Ein filmreifes Panoptikum menschlicher Sehnsüchte und Abgründe rund um Autobahnraststätten, auf denen Mädchen verschwinden. Ausgezeichnet mit dem Grand Prix de littérature policière für den besten französischen Kriminalroman.Es ist heißer August. Auf den französischen Autobahnen, in den trostlosen Raststätten, auf den Ruheplätzen für Fernfahrer, den Arbeitsplätzen der Prostituierten, ist viel Betrieb: Touristen, Pendler, Liebespaare, die die Anonymität der Motels schätzen - aber auch Menschen mit anderen Zielen, wie Pierre, ehemaliger Gerichtsmediziner, der seinen Job aufgegeben hat und als rastloser Beobachter Spuren seiner vor Monaten entführten Tochter Lucie zu finden hofft, oder Pascal, ein auf den ersten Blick unscheinbarer Angestellter, der in einem Autobahnrestaurant das Essen ausgibt. Sylvie und Marc sind mit ihrer Tochter Marie unterwegs in die Ferien. Beim Halt an einer Raststätte macht sich Marie selbständig und begibt sich auf einen Rundgang. Sie kommt nicht mehr zurück. Die Polizei geht von einer Entführung aus. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Joseph Incardona erschafft ein filmreifes Panoptikum von schicksalhaften Begegnungen und Beziehungsmustern. Ganz in der Tradition des Roman noir, entblättert sich eine Geschichte von Verzweiflung und Hoffnung, Lust und Schmerz, Sex und Crime, Trauer und kurzen Glücksmomenten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2019Die Autobahn als Lust- und Todeszone
Schwarzes Kopfkino mit viel Unterleib: In Joseph Incardonas tempohartem deutschem Debüt verschwinden Mädchen im "Asphaltdschungel".
In der Gluthitze des Sommers 2015 jagt der ehemalige Rechtsmediziner Pierre Castan den Mörder seiner Tochter. Sie verschwand zu Jahresbeginn, acht Jahre jung, und Castan weiß natürlich, dass es keine Hoffnung mehr gibt, Lucie lebend wiederzusehen. Seine Frau Ingrid ist über den Verlust verrückt geworden, sie verwahrlost im Suff und mit einer kranken Geilheit. Der Tod des eigenen Kindes, die nicht zu überbietende Katastrophe. Lucie wurde an einer Autobahnraststätte verschleppt, und das Gleiche geschieht nun mit Marie, die mit ihren heillos zerstrittenen Eltern Marc und Sylvie auf dem Weg in die Ferien ist.
An der gleiche Raststätte findet man derweil Pierre halbtot und dehydriert in seinem Wagen, Schmeißfliegen sind seine treuen Begleiter. Sind auch viel besser als ihr Ruf, das weiß Pierre. Nur ihre Larven legen sie in Aas, sie selbst leben von Nektar und Pollen.
Schon nach sechs Seiten tritt die Figur auf, von der schnell klarwird, dass sie das Hackfleisch bratende, Mädchen tötende Böse ist: Pascal Folier, ein durchtrainierter Koch, zweihundert Klimmzüge sind sein Standardprogramm. Ein ehemaliges Heimkind, das man "Skalp" nannte, weil es Hunde, Katzen und Mäuse aufschlitzte, häutete und an Bäume hängte. Ein Unfall, von dem eine riesige Narbe am Kopf zeugt, machte ihn taub und raubte ihm Durstgefühl, Geschmacks- und Geruchssinn. Und doch ist er der perfekte unsichtbare Bewohner jener Raststätten-Matrix, die überall in Europa gleich anonym und steril entlang den Autobahnen als Nicht-Ort ins Werk gesetzt wurde.
Niemand, der sich von ihm bedienen lässt, nimmt ihn zur Kenntnis. Diese Unsichtbarkeit nutzt Pascal für seine ganz speziellen Vergehen gegen die Mädchenwelt, drei hat er schon zum Tod befördert, die achtjährige Lucie, die zehnjährige Catherine und eben die zwölfjährige Marie, die sich "gerade im Prozess der Zersetzung" befindet.
Jospeh Incardona, 1969 in Lausanne geborener Schweizer mit italienischen Wurzeln, erhielt vor vier Jahren für diesen Roman den Grand Prix de Littérature Policière, nun tritt er mit dem aus dem Französischen übersetzten Seitenwender vor die deutsche Krimigemeinde. Es bedarf keiner Prophetie, um vorherzusagen, dass dieser Auftritt ihm Aufmerksamkeit für weitere Übersetzungen sichert. Der Roman hat Tempo, fährt wie auf Schienen und mit einem eigenen Ton durch den "Asphaltdschungel", den seltsamste Figuren bevölkern, Gestrandete aus allen Schichten und Erdteilen.
Er zeigt eine Welt, die dem gewöhnlichen Reisenden, der nur flüchtige Berührung mit den Mobilitätstempeln hat - Tanken, Toilette, Kaffee -, verborgen bleibt. Die Welt der Müllberge, die Welt der Fernfahrer, des Straßenstrichs, der kriminellen Geschäfte, Clans und Hehler. Incardona zieht uns mit geballter Sogkraft in dieses Universum, und er tut das schnell und dreckig, atemlos und bildmächtig. Das ist nichts für Leser von Kulinarik- oder Heimatkrimis. Es geht sehr viel um Sex, um Körperflüssigkeiten, um Kot, Blut, Urin, um Alkohol, Nikotin, und das alles in den schweißtreibenden Hundstagen auf flirrendem Asphalt.
"Hinter den Schildern stehen Menschen" - diesen Baustellenhinweis, der dem Roman im Original den Titel gab (Derrière les panneaux, il y a des hommes"), nimmt Incardona als Auftrag, diese Menschen schonungslos in ihrer Kreatürlichkeit zu zeigen, als Gefangene des Körpers, dessen Bedürfnisse das Handeln steuern. Sein Erzählscheinwerfer kennt keine Dezenz.
Stilistisch arbeitet er dabei mit dem genretypischen Stakkato, ein Satz eine Zeile, das beschleunigt den Lesefluss, geht aber auch immer mal wieder daneben, wenn etwa die von Fleischeslust geplagte ermittelnde Beamtin Capitaine Julie Martinez die Einrichtung eines Büros scannt und über einen Kurzhaarteppich voller Milben zu Einsichten wie den folgenden kommt: "Scheiße, wie trist kann das Leben sein. / Nein, nichts. / Weder um sie herum noch sonst wo. / Schon gar nicht hier, nicht jetzt." Das ist häufig banal, stellenweise sentenziös, aber weil das Erzähltempo stabil hoch ist, liest man darüber großzügig hinweg.
Von drei Opfern an spricht man von einer Serie. Aber es dauert, bis der Polizei dieser Zusammenhang aufgeht, den Pierre Castan schon länger vermutet. Das Finale ist als Treibjagd inmitten eines Staus auf der Autobahn inszeniert, ein Unwetter mit sintflutartigen Regenmassen macht der Hitze ein Ende "Die Erde muss reingewaschen werden", denkt der Vater des toten Mädchens. Eine Hoffnung, daran lässt Incardona keinen Zweifel, die man sich aus dem Kopf schlagen sollte.
HANNES HINTERMEIER
Joseph Incardona: "Asphaltdschungel". Roman.
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow.
Lenos Verlag, Basel 2019.
339 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schwarzes Kopfkino mit viel Unterleib: In Joseph Incardonas tempohartem deutschem Debüt verschwinden Mädchen im "Asphaltdschungel".
In der Gluthitze des Sommers 2015 jagt der ehemalige Rechtsmediziner Pierre Castan den Mörder seiner Tochter. Sie verschwand zu Jahresbeginn, acht Jahre jung, und Castan weiß natürlich, dass es keine Hoffnung mehr gibt, Lucie lebend wiederzusehen. Seine Frau Ingrid ist über den Verlust verrückt geworden, sie verwahrlost im Suff und mit einer kranken Geilheit. Der Tod des eigenen Kindes, die nicht zu überbietende Katastrophe. Lucie wurde an einer Autobahnraststätte verschleppt, und das Gleiche geschieht nun mit Marie, die mit ihren heillos zerstrittenen Eltern Marc und Sylvie auf dem Weg in die Ferien ist.
An der gleiche Raststätte findet man derweil Pierre halbtot und dehydriert in seinem Wagen, Schmeißfliegen sind seine treuen Begleiter. Sind auch viel besser als ihr Ruf, das weiß Pierre. Nur ihre Larven legen sie in Aas, sie selbst leben von Nektar und Pollen.
Schon nach sechs Seiten tritt die Figur auf, von der schnell klarwird, dass sie das Hackfleisch bratende, Mädchen tötende Böse ist: Pascal Folier, ein durchtrainierter Koch, zweihundert Klimmzüge sind sein Standardprogramm. Ein ehemaliges Heimkind, das man "Skalp" nannte, weil es Hunde, Katzen und Mäuse aufschlitzte, häutete und an Bäume hängte. Ein Unfall, von dem eine riesige Narbe am Kopf zeugt, machte ihn taub und raubte ihm Durstgefühl, Geschmacks- und Geruchssinn. Und doch ist er der perfekte unsichtbare Bewohner jener Raststätten-Matrix, die überall in Europa gleich anonym und steril entlang den Autobahnen als Nicht-Ort ins Werk gesetzt wurde.
Niemand, der sich von ihm bedienen lässt, nimmt ihn zur Kenntnis. Diese Unsichtbarkeit nutzt Pascal für seine ganz speziellen Vergehen gegen die Mädchenwelt, drei hat er schon zum Tod befördert, die achtjährige Lucie, die zehnjährige Catherine und eben die zwölfjährige Marie, die sich "gerade im Prozess der Zersetzung" befindet.
Jospeh Incardona, 1969 in Lausanne geborener Schweizer mit italienischen Wurzeln, erhielt vor vier Jahren für diesen Roman den Grand Prix de Littérature Policière, nun tritt er mit dem aus dem Französischen übersetzten Seitenwender vor die deutsche Krimigemeinde. Es bedarf keiner Prophetie, um vorherzusagen, dass dieser Auftritt ihm Aufmerksamkeit für weitere Übersetzungen sichert. Der Roman hat Tempo, fährt wie auf Schienen und mit einem eigenen Ton durch den "Asphaltdschungel", den seltsamste Figuren bevölkern, Gestrandete aus allen Schichten und Erdteilen.
Er zeigt eine Welt, die dem gewöhnlichen Reisenden, der nur flüchtige Berührung mit den Mobilitätstempeln hat - Tanken, Toilette, Kaffee -, verborgen bleibt. Die Welt der Müllberge, die Welt der Fernfahrer, des Straßenstrichs, der kriminellen Geschäfte, Clans und Hehler. Incardona zieht uns mit geballter Sogkraft in dieses Universum, und er tut das schnell und dreckig, atemlos und bildmächtig. Das ist nichts für Leser von Kulinarik- oder Heimatkrimis. Es geht sehr viel um Sex, um Körperflüssigkeiten, um Kot, Blut, Urin, um Alkohol, Nikotin, und das alles in den schweißtreibenden Hundstagen auf flirrendem Asphalt.
"Hinter den Schildern stehen Menschen" - diesen Baustellenhinweis, der dem Roman im Original den Titel gab (Derrière les panneaux, il y a des hommes"), nimmt Incardona als Auftrag, diese Menschen schonungslos in ihrer Kreatürlichkeit zu zeigen, als Gefangene des Körpers, dessen Bedürfnisse das Handeln steuern. Sein Erzählscheinwerfer kennt keine Dezenz.
Stilistisch arbeitet er dabei mit dem genretypischen Stakkato, ein Satz eine Zeile, das beschleunigt den Lesefluss, geht aber auch immer mal wieder daneben, wenn etwa die von Fleischeslust geplagte ermittelnde Beamtin Capitaine Julie Martinez die Einrichtung eines Büros scannt und über einen Kurzhaarteppich voller Milben zu Einsichten wie den folgenden kommt: "Scheiße, wie trist kann das Leben sein. / Nein, nichts. / Weder um sie herum noch sonst wo. / Schon gar nicht hier, nicht jetzt." Das ist häufig banal, stellenweise sentenziös, aber weil das Erzähltempo stabil hoch ist, liest man darüber großzügig hinweg.
Von drei Opfern an spricht man von einer Serie. Aber es dauert, bis der Polizei dieser Zusammenhang aufgeht, den Pierre Castan schon länger vermutet. Das Finale ist als Treibjagd inmitten eines Staus auf der Autobahn inszeniert, ein Unwetter mit sintflutartigen Regenmassen macht der Hitze ein Ende "Die Erde muss reingewaschen werden", denkt der Vater des toten Mädchens. Eine Hoffnung, daran lässt Incardona keinen Zweifel, die man sich aus dem Kopf schlagen sollte.
HANNES HINTERMEIER
Joseph Incardona: "Asphaltdschungel". Roman.
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow.
Lenos Verlag, Basel 2019.
339 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.12.2019Verlorene Töchter, verwischte Gesichter
Wenn sich die Raststätte als Eingangstor zur Hölle entpuppt: Joseph Incardonas Kriminalroman „Asphaltdschungel“ entdeckt die Unterwelt der Autobahn
Vom Zentrum an die Ränder ziehen die Fliehkräfte des Sommers die Menschen, von den Städten an die Strände des Mittelmeers und des Atlantiks. Die Autobahnen im Südwesten Frankreichs sind bloß Mittel zum Zweck auf dem Weg vom Alltag in die Ferien – ein zäher Weg, es gibt Staus und Stress: Niemand möchte mehr Zeit als nötig auf der Piste und an den Raststätten verbringen. Immer dauert es zu lange, ehe man am Ziel ist.
Mancher träumt dabei auch vom Verschwinden – aus dem Trott, dem bisherigen Leben. Was wäre, wenn es in zwei oder drei Wochen nicht auf derselben Strecke wieder zurückginge, sondern etwas Neues begänne, an einem neuen Ort, mit einem neuen Menschen? Der Urlaub als Verheißung eines alternatives Lebens.
Noch sind das vage Gedanken für Sylvie und Marc Mercier. Noch sind sie eine Familie, die zu verhindern versucht, dass sie auseinander bricht. Die Ferien als letzte Chance, die Fahrt ein gegenseitiges Anschweigen. Auf dem Rastplatz endlich ein Gespräch der Eltern, um die Fronten zu klären. Marie, die zwölfjährige Tochter, will nicht dabei sein. Sie hat sich innerlich schon verabschiedet von der Familie, sieht kommen, „dass das beschissene Ferien werden“. Sie geht hinaus auf den Parkplatz – und taucht nicht mehr auf.
Der Schweizer Schriftsteller Joseph Incardona, 1969 in Lausanne geboren, schickt gleich zwei Reste dessen, was einmal Familien waren, in seinen „Asphaltdschungel“ im Südwesten Frankreichs. Marie ist nicht das erste Mädchen, das hier in der Gegend entlang der Autobahn verschwunden ist. Auch Lucie ist weg sowie ein weiteres Mädchen. Lucies Vater, Pierre Castan, ist daraufhin in sein Auto gezogen, fährt die Gegend ab, seit Monaten sucht er die Tochter. Seine Frau vegetiert daheim mehr, als dass sie lebt. Pierres Versprechen, dass er die Tochter findet oder zumindest den Kerl, der sie entführt hat, ist ihre letzte lose Verbindung in diese sommerliche Realität.
Doch wo sucht man, wenn alles in Bewegung ist, an Orten, die im Grunde keine sind? Wenn alle nur auf der Durchreise scheinen. „Jedes Jahr sieht er hunderte, tausende, hunderttausende Gesichter“, heißt es über Pascal Folier, der an der Selbstbedienungstheke an einer Raststätte arbeitet, die jeder anderen gleicht. „Nur ihn sieht niemand.“ Wie das richtige Gesicht herausfischen?
Auf mehr als einen Glückstreffer, jenseits aller Wahrscheinlichkeit, wagen sie nicht zu hoffen, Julie Martinez, Capitaine der Gendarmerie, und ihr Untergebener, Lieutenant Thierry Gaspard. Das Mädchen, Marie, kann in jedem Auto sein. Sofern sie sich noch innerhalb des Autobahnsystems befindet. Andernfalls kommt jeder Wald, jedes Dorf, jedes Feld und jeder Weiher in Betracht. Vollsperrung der Autobahn, Helikopter mit Wärmebildkameras, Hundestaffeln, die Polizei hat einen Plan für solch einen Fall. Er läuft ab wie am Schnürchen. Und führt: zu nichts.
„Asphaltdschungel“ ist ein Noir-Krimi, obschon er im gleißenden Sommerlicht spielt. Joseph Incardona hat ihn in einer Welt angesiedelt, von deren Existenz die meisten Menschen wenig oder gar keine Ahnung haben, weil sie glauben, dass zwischen dem Daheim und dem Meer alle Durchreisende sind. Doch es gibt auch so etwas wie Bewohner der Autobahnen, die Betreiber der Raststätten und ihre schlecht bezahlten Angestellten, die Fernfahrer, die Prostituierten auf dem Straßenstrich, Roma aus einer Siedlung, die im Niemandsland zwischen der Autobahn und der ländlichen Behaglichkeit liegt. Und für die gewöhnliche Zivilisation Verlorene wie Pierre Castan, der seine Tochter sucht.
In diesem Milieu gibt es Menschen, die sich einzelne Gesichter merken, auch wenn sie in tausende blicken. Sie sehen Zusammenhänge, der Asphalt ist für sie nicht pure Oberfläche, die Autobahn nicht exterritoriales Gebiet. Nur will von ihnen niemand mit der Polizei zu schaffen haben. Jeder verfolgt seine Agenda. Lange Zeit hilft das dem Täter.
Mit großem erzählerischem Geschick lässt Incardona die Mehrheitsgesellschaft an dieser Parallelwelt vorbeirasen. Seine knappe Sprache und die vielen Szenenwechsel erwecken vor allem zu Beginn des Romans eher Ahnungen als Gewissheiten, vergleichbar den Eindrücken, die ein Blick aus dem Fenster bei hoher Geschwindigkeit einfängt. Am Ende ist jede Vollbremsung vergeblich.
STEFAN FISCHER
Joseph Incardona: Asphaltdschungel. Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow. Lenos Verlag, Basel 2019. 340 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wenn sich die Raststätte als Eingangstor zur Hölle entpuppt: Joseph Incardonas Kriminalroman „Asphaltdschungel“ entdeckt die Unterwelt der Autobahn
Vom Zentrum an die Ränder ziehen die Fliehkräfte des Sommers die Menschen, von den Städten an die Strände des Mittelmeers und des Atlantiks. Die Autobahnen im Südwesten Frankreichs sind bloß Mittel zum Zweck auf dem Weg vom Alltag in die Ferien – ein zäher Weg, es gibt Staus und Stress: Niemand möchte mehr Zeit als nötig auf der Piste und an den Raststätten verbringen. Immer dauert es zu lange, ehe man am Ziel ist.
Mancher träumt dabei auch vom Verschwinden – aus dem Trott, dem bisherigen Leben. Was wäre, wenn es in zwei oder drei Wochen nicht auf derselben Strecke wieder zurückginge, sondern etwas Neues begänne, an einem neuen Ort, mit einem neuen Menschen? Der Urlaub als Verheißung eines alternatives Lebens.
Noch sind das vage Gedanken für Sylvie und Marc Mercier. Noch sind sie eine Familie, die zu verhindern versucht, dass sie auseinander bricht. Die Ferien als letzte Chance, die Fahrt ein gegenseitiges Anschweigen. Auf dem Rastplatz endlich ein Gespräch der Eltern, um die Fronten zu klären. Marie, die zwölfjährige Tochter, will nicht dabei sein. Sie hat sich innerlich schon verabschiedet von der Familie, sieht kommen, „dass das beschissene Ferien werden“. Sie geht hinaus auf den Parkplatz – und taucht nicht mehr auf.
Der Schweizer Schriftsteller Joseph Incardona, 1969 in Lausanne geboren, schickt gleich zwei Reste dessen, was einmal Familien waren, in seinen „Asphaltdschungel“ im Südwesten Frankreichs. Marie ist nicht das erste Mädchen, das hier in der Gegend entlang der Autobahn verschwunden ist. Auch Lucie ist weg sowie ein weiteres Mädchen. Lucies Vater, Pierre Castan, ist daraufhin in sein Auto gezogen, fährt die Gegend ab, seit Monaten sucht er die Tochter. Seine Frau vegetiert daheim mehr, als dass sie lebt. Pierres Versprechen, dass er die Tochter findet oder zumindest den Kerl, der sie entführt hat, ist ihre letzte lose Verbindung in diese sommerliche Realität.
Doch wo sucht man, wenn alles in Bewegung ist, an Orten, die im Grunde keine sind? Wenn alle nur auf der Durchreise scheinen. „Jedes Jahr sieht er hunderte, tausende, hunderttausende Gesichter“, heißt es über Pascal Folier, der an der Selbstbedienungstheke an einer Raststätte arbeitet, die jeder anderen gleicht. „Nur ihn sieht niemand.“ Wie das richtige Gesicht herausfischen?
Auf mehr als einen Glückstreffer, jenseits aller Wahrscheinlichkeit, wagen sie nicht zu hoffen, Julie Martinez, Capitaine der Gendarmerie, und ihr Untergebener, Lieutenant Thierry Gaspard. Das Mädchen, Marie, kann in jedem Auto sein. Sofern sie sich noch innerhalb des Autobahnsystems befindet. Andernfalls kommt jeder Wald, jedes Dorf, jedes Feld und jeder Weiher in Betracht. Vollsperrung der Autobahn, Helikopter mit Wärmebildkameras, Hundestaffeln, die Polizei hat einen Plan für solch einen Fall. Er läuft ab wie am Schnürchen. Und führt: zu nichts.
„Asphaltdschungel“ ist ein Noir-Krimi, obschon er im gleißenden Sommerlicht spielt. Joseph Incardona hat ihn in einer Welt angesiedelt, von deren Existenz die meisten Menschen wenig oder gar keine Ahnung haben, weil sie glauben, dass zwischen dem Daheim und dem Meer alle Durchreisende sind. Doch es gibt auch so etwas wie Bewohner der Autobahnen, die Betreiber der Raststätten und ihre schlecht bezahlten Angestellten, die Fernfahrer, die Prostituierten auf dem Straßenstrich, Roma aus einer Siedlung, die im Niemandsland zwischen der Autobahn und der ländlichen Behaglichkeit liegt. Und für die gewöhnliche Zivilisation Verlorene wie Pierre Castan, der seine Tochter sucht.
In diesem Milieu gibt es Menschen, die sich einzelne Gesichter merken, auch wenn sie in tausende blicken. Sie sehen Zusammenhänge, der Asphalt ist für sie nicht pure Oberfläche, die Autobahn nicht exterritoriales Gebiet. Nur will von ihnen niemand mit der Polizei zu schaffen haben. Jeder verfolgt seine Agenda. Lange Zeit hilft das dem Täter.
Mit großem erzählerischem Geschick lässt Incardona die Mehrheitsgesellschaft an dieser Parallelwelt vorbeirasen. Seine knappe Sprache und die vielen Szenenwechsel erwecken vor allem zu Beginn des Romans eher Ahnungen als Gewissheiten, vergleichbar den Eindrücken, die ein Blick aus dem Fenster bei hoher Geschwindigkeit einfängt. Am Ende ist jede Vollbremsung vergeblich.
STEFAN FISCHER
Joseph Incardona: Asphaltdschungel. Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow. Lenos Verlag, Basel 2019. 340 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Kraftvoll, obsessiv und erschütternd: Der Roman des Schweizer Schriftstellers Joseph Incardona ist ein Meilenstein des Roman noir und nichts für zarte Seelen." (Martin Schöne, 3sat)