, die eine nacherzählbare Handlung haben, der tritt notwendigerweise mit den Worten ab, das zwischen ihm und den anderen sei "nichts Persönliches" gewesen. Wie könnte es auch anders sein?
Jeans kriegsversehrter Bruder Jeremy, so heißt es einmal, "wollte einen Sinn in Ereignissen finden, in denen kein Sinn zu finden war. Also entschied er sich für die Fiktion." Das macht die Dinge nicht besser, und am Ende ist auch er einer der vielen in diesem Roman, die einfach verschwinden. Kate aber, so scheint es, ist auf dem Weg zurück in die Welt. Das zu zeigen war erkennbar das Anliegen des Autors. Ob man seine Mittel nun akzeptiert oder nicht.
TILMAN SPRECKELSEN
John Burnside: "Ashland & Vine".
Roman.
Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Albrecht Knaus Verlag, München 2017. 416 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
What does it mean to live with integrity in the United States of America? That is the question haunting John Burnside's new novel... The way that Burnside layers these stories is masterful, and becomes a meditation on storytelling itself. Duncan White Daily Telegraph