"Ein Roman, der die Augen öffnet - ohne moralischen Zeigefinger, ohne Mitleid, einfach realistisch." (Focus)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2004Wir Straßenkinder wissen nichts
So viel Elend: Morton Rhues greller Roman "Asphalt Tribe"
Weglaufen, um anzukommen - im Leben. Das ist schon immer eine Grundbewegung in Jugendbüchern. Zwei der wichtigsten Romane Amerikas erzählen die Geschichten jugendlicher Ausreißer: Mark Twains "Huckleberry Finn", das Buch, von dem Hemingway behauptete, alles amerikanische Schreiben sei davon beeinflußt, und Salingers "Fänger im Roggen". Auf den ersten Blick mag es vermessen erscheinen, Morton Rhue in diese Gewichtsklasse einzuordnen. Doch immerhin: Der New Yorker Autor (Jahrgang 1950), der als Straßenmusiker und Schiffssteward gearbeitet hatte, bevor er mit dem Schreiben von Jugendbüchern erfolgreich wurde, gehört ohne Zweifel zu den einflußreichen Schriftstellern unserer Zeit. Er verdankt diesen Rang vor allem seinem Instinkt für die Aufbereitung spektakulärer Jugendthemen. Sein Bestseller "Die Welle" (1984) erzählte von einem Lehrer-Schüler-Experiment an einer amerikanischen Schule zur Entstehung faschistischer Gruppenstrukturen, das aus dem Ruder gerät, "Ich knall euch ab!" (2002) protokollierte den Amoklauf zweier Sechzehnjähriger an ihrer High School.
Millionenfach verkauft, gehört "Die Welle" bei uns heute in den Kanon verbindlicher Schullektüre, und kurz nach der Veröffentlichung von "Ich knall euch ab!" hierzulande mordete ein Schüler in einem Erfurter Gymnasium. Zufall, gewiß - doch es ist nicht zu leugnen, daß Rhues Schreiben stets so dicht an der Wirklichkeit ist, daß man nicht immer auf Anhieb weiß, wo die Phantasie beginnt. Das erklärt auch die vorauseilende Adelung seines Romans "Asphalt Tribe" durch ein Grußvorwort der Kanzlergattin, das im wesentlichen auf der Erkenntnis fußt, es gebe Straßenkinder auch in wohlhabenden Ländern und deshalb auch in Deutschland - als sei Amerika kein wohlhabendes Land und New York, der Schauplatz des Buchs, ein Ort im Nirgendwo. Damit nicht genug, ist Rhues Erzählung ein vor allem gutgemeinter Aufsatz Markus Seidels nachgestellt, des Vorsitzenden der deutschen Straßenkinder-Hilfsorganisation "Off-Road-Kids". Klare Signale für die deutschen Lehrer, dieses Buch ebenfalls als Klassenlektüre auszuwählen.
Um Straßenkinder also geht es, oder um "Kinder der Straße", wie die deutsche Ausgabe übertitelt ist. Das ist ein nicht unwesentlicher Bedeutungsunterschied. Denn die Frage nach dem Woher könnte auch eine Richtung zum Wohin weisen. Doch mit Ursachenforschung, Analyse überhaupt, hält sich Rhue an keiner Stelle auf. Ihm ist es allein um die plakative, grelle Schilderung von Wirklichkeitsblitzen zu tun. In kurzen, jähen Episoden verfolgt sein Buch die Erlebnisse einer Gruppe Jugendlicher, die im eiskalten New Yorker Winter auf der Straße hausen: unter Brücken, in einem leerstehenden Haus, als Schutz nur Lumpen und Plastiktüten. Die Erlebnisse bestehen im wesentlichen darin, daß die Kinder frieren, betteln und ziellos durch die Stadt irren. Und immer wieder müssen sie sich Nachstellungen von Erwachsenen erwehren, es geht dabei um Sex oder auch nur um die sogenannte bürgerliche Ordnung. Den Straßenkindern erscheint nichts davon erstrebenswert.
Immerhin fallen ihnen trotz allen Ungemachs zwischendurch Sätze ein, die das Buch, das ein ums andere Mal auf der Stelle schnieft und trotzt, dann doch weitertreiben. Sätze zum Jasagen und Weitertragen: "Diese ganze Stadt ist eine Monstershow", spricht 2Moro - die Namen der Kinder sind schon Botschaften für sich - und meint New York. "Ist das ein Versprechen?" verbellt Maggot einen Beamten der Jugendhilfe, der mahnte, das Leben auf der Straße sei nicht gesund und in einem Jahr der eine oder andere aus der Gruppe womöglich schon tot. Und Maybe, die all dies erzählt, überfällt immer mal wieder "das Wissen, ein Nichts zu sein", und dann beantwortet sie eine weitere Frage mit einem ausweichenden "Kann sein", das ihr den Rufnamen einbrachte.
Schlimm geht's zu unter den Kindern auf Morton Rhues frostigen Straßen von New York, denn auch wenn der Autor beteuert, die Figuren seiner Erzählung erfunden zu haben, arbeitet er doch mit dem literarischen Mittel der Authentizitätsversicherung durch vermeintliche Objektivierung: Mehrere Kapitel werden mit Kurzbiographien der Jugendlichen wie aus dem Polizeibericht eingeleitet, am Ende steht immer der Tod. So geht es weiter, bis fast alle Äste des Asphalt-Stamms abgebrochen sind - diesen Namen haben die Straßenkinder ihrer Notgemeinschaft gegeben. Dann fährt die Erzählerin mit einem netten Bibliothekar im Auto nach West-Virginia, um dort die jüngste der Gruppe, Tears, bei ihren netten Großeltern abzuliefern. Und der Leser fragt sich: Warum nicht gleich?
Doch lange vorher schon hat sich das Buch an der selbstgemachten Sensation erschöpft, ist gescheitert an seiner wie erpresserischen Erzählhaltung, seinem diffusen Grundvorwurf an die Welt für alle Widrigkeiten, die den Jugendlichen widerfahren. Alles geht schief, und für das Häuflein in der Kälte bleibt nichts zurück als noch mehr Kälte. Und Husten, der die ausgemergelten Körper schüttelt. Und Schmutz, der selbst bei den seltenen Gelegenheiten, ein Bad zu benutzen, vom Körper nicht mehr abzuwaschen ist. Denn die Straßenkinder sind gebrandmarkt von ihren Leben: zerrütteten Familienverhältnissen, die - so will es der Autor - geradezu zwangsläufig auf die Straße führen, und dort kommen alle früher oder später unter die Räder. Man kann das alles als symbolisch gemeint verstehen, Rhues Dramaturgie ist leicht zu durchschauen. Aber genau weil das so ist, werden die Konstruktionen, die das Buch tragen sollen, schnell selbstreferentiell: Das Elend ist elend, weil es elend ist. Die Frage nach dem Warum, die nicht nur Kindern einfallen könnte, läßt Morton Rhue unbeantwortet.
ANDREAS OBST
Morton Rhue: "Asphalt Tribe". Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz. Verlag Otto Maier, Ravensburg 2003. 207 S., geb., 11,95 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So viel Elend: Morton Rhues greller Roman "Asphalt Tribe"
Weglaufen, um anzukommen - im Leben. Das ist schon immer eine Grundbewegung in Jugendbüchern. Zwei der wichtigsten Romane Amerikas erzählen die Geschichten jugendlicher Ausreißer: Mark Twains "Huckleberry Finn", das Buch, von dem Hemingway behauptete, alles amerikanische Schreiben sei davon beeinflußt, und Salingers "Fänger im Roggen". Auf den ersten Blick mag es vermessen erscheinen, Morton Rhue in diese Gewichtsklasse einzuordnen. Doch immerhin: Der New Yorker Autor (Jahrgang 1950), der als Straßenmusiker und Schiffssteward gearbeitet hatte, bevor er mit dem Schreiben von Jugendbüchern erfolgreich wurde, gehört ohne Zweifel zu den einflußreichen Schriftstellern unserer Zeit. Er verdankt diesen Rang vor allem seinem Instinkt für die Aufbereitung spektakulärer Jugendthemen. Sein Bestseller "Die Welle" (1984) erzählte von einem Lehrer-Schüler-Experiment an einer amerikanischen Schule zur Entstehung faschistischer Gruppenstrukturen, das aus dem Ruder gerät, "Ich knall euch ab!" (2002) protokollierte den Amoklauf zweier Sechzehnjähriger an ihrer High School.
Millionenfach verkauft, gehört "Die Welle" bei uns heute in den Kanon verbindlicher Schullektüre, und kurz nach der Veröffentlichung von "Ich knall euch ab!" hierzulande mordete ein Schüler in einem Erfurter Gymnasium. Zufall, gewiß - doch es ist nicht zu leugnen, daß Rhues Schreiben stets so dicht an der Wirklichkeit ist, daß man nicht immer auf Anhieb weiß, wo die Phantasie beginnt. Das erklärt auch die vorauseilende Adelung seines Romans "Asphalt Tribe" durch ein Grußvorwort der Kanzlergattin, das im wesentlichen auf der Erkenntnis fußt, es gebe Straßenkinder auch in wohlhabenden Ländern und deshalb auch in Deutschland - als sei Amerika kein wohlhabendes Land und New York, der Schauplatz des Buchs, ein Ort im Nirgendwo. Damit nicht genug, ist Rhues Erzählung ein vor allem gutgemeinter Aufsatz Markus Seidels nachgestellt, des Vorsitzenden der deutschen Straßenkinder-Hilfsorganisation "Off-Road-Kids". Klare Signale für die deutschen Lehrer, dieses Buch ebenfalls als Klassenlektüre auszuwählen.
Um Straßenkinder also geht es, oder um "Kinder der Straße", wie die deutsche Ausgabe übertitelt ist. Das ist ein nicht unwesentlicher Bedeutungsunterschied. Denn die Frage nach dem Woher könnte auch eine Richtung zum Wohin weisen. Doch mit Ursachenforschung, Analyse überhaupt, hält sich Rhue an keiner Stelle auf. Ihm ist es allein um die plakative, grelle Schilderung von Wirklichkeitsblitzen zu tun. In kurzen, jähen Episoden verfolgt sein Buch die Erlebnisse einer Gruppe Jugendlicher, die im eiskalten New Yorker Winter auf der Straße hausen: unter Brücken, in einem leerstehenden Haus, als Schutz nur Lumpen und Plastiktüten. Die Erlebnisse bestehen im wesentlichen darin, daß die Kinder frieren, betteln und ziellos durch die Stadt irren. Und immer wieder müssen sie sich Nachstellungen von Erwachsenen erwehren, es geht dabei um Sex oder auch nur um die sogenannte bürgerliche Ordnung. Den Straßenkindern erscheint nichts davon erstrebenswert.
Immerhin fallen ihnen trotz allen Ungemachs zwischendurch Sätze ein, die das Buch, das ein ums andere Mal auf der Stelle schnieft und trotzt, dann doch weitertreiben. Sätze zum Jasagen und Weitertragen: "Diese ganze Stadt ist eine Monstershow", spricht 2Moro - die Namen der Kinder sind schon Botschaften für sich - und meint New York. "Ist das ein Versprechen?" verbellt Maggot einen Beamten der Jugendhilfe, der mahnte, das Leben auf der Straße sei nicht gesund und in einem Jahr der eine oder andere aus der Gruppe womöglich schon tot. Und Maybe, die all dies erzählt, überfällt immer mal wieder "das Wissen, ein Nichts zu sein", und dann beantwortet sie eine weitere Frage mit einem ausweichenden "Kann sein", das ihr den Rufnamen einbrachte.
Schlimm geht's zu unter den Kindern auf Morton Rhues frostigen Straßen von New York, denn auch wenn der Autor beteuert, die Figuren seiner Erzählung erfunden zu haben, arbeitet er doch mit dem literarischen Mittel der Authentizitätsversicherung durch vermeintliche Objektivierung: Mehrere Kapitel werden mit Kurzbiographien der Jugendlichen wie aus dem Polizeibericht eingeleitet, am Ende steht immer der Tod. So geht es weiter, bis fast alle Äste des Asphalt-Stamms abgebrochen sind - diesen Namen haben die Straßenkinder ihrer Notgemeinschaft gegeben. Dann fährt die Erzählerin mit einem netten Bibliothekar im Auto nach West-Virginia, um dort die jüngste der Gruppe, Tears, bei ihren netten Großeltern abzuliefern. Und der Leser fragt sich: Warum nicht gleich?
Doch lange vorher schon hat sich das Buch an der selbstgemachten Sensation erschöpft, ist gescheitert an seiner wie erpresserischen Erzählhaltung, seinem diffusen Grundvorwurf an die Welt für alle Widrigkeiten, die den Jugendlichen widerfahren. Alles geht schief, und für das Häuflein in der Kälte bleibt nichts zurück als noch mehr Kälte. Und Husten, der die ausgemergelten Körper schüttelt. Und Schmutz, der selbst bei den seltenen Gelegenheiten, ein Bad zu benutzen, vom Körper nicht mehr abzuwaschen ist. Denn die Straßenkinder sind gebrandmarkt von ihren Leben: zerrütteten Familienverhältnissen, die - so will es der Autor - geradezu zwangsläufig auf die Straße führen, und dort kommen alle früher oder später unter die Räder. Man kann das alles als symbolisch gemeint verstehen, Rhues Dramaturgie ist leicht zu durchschauen. Aber genau weil das so ist, werden die Konstruktionen, die das Buch tragen sollen, schnell selbstreferentiell: Das Elend ist elend, weil es elend ist. Die Frage nach dem Warum, die nicht nur Kindern einfallen könnte, läßt Morton Rhue unbeantwortet.
ANDREAS OBST
Morton Rhue: "Asphalt Tribe". Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz. Verlag Otto Maier, Ravensburg 2003. 207 S., geb., 11,95 [Euro]. Ab 14 J.
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"Eine Art Offenbarung! Dieses Buch ist in vollem Maße empfehlenswert." (Oberbergischer Anzeiger, Gummersbach, 07.07.2005)