Mit "Asterix und der Greif" legt das Duo Jean-Yves Ferri und Didier Conrad sein fünftes gemeinsames Asterix-Album vor! Diesmal verschlägt es die Gallier ins Barbaricum, weit im wilden Osten.Nach einem verheißungsvollen Traum macht sich Miraculix mit Asterix, Obelix und Idefix auf die Reise ins Land der Sarmaten. Dort wohnt der Schamane Terrine mitsamt seinem Stamm und hat die Hilfe seines alten Freundes bitter nötig!Denn die Römer sind auf dem Vormarsch, um für Cäsar den sagenumwobenen Greif zu fangen, der in dieser Region hausen soll. Zu allem Übel ist in der eisigen Kälte der Taiga auch noch Miraculix' Zaubertrank gefroren und dadurch unbrauchbar geworden...
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Martin Zips widmet dem neuen Asterix-Band eine lange Rezension, in der er den verstorbenen Asterix-Erfindern zunächst seinen Respekt zollt, aber auch seine große Bewunderung für die Leistung ihrer Nachfolger kundtut. Zudem versucht er, den kleinen Rest von Skeptikern zu belehren, die immer noch denken, die Asterix-Bände seien bloß Comic-Heftchen für schnelle Unterhaltung. Mehr denn je gelte für "Asterix und der Greif": Genaue Lektüre lohnt sich, denn nur wer genau hinschaut, so Zips, erkennt die zahlreichen herrlichen Anspielungen - auf frühere Asterix-Bände beispielsweise oder Filmklassiker, vor allem aber auf aktuelle Geschehnisse: Von Corona, über alternative Heilmittel und Verschwörungsmythen bis hin zur digitalen Bubble-Bildung. Derart zahlreich sind die Themen, mit denen die Autoren spielen, dass dem Rezensenten die Geschichte fast ein wenig überladen erscheint, aber nur fast. Und ohnehin verzeiht man den beiden ihre (Über-)ambitionen nur zu gerne, meint Zips - schon allein wegen der wie immer sehr gelungenen Hand-Zeichnungen, und erst recht, wenn das Duo Phänomene wie die Ausbreitung von Fake-News in Krisen-Zeiten mal wieder ganz genau auf den Punkt bringen, so der begeisterte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.2021Ausweitung der Zitatzone
Heute erscheint der neue "Asterix"-Band. Mit von der Partie ist eine antike Figur, die ein modernes Vorbild hat: Michel Houellebecq.
Seit gestern läuft die Buchmesse, und heute erscheint wie als Überlebensversicherung für die ganze Branche der neue "Asterix". Schon vorab steht "Asterix und der Greif", der 39. Band der Serie, als weltweit erfolgreichste Publikation des Jahres fest: Die internationale Startauflage beträgt fünf Millionen Exemplare, mehr als drei allein in Frankreich und Deutschland. Allerdings wird der Löwenanteil hierzulande über Kioske abgesetzt werden, denn da kostet das broschierte Album nur knapp sieben Euro; im Buchhandel werden für die gebundene Ausgabe schon zwölf fällig, und die überformatige limitierte Luxusausgabe (mit Werkstattbericht und Bleistiftvorzeichnungen zu allen Seiten) schlägt gar mit 59 Euro zu Buche, während in Frankreich dafür nur vierzig fällig werden. Dafür gibt es dort noch ein Artbook auf Kunstdruckpapier für 220 Euro. Das Einzige, was man als Verlag (Hachette in Frankreich, Egmont in Deutschland) da noch fürchten muss, ist, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt. Ansonsten wird der Geldzufluss kaum zu stoppen sein.
Das Geschäftsmodell "Asterix" ist also auch nach 62 Jahren noch kein Auslaufmodell. Im Gegenteil: Mit dem Verkauf der Figurenrechte an den französischen Buchkonzern Hachette ist 2008 nicht nur das befürchtete Ende der Serie durch den Tod des damals bereits einundachtzigjährigen Zeichners Albert Uderzo - er starb erst 2020 - vermieden, sondern eben auch das Engagement des Autorenduos Jean-Yves Ferri (Szenario) und Didier Conrad (Zeichnungen) ermöglicht worden, die seit 2013 einen festen zweijährigen Erscheinungsrhythmus etabliert haben. Das ist nicht so dicht wie zu den Glanzzeiten von René Goscinny, der in achtzehn Jahren 24 Alben schrieb, aber allemal besser als unter dem seit 1977 auch textverantwortlichen Uderzo, der für acht Alben 28 Jahre brauchte. Conrad zeichnet zudem, als wäre er Uderzo Redivivus. Und das ist nicht der Name eines römischen Legionärs.
Die heißen im neuen Album Brudercus, Pferdecus, Regengus, Abschiedsgrus, Sagleiseservus oder gar Ausdimaus. Es war schon einmal weniger zwanghaft originell. Aber Ferri ist leider nicht Goscinny Redivivus, obwohl seine Römernamen im französischen Original weitaus weniger bemüht sind als die der deutschen Übersetzung. Ausdimaus heißt bei ihm etwa Jolicursus. Vier Personen bemühten sich um die deutsche Übersetzung - und dann kommt Ausdimaus heraus. Aber das Quartett hat ja nicht einmal bemerkt, dass es einer Figur, einem sarmatischen Käsemacher, bei dessen erstem Auftritt den Namen Margarine verpasst hat, um ihn nur acht Seiten später dann Ötküsine zu nennen.
Besser hat sich das Übersetzerteam bei einem römischen Geographen geschlagen, der im Original Terinconus heißt (terre inconnue ist auf Französisch das unbekannte Land). Diese Figur heißt in der deutschen Ausgabe Globulus. Interessanter als der Name ist aber sowieso ihr Aussehen: In Terinconus/Globulus hat Didier Conrad den Schriftsteller Michel Houellebecq karikierend porträtiert. Cameo-Auftritte französischer Kulturprominenz haben in "Asterix" Tradition; so kamen etwa Jean Gabin, Jean Marais, Lino Ventura, Bernard Blier oder auch Goscinny und Uderzo höchstselbst zu Ehren. Aber eine derart große Rolle, wie sie nun Houellebecq zugestanden wird, konnte zuvor nur ein reales Vorbild, zudem ein Ausländer, nämlich Sean Connery, für sich in Anspruch nehmen: als gallischer Agent Nullnullsix im Band "Die Odyssee".
Was aber prädestiniert Houellebecq für die Rolle eines Geographen? Vor allem natürlich der Titel seines goncourtpreisgekrönten Romans "Karte und Gebiet" (La carte et le territoire, 2010). Aber auch der seines Debütromans "Ausweitung der Kampfzone" von 1994, denn in "Asterix und der Greif" dringen die römischen Legionen in Regionen vor, die nie zuvor ein antiker zivilisierter Mensch gesehen hat, weshalb sie gesammelt als Barbaricum bezeichnet wurden. Natürlich werden Asterix und seine Freunde als Widerstandskämpfer gegen Rom von einem der angegriffenen barbarischen Völker zu Hilfe gerufen, konkret den Sarmaten - als Handlungsort ist damit am ehesten die Ukraine bestimmt, aber aktuelle politische Anspielungen verkneift sich Ferri. Es ist ja bemerkenswert genug, dass es noch kein Album "Asterix in Russland" gab.
Der Greif aus dem Titel ist übrigens ein MacGuffin. Cäsar will das sagenhafte Fabelwesen für seine römischen Zirkusspiele haben, doch der deshalb gen Osten ausgesandte Globulus verfolgt eigene Pläne. Statt des Greifs taucht am Schluss ohnehin etwas ganz anderes auf, das aber keinerlei Konsequenzen fürs Geschehen hat; einmal mehr erzählt Ferri seine Asterix-Geschichten nicht aus. Man fragt sich, warum es überhaupt noch jeweils zwei Jahre bis zum nächsten Album dauert, wenn zum Ende hin immer wieder alles derart überhastet wirkt. Mit einem weiteren Romantitel von Houellebecq könnte man die nunmehr bereits fünf Ferri/Conrad-Alben als Elementarteilchen bezeichnen: kleinstmögliche Materiebausteine mit geringster Anregung auf dem Feld "Asterix". ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heute erscheint der neue "Asterix"-Band. Mit von der Partie ist eine antike Figur, die ein modernes Vorbild hat: Michel Houellebecq.
Seit gestern läuft die Buchmesse, und heute erscheint wie als Überlebensversicherung für die ganze Branche der neue "Asterix". Schon vorab steht "Asterix und der Greif", der 39. Band der Serie, als weltweit erfolgreichste Publikation des Jahres fest: Die internationale Startauflage beträgt fünf Millionen Exemplare, mehr als drei allein in Frankreich und Deutschland. Allerdings wird der Löwenanteil hierzulande über Kioske abgesetzt werden, denn da kostet das broschierte Album nur knapp sieben Euro; im Buchhandel werden für die gebundene Ausgabe schon zwölf fällig, und die überformatige limitierte Luxusausgabe (mit Werkstattbericht und Bleistiftvorzeichnungen zu allen Seiten) schlägt gar mit 59 Euro zu Buche, während in Frankreich dafür nur vierzig fällig werden. Dafür gibt es dort noch ein Artbook auf Kunstdruckpapier für 220 Euro. Das Einzige, was man als Verlag (Hachette in Frankreich, Egmont in Deutschland) da noch fürchten muss, ist, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt. Ansonsten wird der Geldzufluss kaum zu stoppen sein.
Das Geschäftsmodell "Asterix" ist also auch nach 62 Jahren noch kein Auslaufmodell. Im Gegenteil: Mit dem Verkauf der Figurenrechte an den französischen Buchkonzern Hachette ist 2008 nicht nur das befürchtete Ende der Serie durch den Tod des damals bereits einundachtzigjährigen Zeichners Albert Uderzo - er starb erst 2020 - vermieden, sondern eben auch das Engagement des Autorenduos Jean-Yves Ferri (Szenario) und Didier Conrad (Zeichnungen) ermöglicht worden, die seit 2013 einen festen zweijährigen Erscheinungsrhythmus etabliert haben. Das ist nicht so dicht wie zu den Glanzzeiten von René Goscinny, der in achtzehn Jahren 24 Alben schrieb, aber allemal besser als unter dem seit 1977 auch textverantwortlichen Uderzo, der für acht Alben 28 Jahre brauchte. Conrad zeichnet zudem, als wäre er Uderzo Redivivus. Und das ist nicht der Name eines römischen Legionärs.
Die heißen im neuen Album Brudercus, Pferdecus, Regengus, Abschiedsgrus, Sagleiseservus oder gar Ausdimaus. Es war schon einmal weniger zwanghaft originell. Aber Ferri ist leider nicht Goscinny Redivivus, obwohl seine Römernamen im französischen Original weitaus weniger bemüht sind als die der deutschen Übersetzung. Ausdimaus heißt bei ihm etwa Jolicursus. Vier Personen bemühten sich um die deutsche Übersetzung - und dann kommt Ausdimaus heraus. Aber das Quartett hat ja nicht einmal bemerkt, dass es einer Figur, einem sarmatischen Käsemacher, bei dessen erstem Auftritt den Namen Margarine verpasst hat, um ihn nur acht Seiten später dann Ötküsine zu nennen.
Besser hat sich das Übersetzerteam bei einem römischen Geographen geschlagen, der im Original Terinconus heißt (terre inconnue ist auf Französisch das unbekannte Land). Diese Figur heißt in der deutschen Ausgabe Globulus. Interessanter als der Name ist aber sowieso ihr Aussehen: In Terinconus/Globulus hat Didier Conrad den Schriftsteller Michel Houellebecq karikierend porträtiert. Cameo-Auftritte französischer Kulturprominenz haben in "Asterix" Tradition; so kamen etwa Jean Gabin, Jean Marais, Lino Ventura, Bernard Blier oder auch Goscinny und Uderzo höchstselbst zu Ehren. Aber eine derart große Rolle, wie sie nun Houellebecq zugestanden wird, konnte zuvor nur ein reales Vorbild, zudem ein Ausländer, nämlich Sean Connery, für sich in Anspruch nehmen: als gallischer Agent Nullnullsix im Band "Die Odyssee".
Was aber prädestiniert Houellebecq für die Rolle eines Geographen? Vor allem natürlich der Titel seines goncourtpreisgekrönten Romans "Karte und Gebiet" (La carte et le territoire, 2010). Aber auch der seines Debütromans "Ausweitung der Kampfzone" von 1994, denn in "Asterix und der Greif" dringen die römischen Legionen in Regionen vor, die nie zuvor ein antiker zivilisierter Mensch gesehen hat, weshalb sie gesammelt als Barbaricum bezeichnet wurden. Natürlich werden Asterix und seine Freunde als Widerstandskämpfer gegen Rom von einem der angegriffenen barbarischen Völker zu Hilfe gerufen, konkret den Sarmaten - als Handlungsort ist damit am ehesten die Ukraine bestimmt, aber aktuelle politische Anspielungen verkneift sich Ferri. Es ist ja bemerkenswert genug, dass es noch kein Album "Asterix in Russland" gab.
Der Greif aus dem Titel ist übrigens ein MacGuffin. Cäsar will das sagenhafte Fabelwesen für seine römischen Zirkusspiele haben, doch der deshalb gen Osten ausgesandte Globulus verfolgt eigene Pläne. Statt des Greifs taucht am Schluss ohnehin etwas ganz anderes auf, das aber keinerlei Konsequenzen fürs Geschehen hat; einmal mehr erzählt Ferri seine Asterix-Geschichten nicht aus. Man fragt sich, warum es überhaupt noch jeweils zwei Jahre bis zum nächsten Album dauert, wenn zum Ende hin immer wieder alles derart überhastet wirkt. Mit einem weiteren Romantitel von Houellebecq könnte man die nunmehr bereits fünf Ferri/Conrad-Alben als Elementarteilchen bezeichnen: kleinstmögliche Materiebausteine mit geringster Anregung auf dem Feld "Asterix". ANDREAS PLATTHAUS
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Geschencke für den Kopf (Fortsetzung von Seite 21)
Gerhard Matzig
EINE HERAUSFORDERUNG
An „die Weisheit des Alten vom Berge“ fühlt sich die eine Kritik erinnert. Eine andere Rezension vermisst die Aktualität. Herrje. Alexander Demandt ist Mitte achtzig, schon möglich, dass er alt ist. Und ja, er ist Althistoriker und kein Tweet. Trotzdem ist sein Buch voller Weltwissen über das kulturelle und territoriale Wesen der Grenze zwischen Sehnsucht und Schutzversprechen, vom Limes über die chinesische Mauer bis zu Paneuropa, eine einzigartig anregende Grenzerfahrung.
Alexander Demandt: Grenzen. Propyläen Verlag. 656 Seiten, 28 Euro.
EINE HILFE
Wir alle sind Reisende, die nicht reisen können. Der nächste Lockdown steht vor der Tür. Wie die nächste Welle, die dem Fernweh entgegenbrandet. Der Architekturkritiker Wojciech Czaja hat was gegen die Stubenhockerei erfunden: ein Bilderbuch, das im Vertrauten, also in Wien, das Fremde entdeckt. Also die Welt. Es ist das Buch der Stunde.
Wojciech Czaja: Almost. Edition Korres-pondenzen. 232 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Raider ist Twix und Facebook ist Meta. Die Plattform wird ein digitales Paralleluniversum. Als Avatare machen wir alles darin: shoppen, lieben, sterben. Bitte die Prophezeiung „Snow Crash“ von Neal Stephenson aus dem Jahr 1992 erneut lesen. Durchatmen, Facebook abmelden. Meta ist eine Metastase.
Neal Stephenson: Snow Crash. Fischer Tor. 576 Seiten, 16,99 Euro.
Egbert Tholl
EIN GROSSER SPASS
Vielleicht ist „Spaß“ das falsche Wort, aber eine große Freude war es schon, als The Notwist in diesem Jahr nach sechs Jahren wieder ein Studioalbum herausbrachten. „Vertigo Days“ ist so vielschichtig wie zugänglich, ganz viele Gäste machen mit, und das Ergebnis wirkt, als hänge man in seinem Zuhause eine Kette bunter Lampions auf. Die schaukeln dann sanft vor sich hin, und während man ihnen zuschaut, wird man leicht und froh.
The Notwist: Vertigo Days. Morr Music.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses Leben kann man nicht erfinden, man muss es gelebt haben. Leopold Tyrmand wurde 1920 in eine assimilierte jüdische Familie in Warschau hineingeboren, ging 1939 in den Widerstand nach Wilna, geriet in sowjetische Gefangenschaft, floh, besorgte sich einen französischen Pass und meldete sich – im Auge des Sturms ist es am sichersten – zum „Arbeitseinsatz im Reich“. 1943 wurde er Kellner im Parkhotel in Frankfurt am Main, und diese Zeit schrieb Tyrmand auf, in seinem herrlichen Roman „Filip“, 60 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Filip, der vermeintliche Franzose, haut die Nazibonzen übers Ohr, handelt mit Lebensmittelmarken, bezirzt mit ganz viel tiefem Herzeleid die Fräuleins, strotzt vor Überlebenswillen. Filip liebt Jazz – nach dem Krieg gründete Tyrmand den ersten Jazzclub Polens. Kein Buch beschreibt Deutschland im Krieg so wie dieses, ein Aberwitz, rasant, grandios.
Leopold Tyrmand: Filip. Frankfurter
Verlagsanstalt. 632 Seiten, 24 Euro.
Christine Dössel
EIN LIEBESBEWEIS
Klaus Pohl war dabei, als Peter Zadek 1999 „Hamlet“ inszenierte. Er spielte den Horatio und schrieb mit, was sich während der turbulenten Proben ereignete. Saufgelage, Wutausbrüche, Eitelkeiten. Angela Winklers Fluchtversuche vor der übergroßen Titelrolle; Zadeks Anstrengungen, sie zurückzuholen. Ein Buch des real gelebten Theaterwahnsinns, vor allem aber: der Theaterliebe. Eine Hommage auch an die Kollegen (viele davon tot). In der heimlichen Hauptrolle: der süffisante Ulrich Wildgruber, besetzt als Polonius – es war seine letzte Rolle vor seinem Freitod noch im selben Jahr. Pure Lesefreude. Und wehes Leseglück.
Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein. Galiani. 286 Seiten, 23 Euro. Und als ungekürzte Autorenlesung auf CD.
EINE HERAUSFORDERUNG
Etwas für Theater-Nerds und Fans der Berliner Volksbühne – zumindest jener Ära, als Frank Castorf dort Intendant und Carl Hegemann Dramaturg und Begleitwortmusiker war: eine Sammlung von Hegemann-Texten (Essays, Nachrufe, Kommentare, Gespräche) aus den letzten 15 Jahren, die weit über das Theater hinausführen zu einer „Dramaturgie des Daseins“. Es geht um Schiller und Hölderlin, Wagner und Schlingensief, Marx und Materialismus, aber auch um Genuss, Liebe und Tod. Hegemann ist ein geistiger Lebemann.
Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live. Alexander Verlag. 445 Seiten, 33 Euro.
Martina Knoben
EINE HERAUSFORDERUNG
Einen „grafischen Essay“ nennt Anke Feuchtenberger ihr großformatiges Heft „Der Spalt“. Eine Erzählung in Bildern, in der Form eines Briefs an ihr „Kindeskind“, über das Leben als Frau, Mutter und Großmutter, in Corona-Zeiten, mit einem Hund. In ihren Kohlezeichnungen wurde das Licht buchstäblich freigekratzt. Das Werk einer großen Malerin. Anke Feuchtenberger: Der Spalt. Villa Stuck. 36 Seiten, 18 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Mit „Asterix und der Greif“ hat sich Didier Conrad endgültig vom Asterix-Übervater Albert Uderzo emanzipiert. Er bleibt dessen Stil treu, aber mit starker eigener Handschrift. Conrads Zeichnungen sind actionreicher, die Porträts realistischer. Und die Schneelandschaften im neuem Band ohnehin ein großer Genuss. Jean-Yves Ferri, Didier Conrad: Asterix und der Greif. Egmont Ehapa. 48 Seiten, 6,90 Euro / geb. 12 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„… und plötzlich standen wir auf einem Gipfel von der Größe eines Küchentisches und klammerten uns an die aus dem Schnee ragenden Eisenstangen des Gipfelkreuzes, starr vor Angst und begeistert zugleich“. Warum Menschen auf Berge steigen, obwohl es anstrengend, öde, manchmal lebensgefährlich und fast immer vollkommen nutzlos ist, lässt sich in „Berge im Kopf“, einem Klassiker des Nature Writing von Robert Macfarlane, nachlesen.
Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Matthes & Seitz. 318 Seiten, 34 Euro.
Claudia Tieschky
EIN GROSSER SPASS
Manches am Sound der französischen Band La Femme erinnert an die Coolness der Zeit, als Element of Crime noch englisch sangen; dazu mischen sie kreuz und quer quietschbunte France-Gall-Aufgedrehtheit, Synthesizer, Trompeten, ungesüßte Texte. Verleitet eindeutig zu Bewegung.
La Femme: Paradigmes. Disque Pointu.
EINE HERAUSFORDERUNG
Adelheid Duvanel starb in einer Julinacht 1996 durch Unterkühlung im Wald bei Basel im Alter von sechzig Jahren. In ihrem Leben war sie von absurd vielen Katastrophen heimgesucht worden, als Teenager landete sie in der Psychiatrie, sie führte eine Ehe mit einem Maler, für den sie das eigene Malen aufgab, ihr Kind wurde drogenabhängig und aidskrank. Was sie hinterlassen hat, ist ein absolut makelloses eigenständiges Universum aus kurzen Texten: Mit präziser Sprache gemalte Szenen, heiter und manchmal ironisch erzählt, die still eskalieren, bis sich überwältigende Weltverlorenheit auftut. Das müsste abstoßen, weil man ja merkt, dass hier nichts mehr lovely wird. Aber immer überwiegt das faszinierend Unerwartete in den Geschichten der beunruhigenden Erzählerin Adelheid Duvanel, und man kann nicht genug davon bekommen. Jetzt liegen alle ihre Erzählungen in einem Band vor. Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Limmat Verlag. 792 Seiten, 39 Euro.
Marie Schmidt
EINE HERAUSFORDERUNG
Eine Sechzehnjährige, ihre nur um genau 16 Jahre ältere Mutter, Konkurrenz, Liebe, Ablösung, das ganze ödipale Drama – oder wie man das nennt, wenn Männer und Väter nur als nette, hilflose Randfiguren mitspielen. Dazu die in einer schwarzen Familie aus Brooklyn auch materiell schmerzhafte Frage: Was haben wir eigentlich zu vererben? Jacqueline Woodsons „Alles glänzt“ ist ein Roman, hart wie ein Diamant, rhythmisch, berührend, nicht aus dem Kopf zu kriegen. Jacqueline Woodson: Alles glänzt. Piper. 208 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Man kann die Bücher des britischen Psychoanalytikers Adam Phillips schon auch als Ratgeber lesen. Vor allem hat er aber die ganze Weltliteratur im Rücken. Im deutschen Sprachraum gibt es eine Essayistik wie seine nicht. Dieses Jahr hat er ein Bändchen herausgebracht über ein gerade jetzt persönlich und politisch heikles Projekt: „On Wanting to Change“. Kann man sich (oder andere) überhaupt ändern? Will man? Die Fortsetzung heißt „On Getting Better“. Fürs nächste Jahr. Adam Phillips: On Wanting to Change. On Getting Better. Penguin. 160/176 S., 7,98/6,99 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Die Zeile des Jahres: „How you lemonade all your sadness when you openin’ up?“ So die Rapperin Noname aus Chicago über das Gefühl beim Nachrichtenlesen. Optimistisch bleiben: schwierig. Wir bleiben dran. Noname: Rainforest. Single. Noname Publishing.
Kurt Kister
EIN GROSSER SPASS
Was Camilleris Commissario Montalbano für Sizilien ist, ist Hauptkommissar Kostas Charitos für die Athener Mordkommission. Sein Schöpfer Petros Markaris schreibt hinreißend. Mit jedem neuen Charitos-Roman versteht man das heutige Griechenland besser. Im jüngsten Fall geht es um einen toten, reichen Saudi, um linke Protestierer und um das Geld der anderen.
Petros Markaris: Das Lied des Geldes. Diogenes Verlag. 310 Seiten, 24 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Pianist Igor Levit macht keine halben Sachen. Sein jüngstes Werk, ambitioniert, geglückt: Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen sowie die „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson. Schostakowitsch ist sowieso heilig; Stevenson fast der helle Wahnsinn. Dreieinhalb Stunden großartigste Klaviermusik. Igor Levit: On DSCH. 3 CDs. Sony Classical.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Ein einziges Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dann Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“ lesen. Jetzt gibt es noch eines, neu übersetzt. Es ist auch von Grossman und heißt „Stalingrad“. Der Name sagt alles, und das Buch sagt auf sehr vielen Seiten, manchmal pathetisch, warum diese Schlacht auf ewig mehr sein wird als nur Geschichte. 1952 ist „Stalingrad“ sehr zensiert auf Russisch erschienen; 70 Jahre später gibt es das rekonstruierte Meisterwerk auf Deutsch. Wassili Grossman: Stalingrad. Claassen Verlag. 1280 Seiten, 35 Euro.
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Die Ausstellung ist mittlerweile von Aachen nach London fortgezogen, aber den Katalog gibt es noch, „Dürer war hier“, ein Pracht- und Monumentalband, der die Reise des Malers 1520/21 in die Niederlande dokumentiert. Dürer wird gefeiert, aber er ist auf der Arbeit, malt, zeichnet, schreibt und sammelt Gesichter, Haare, Mützen, Gewandfalten für die Ewigkeit. Peter van den Brink: Dürer war hier. Michael Imhof Verlag. 680 Seiten, 49,95 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Peter Jackson („Der Herr der Ringe“), hat 60 Stunden Filmmaterial der
Beatles von 1969 gesichtet und zu einer Dokumentation geschnitten. Nach 52 Jahren sind sie wieder da, unfassbar jung. Sie albern herum, zanken sich, machen begeistert Musik, obwohl es die letzten Aufnahmen sind, die vor der Trennung entstehen. Hier sind die vier wieder zusammen, die Götter des 20. Jahrhunderts. Für alle Menschen reinen Herzens: ein Geschenk.
The Beatles. Get Back. Regie: Peter Jackson. Drei Folgen, insgesamt sechs Stunden. Disney+.
Catrin Lorch
EINE HILFE
Kai Althoff gehört zu den bedeutendsten Malern überhaupt. Dass er immer noch nur in der Szene wirklich berühmt ist, wird sich so lange nicht ändern, wie er seine Gemälde und Zeichnungen in seltenen komplizierten Ausstellungsinstallationen mehr versteckt denn herzeigt. So ein Projekt war „Kai Althoff goes with Bernard Leach“ in der Londoner Whitechapel Gallery. Wobei diese Schau nicht nur zur Retrospektive gereicht hätte, sondern auch zum Trost im ersten Corona-Winter – wäre sie nicht im Lockdown verschwunden. Es ist zu hoffen, dass sich eine weitere Station findet, zum Glück ist gerade der elegante, in kupferrosa Leinen gebundene großformatige Katalog erschienen.
Kai Althoff Goes With Bernard Leach: With Forms and Templates for Effective Practice. Whitechapel Gallery. 100 Seiten, 70,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dass die amerikanische Musikerin Alice Coltrane mit einem neuen Glauben auch eine neue Musikrichtung annahm – nämlich den spirituellen Jazz –, wurde lange eher belächelt. Nun hat ihr Sohn Ravi eine Aufnahme wiederentdeckt, bei der sie in Sanskrit singt und sich selbst an der Wurlitzer-Orgel begleitet. Weswegen „Turiya Sings“ so einsam, so heilend und so eigenartig klingt, dass man am liebsten mitsummen würde, auf Sanskrit.
Alice Coltrane: Kirtan: Turiya Sings. Impulse!/Universal.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gerhard Matzig
EINE HERAUSFORDERUNG
An „die Weisheit des Alten vom Berge“ fühlt sich die eine Kritik erinnert. Eine andere Rezension vermisst die Aktualität. Herrje. Alexander Demandt ist Mitte achtzig, schon möglich, dass er alt ist. Und ja, er ist Althistoriker und kein Tweet. Trotzdem ist sein Buch voller Weltwissen über das kulturelle und territoriale Wesen der Grenze zwischen Sehnsucht und Schutzversprechen, vom Limes über die chinesische Mauer bis zu Paneuropa, eine einzigartig anregende Grenzerfahrung.
Alexander Demandt: Grenzen. Propyläen Verlag. 656 Seiten, 28 Euro.
EINE HILFE
Wir alle sind Reisende, die nicht reisen können. Der nächste Lockdown steht vor der Tür. Wie die nächste Welle, die dem Fernweh entgegenbrandet. Der Architekturkritiker Wojciech Czaja hat was gegen die Stubenhockerei erfunden: ein Bilderbuch, das im Vertrauten, also in Wien, das Fremde entdeckt. Also die Welt. Es ist das Buch der Stunde.
Wojciech Czaja: Almost. Edition Korres-pondenzen. 232 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Raider ist Twix und Facebook ist Meta. Die Plattform wird ein digitales Paralleluniversum. Als Avatare machen wir alles darin: shoppen, lieben, sterben. Bitte die Prophezeiung „Snow Crash“ von Neal Stephenson aus dem Jahr 1992 erneut lesen. Durchatmen, Facebook abmelden. Meta ist eine Metastase.
Neal Stephenson: Snow Crash. Fischer Tor. 576 Seiten, 16,99 Euro.
Egbert Tholl
EIN GROSSER SPASS
Vielleicht ist „Spaß“ das falsche Wort, aber eine große Freude war es schon, als The Notwist in diesem Jahr nach sechs Jahren wieder ein Studioalbum herausbrachten. „Vertigo Days“ ist so vielschichtig wie zugänglich, ganz viele Gäste machen mit, und das Ergebnis wirkt, als hänge man in seinem Zuhause eine Kette bunter Lampions auf. Die schaukeln dann sanft vor sich hin, und während man ihnen zuschaut, wird man leicht und froh.
The Notwist: Vertigo Days. Morr Music.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses Leben kann man nicht erfinden, man muss es gelebt haben. Leopold Tyrmand wurde 1920 in eine assimilierte jüdische Familie in Warschau hineingeboren, ging 1939 in den Widerstand nach Wilna, geriet in sowjetische Gefangenschaft, floh, besorgte sich einen französischen Pass und meldete sich – im Auge des Sturms ist es am sichersten – zum „Arbeitseinsatz im Reich“. 1943 wurde er Kellner im Parkhotel in Frankfurt am Main, und diese Zeit schrieb Tyrmand auf, in seinem herrlichen Roman „Filip“, 60 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Filip, der vermeintliche Franzose, haut die Nazibonzen übers Ohr, handelt mit Lebensmittelmarken, bezirzt mit ganz viel tiefem Herzeleid die Fräuleins, strotzt vor Überlebenswillen. Filip liebt Jazz – nach dem Krieg gründete Tyrmand den ersten Jazzclub Polens. Kein Buch beschreibt Deutschland im Krieg so wie dieses, ein Aberwitz, rasant, grandios.
Leopold Tyrmand: Filip. Frankfurter
Verlagsanstalt. 632 Seiten, 24 Euro.
Christine Dössel
EIN LIEBESBEWEIS
Klaus Pohl war dabei, als Peter Zadek 1999 „Hamlet“ inszenierte. Er spielte den Horatio und schrieb mit, was sich während der turbulenten Proben ereignete. Saufgelage, Wutausbrüche, Eitelkeiten. Angela Winklers Fluchtversuche vor der übergroßen Titelrolle; Zadeks Anstrengungen, sie zurückzuholen. Ein Buch des real gelebten Theaterwahnsinns, vor allem aber: der Theaterliebe. Eine Hommage auch an die Kollegen (viele davon tot). In der heimlichen Hauptrolle: der süffisante Ulrich Wildgruber, besetzt als Polonius – es war seine letzte Rolle vor seinem Freitod noch im selben Jahr. Pure Lesefreude. Und wehes Leseglück.
Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein. Galiani. 286 Seiten, 23 Euro. Und als ungekürzte Autorenlesung auf CD.
EINE HERAUSFORDERUNG
Etwas für Theater-Nerds und Fans der Berliner Volksbühne – zumindest jener Ära, als Frank Castorf dort Intendant und Carl Hegemann Dramaturg und Begleitwortmusiker war: eine Sammlung von Hegemann-Texten (Essays, Nachrufe, Kommentare, Gespräche) aus den letzten 15 Jahren, die weit über das Theater hinausführen zu einer „Dramaturgie des Daseins“. Es geht um Schiller und Hölderlin, Wagner und Schlingensief, Marx und Materialismus, aber auch um Genuss, Liebe und Tod. Hegemann ist ein geistiger Lebemann.
Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live. Alexander Verlag. 445 Seiten, 33 Euro.
Martina Knoben
EINE HERAUSFORDERUNG
Einen „grafischen Essay“ nennt Anke Feuchtenberger ihr großformatiges Heft „Der Spalt“. Eine Erzählung in Bildern, in der Form eines Briefs an ihr „Kindeskind“, über das Leben als Frau, Mutter und Großmutter, in Corona-Zeiten, mit einem Hund. In ihren Kohlezeichnungen wurde das Licht buchstäblich freigekratzt. Das Werk einer großen Malerin. Anke Feuchtenberger: Der Spalt. Villa Stuck. 36 Seiten, 18 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Mit „Asterix und der Greif“ hat sich Didier Conrad endgültig vom Asterix-Übervater Albert Uderzo emanzipiert. Er bleibt dessen Stil treu, aber mit starker eigener Handschrift. Conrads Zeichnungen sind actionreicher, die Porträts realistischer. Und die Schneelandschaften im neuem Band ohnehin ein großer Genuss. Jean-Yves Ferri, Didier Conrad: Asterix und der Greif. Egmont Ehapa. 48 Seiten, 6,90 Euro / geb. 12 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
„… und plötzlich standen wir auf einem Gipfel von der Größe eines Küchentisches und klammerten uns an die aus dem Schnee ragenden Eisenstangen des Gipfelkreuzes, starr vor Angst und begeistert zugleich“. Warum Menschen auf Berge steigen, obwohl es anstrengend, öde, manchmal lebensgefährlich und fast immer vollkommen nutzlos ist, lässt sich in „Berge im Kopf“, einem Klassiker des Nature Writing von Robert Macfarlane, nachlesen.
Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Matthes & Seitz. 318 Seiten, 34 Euro.
Claudia Tieschky
EIN GROSSER SPASS
Manches am Sound der französischen Band La Femme erinnert an die Coolness der Zeit, als Element of Crime noch englisch sangen; dazu mischen sie kreuz und quer quietschbunte France-Gall-Aufgedrehtheit, Synthesizer, Trompeten, ungesüßte Texte. Verleitet eindeutig zu Bewegung.
La Femme: Paradigmes. Disque Pointu.
EINE HERAUSFORDERUNG
Adelheid Duvanel starb in einer Julinacht 1996 durch Unterkühlung im Wald bei Basel im Alter von sechzig Jahren. In ihrem Leben war sie von absurd vielen Katastrophen heimgesucht worden, als Teenager landete sie in der Psychiatrie, sie führte eine Ehe mit einem Maler, für den sie das eigene Malen aufgab, ihr Kind wurde drogenabhängig und aidskrank. Was sie hinterlassen hat, ist ein absolut makelloses eigenständiges Universum aus kurzen Texten: Mit präziser Sprache gemalte Szenen, heiter und manchmal ironisch erzählt, die still eskalieren, bis sich überwältigende Weltverlorenheit auftut. Das müsste abstoßen, weil man ja merkt, dass hier nichts mehr lovely wird. Aber immer überwiegt das faszinierend Unerwartete in den Geschichten der beunruhigenden Erzählerin Adelheid Duvanel, und man kann nicht genug davon bekommen. Jetzt liegen alle ihre Erzählungen in einem Band vor. Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Limmat Verlag. 792 Seiten, 39 Euro.
Marie Schmidt
EINE HERAUSFORDERUNG
Eine Sechzehnjährige, ihre nur um genau 16 Jahre ältere Mutter, Konkurrenz, Liebe, Ablösung, das ganze ödipale Drama – oder wie man das nennt, wenn Männer und Väter nur als nette, hilflose Randfiguren mitspielen. Dazu die in einer schwarzen Familie aus Brooklyn auch materiell schmerzhafte Frage: Was haben wir eigentlich zu vererben? Jacqueline Woodsons „Alles glänzt“ ist ein Roman, hart wie ein Diamant, rhythmisch, berührend, nicht aus dem Kopf zu kriegen. Jacqueline Woodson: Alles glänzt. Piper. 208 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Man kann die Bücher des britischen Psychoanalytikers Adam Phillips schon auch als Ratgeber lesen. Vor allem hat er aber die ganze Weltliteratur im Rücken. Im deutschen Sprachraum gibt es eine Essayistik wie seine nicht. Dieses Jahr hat er ein Bändchen herausgebracht über ein gerade jetzt persönlich und politisch heikles Projekt: „On Wanting to Change“. Kann man sich (oder andere) überhaupt ändern? Will man? Die Fortsetzung heißt „On Getting Better“. Fürs nächste Jahr. Adam Phillips: On Wanting to Change. On Getting Better. Penguin. 160/176 S., 7,98/6,99 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Die Zeile des Jahres: „How you lemonade all your sadness when you openin’ up?“ So die Rapperin Noname aus Chicago über das Gefühl beim Nachrichtenlesen. Optimistisch bleiben: schwierig. Wir bleiben dran. Noname: Rainforest. Single. Noname Publishing.
Kurt Kister
EIN GROSSER SPASS
Was Camilleris Commissario Montalbano für Sizilien ist, ist Hauptkommissar Kostas Charitos für die Athener Mordkommission. Sein Schöpfer Petros Markaris schreibt hinreißend. Mit jedem neuen Charitos-Roman versteht man das heutige Griechenland besser. Im jüngsten Fall geht es um einen toten, reichen Saudi, um linke Protestierer und um das Geld der anderen.
Petros Markaris: Das Lied des Geldes. Diogenes Verlag. 310 Seiten, 24 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Pianist Igor Levit macht keine halben Sachen. Sein jüngstes Werk, ambitioniert, geglückt: Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen sowie die „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson. Schostakowitsch ist sowieso heilig; Stevenson fast der helle Wahnsinn. Dreieinhalb Stunden großartigste Klaviermusik. Igor Levit: On DSCH. 3 CDs. Sony Classical.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Ein einziges Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dann Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“ lesen. Jetzt gibt es noch eines, neu übersetzt. Es ist auch von Grossman und heißt „Stalingrad“. Der Name sagt alles, und das Buch sagt auf sehr vielen Seiten, manchmal pathetisch, warum diese Schlacht auf ewig mehr sein wird als nur Geschichte. 1952 ist „Stalingrad“ sehr zensiert auf Russisch erschienen; 70 Jahre später gibt es das rekonstruierte Meisterwerk auf Deutsch. Wassili Grossman: Stalingrad. Claassen Verlag. 1280 Seiten, 35 Euro.
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Die Ausstellung ist mittlerweile von Aachen nach London fortgezogen, aber den Katalog gibt es noch, „Dürer war hier“, ein Pracht- und Monumentalband, der die Reise des Malers 1520/21 in die Niederlande dokumentiert. Dürer wird gefeiert, aber er ist auf der Arbeit, malt, zeichnet, schreibt und sammelt Gesichter, Haare, Mützen, Gewandfalten für die Ewigkeit. Peter van den Brink: Dürer war hier. Michael Imhof Verlag. 680 Seiten, 49,95 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Peter Jackson („Der Herr der Ringe“), hat 60 Stunden Filmmaterial der
Beatles von 1969 gesichtet und zu einer Dokumentation geschnitten. Nach 52 Jahren sind sie wieder da, unfassbar jung. Sie albern herum, zanken sich, machen begeistert Musik, obwohl es die letzten Aufnahmen sind, die vor der Trennung entstehen. Hier sind die vier wieder zusammen, die Götter des 20. Jahrhunderts. Für alle Menschen reinen Herzens: ein Geschenk.
The Beatles. Get Back. Regie: Peter Jackson. Drei Folgen, insgesamt sechs Stunden. Disney+.
Catrin Lorch
EINE HILFE
Kai Althoff gehört zu den bedeutendsten Malern überhaupt. Dass er immer noch nur in der Szene wirklich berühmt ist, wird sich so lange nicht ändern, wie er seine Gemälde und Zeichnungen in seltenen komplizierten Ausstellungsinstallationen mehr versteckt denn herzeigt. So ein Projekt war „Kai Althoff goes with Bernard Leach“ in der Londoner Whitechapel Gallery. Wobei diese Schau nicht nur zur Retrospektive gereicht hätte, sondern auch zum Trost im ersten Corona-Winter – wäre sie nicht im Lockdown verschwunden. Es ist zu hoffen, dass sich eine weitere Station findet, zum Glück ist gerade der elegante, in kupferrosa Leinen gebundene großformatige Katalog erschienen.
Kai Althoff Goes With Bernard Leach: With Forms and Templates for Effective Practice. Whitechapel Gallery. 100 Seiten, 70,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dass die amerikanische Musikerin Alice Coltrane mit einem neuen Glauben auch eine neue Musikrichtung annahm – nämlich den spirituellen Jazz –, wurde lange eher belächelt. Nun hat ihr Sohn Ravi eine Aufnahme wiederentdeckt, bei der sie in Sanskrit singt und sich selbst an der Wurlitzer-Orgel begleitet. Weswegen „Turiya Sings“ so einsam, so heilend und so eigenartig klingt, dass man am liebsten mitsummen würde, auf Sanskrit.
Alice Coltrane: Kirtan: Turiya Sings. Impulse!/Universal.
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