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Den Sprung von der Gefängnismauer in die Freiheit bezahlt Anne mit einem Bruch des Sprungbeins, des Astragalus. Verletzt schleppt sich die Neunzehnjährige an den Straßenrand und wird dort von Julien aufgelesen. Beide erkennen im anderen die eigene Lebenswelt, die Welt des Knastes, der Kleinkriminalität und verlieben sich: zwei Menschen, unbedingt in ihrem Drang nach Freiheit und zugleich existentiell angewiesen auf die Nähe und den Halt des anderen. Als "L'Astragale" 1965 in Frankreich erschien, sorgte es für eine Sensation: "Zum ersten Mal spricht eine Frau über ihre Gefängnisse", schrieb…mehr

Produktbeschreibung
Den Sprung von der Gefängnismauer in die Freiheit bezahlt Anne mit einem Bruch des Sprungbeins, des Astragalus. Verletzt schleppt sich die Neunzehnjährige an den Straßenrand und wird dort von Julien aufgelesen. Beide erkennen im anderen die eigene Lebenswelt, die Welt des Knastes, der Kleinkriminalität und verlieben sich: zwei Menschen, unbedingt in ihrem Drang nach Freiheit und zugleich existentiell angewiesen auf die Nähe und den Halt des anderen. Als "L'Astragale" 1965 in Frankreich erschien, sorgte es für eine Sensation: "Zum ersten Mal spricht eine Frau über ihre Gefängnisse", schrieb Simone de Beauvoir. Fünfzig Jahre später gilt es, diesen Text in neuer Übersetzung wieder zu entdecken, seine Kraft und seine rauhe Poesie.
Autorenporträt
Albertine Sarrazin wurde 1937 geboren. Sie wächst zunächst als Adoptivkind in einem bürgerlichen Elternhaus auf. Doch die Eltern distanzieren sich von ihr, als sie ins Teenager Alter kommt. Die folgenden Jahre verbringt sie in Besserungsanstalten. Am Tag der Abschlussprüfung schlägt sie sich nach Paris durch. Ein Raubüberfall bringt sie ins Gefängnis. Mit 19 gelingt ihr die Flucht und sie lernt ihren Mann Julien kennen.1964 schreibt sie L'Astragale und wird, von Simone de Beauvoir entdeckt, schlagartig berühmt. Sie wird nur 29 Jahre alt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013

Leben auf
dem Sprung
Wieder zu entdecken: Albertine
Sarrazins Roman „Astragalus“
Dies ist die Geschichte einer jungen Frau, die immerzu los muss. Um aus engen Räumen zu fliehen, auf eigenen Füßen zu stehen, folgt die Ausreißerin namens Anne einem Fluchttrieb, der sie seit ihrer Kindheit begleitet. Stets sprungbereit, auch wenn es nur darum geht, die Grenzen der Tage und der Gefühle zu überspringen, ist sie auf gesunde Beine und Gelenke angewiesen.
  Doch beim Sprung von einer hohen Gefängnismauer, bricht sich die zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilte Diebin das Sprungbein, den Astragalus. Von der Straße aufgelesen und in wechselnden Verstecken untergebracht, wird sie von Julien, der auch ein Filou ist und der Anne, die zur Rettung ihres Beins der chirurgischen Eingriffe bedarf, fortan durchbringt – mit dem Erlös seiner Einbrüche. Außer, er sitzt gerade mal wieder selbst im Knast; dann geht Anne, wie früher, auf den Strich, wenn auch humpelnd.
  Der „Amour fou“ von Anne und Lucien wäre ein glücklicher Ausgang beschieden, träte am Ende nicht doch wieder die Polizei auf den Plan und sorgte für den Abriss dieser Geschichte, die an einen der 16mm-Schwarzweißfilme des frühen Godard erinnert. Erzählt wird in einem kraftvollen Argot, der so viel Rhythmus und Melodie transportiert, dass die ihrerseits legendäre Rock’n’Roll-Poetin Patti Smith zur ebenso flüssigen wie flotten deutschen Neuübersetzung dieses Kultromans aus den sechziger Jahren ein persönliches Nachwort beisteuerte, in dem sie sich zu Albertine Sarrazin als ihrem Vorbild bekennt.
  Wie die beiden anderen, in kurzer Folge ebenfalls Mitte der sechziger Jahre entstandenen Romane „Kassiber“ und „Stufen“, mit denen Albertine Sarrazin weltbekannt wurde, bezieht auch „Astragalus“ seinen Stoff aus dem kurzen Leben dieser Autorin, die 1937 in Algier das grelle Licht und die tiefen Schatten der mediterranen Welt erblickte: Das Findelkind unbekannter Eltern wurde von einem gealterten französischen Militärarzt und dessen Frau adoptiert, aber nie seinen Talenten gemäß gefördert. Von einem Verwandten ihrer Adoptiveltern wurde die Zehnjährige vergewaltigt.
  Dann entledigten sich die Adoptiveltern des trotzig-rebellischen Kindes durch die Zwangseinweisung in eine Erziehungsanstalt, aus der Albertine später entfloh. Sie schlug sich nach Paris durch, lebte von kleinen Diebstählen und ging auf den Strich, kam mit siebzehn Jahren ins Gefängnis. Die Geschichte ihrer Flucht, ihrer Fußverletzung und der Liebe zu ihrem Retter hat sie in „Astragalus“ erzählt. Kindheit und Gefängnisaufenthalte schildert sie in den beiden anderen Romanen. Der deutsche Verlag sollte auch sie wieder zugänglich machen, ebenso das übrige Werk, das diese hochtalentierte Schriftstellerin in Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Essays, Gedichten und Chansons hinterlassen hat.
  Mit angehaltenem Atem liest man in „Astragalus“ die präzisen Schilderungen von Räumen, die unschwer ihre Herkunft aus der Erfahrung verschlossener Zellen zu erkennen geben. Ähnliches gilt für den Röntgenblick, mit dem Sarrazin physische Prozesse und Schmerzempfindungen mit echt lateinischem Pathos schildert: Die von Ironie und Sarkasmus durchsetzte Gabe gründlicher Selbst- und Fremdbeobachtung dürfte eine lange, schmerzhafte Schule erzwungener Passivität durchlaufen haben, um zur Freiheit des literarischen Ausdrucks zu finden. Die Zeit der Gefängnisse schreitet, wie Oscar Wilde am eigenen Leib bemerkte, nicht fort, sie rotiert. Um eine imaginäre Achse rotiert auch der ganz eigene Stil Albertine Sarrazins. Am 10. Juli 1967 erwachte die 29-Jährige nach einer Operation nicht mehr aus der Anästhesie. An einer Stelle von „Astragalus“ hatte sie eine Anästhesie als Sensation des eigenen Sterbens beschrieben.
VOLKER BREIDECKER
  
Albertine Sarrazin: Astragalus. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Verlag Hanser Berlin, Berlin 2013. 232 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2013

Auf der leuchtenden Plattform finden wir uns wieder
Ein wildes Herz: Das Buch "Astragalus" von Albertine Sarrazin erzählt von Schmerzen und dem aufrechten Gang

Grenzenlos ist der Freiheitsdrang der Albertine Sarrazin. Sie haut immer wieder ab, geht stehlen und auf den Strich, stets auf eigene Rechnung, die Quittung sind die Haftstrafen. Im Buch trägt die icherzählende Heroine den Namen Anne, unkaschiert ist sie das Alter Ego Albertines, und ihr zerbrochener Fuß wird zum Zeichen einer wilden Existenz, zum Symbol eben, in dem Sehnsucht und Beschädigung mit unbedingtem Überlebenswillen und samtiger Hingabe verschmelzen. Denn so tief ist ihre Liebe zu Julien, dem Mann, der sie eingesammelt hat auf der nächtlichen Landstraße, mit dem zerschundenen Bein, ihrer "Haxe", die ihr Schicksal bestimmt.

"Der Himmel war mindestens zehn Meter weiter weg", heißt der erste Satz des Buchs "Astragalus", das Albertine Sarrazin im Gefängnis schrieb. Astragalus ist der lateinische Name für das Sprungbein, jenen Knochen, der Bein und Fuß so biegsam verbindet, dass ein Mensch gehen, laufen, wegrennen oder auf Bleistiftabsätzen balancieren kann. Anne ist gerade von der zehn Meter hohen Mauer des Gefängnisses gesprungen, in dem sie eingesperrt war nach einem Raubüberfall; der Sturz zertrümmert den Astragalus. Es ist das Jahr 1957, sie ist neunzehn Jahre alt.

Albertine Sarrazin wurde als Kind einer fünfzehnjährigen Spanierin und eines unbekannten Vaters in Algier geboren, zur Adoption freigegeben, kam sie zu einem französischen Militärarztehepaar; von einem Verwandten wird sie mit zehn Jahren vergewaltigt. Die Adoptiveltern schieben das unzähmbare begabte Mädchen in eine Besserungsanstalt ab. Ihre kriminelle Karriere beginnt und ihr Schreiben gegen das innere Absterben auch, fast die Hälfte ihres kurzen Lebens verbringt sie hinter Gittern, dort entsteht von April bis August 1964 "L'Astragale". Als das Buch 1965 in Frankreich erscheint, beginnt ihr Stern zu leuchten, sie ist auf der Straße des Ruhms; keine Geringere als Simone de Beauvoir hat sich für sie eingesetzt.

Jetzt hat Patti Smith, die Madonna des Rock 'n' Roll und godmother jeglicher Entgrenzung, die sich selbst 1977 bei einem Sturz von der Bühne beinah das Genick gebrochen hätte, ein Nachwort verfasst, das Albertine zu ihrer Leitfigur erklärt: "Die Heilige Albertine mit der Einwegfeder und dem unerschöpflichen Kajal. Ich lebte ganz in ihrer Sphäre." Und es ist schon so, dass es kein Entrinnen gibt vor diesem Buch, vor seiner mutigen Märtyrerin, mit ihren Schmerzen aus Liebe und gebrochenem Knochen. Und dass in "Astragalus" astrum aufgehoben ist, was im Lateinischen ja "Stern" heißt, passt.

Wer nicht mit Anne hinkt, leidet, jubelt, trinkt, raucht und kämpft, der hat kein Herz. Der hat vor allem kein Gespür dafür, was eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, die eine vom Leben Gezeichnete ist, da mit der Sprache anstellt, aus dem Eros der scharfen Beobachtung heraus, bei zugleich blühender Einbildungskraft. Das schwingt auch mit in der schönen Neuübersetzung ins Deutsche von Claudia Steinitz. Der Anästhesiefehler bei einer Nierenoperation macht Albertine, noch keine dreißig Jahre alt und endlich dabei, ihr Leben zu ändern, zum Liebling der Götter, die sie am 10. Juli 1967 holen. Zehn Jahre zuvor, als Annes, also ihr eigener, linker Fuß am Abfaulen war und die Ärzte im Krankenhaus - für die Julien, der selbst dafür stiehlt, bezahlte - die Haxe retteten, war es ihr nach dem Eingriff wie eine "Auferstehung". Noch viel mehr Lebenszeit hätte sie gebraucht, die in Frankreich schon Mitte der Sechziger, nach ihrem Debüt mit "L'Astragal" und einem weiteren Roman "La Cavale", mit Jean Genet verglichen wurde, was ein Stück weit durchaus einleuchtet.

Ganz am Ende von "Astragalus" ist es so weit: Die entflohene Anne wird in Paris aufgespürt von der Polizei, sie muss wieder ins Gefängnis zurück, im ganz echten Leben für weitere drei Jahre. Anne richtet sich an ihren geliebten Julien: "Mach dir bloß keinen Kopf, auf der leuchtenden Plattform finden wir uns wieder. Einer von uns ist noch auf dem unteren Grat, wir müssen abwechselnd klettern und ziehen, das Ausruhen rückt in weite Ferne ... Egal, ich laufe. Vor dem Bullen gehe ich die Treppe hinunter und humpele kaum." Was für eine Botschaft.

Immer kehrt im Buch jenes "Ich laufe ..." wieder, als ein Mantra der Freiheit, so fragil sie auch sein mag. Es gibt ein wunderschönes Gedicht von Albertine Sarrazin, die ihrer Poesie keine Titel oder Satzzeichen gab. Es besingt den Gang durch die Straßen von Paris, und es heißt dort: "Comme alors la reine / Je cours sans souliers / Aux blancs escaliers / Qu'a noyés la Seine." Da ist es wieder, dieses Laufen, ohne hemmende Schuhe, die linke Haxe vergessend in ihrer versteiften Gestalt einer Puppe - einer Königin gleich.

ROSE-MARIA GROPP

Albertine Sarrazin, "Astragalus". Roman.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Mit einem Nachwort von Patti Smith. Hanser Berlin, München 2013. 231 S., geb., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Volker Breidecker bittet den Hanser Verlag inständig, auch die anderen Werke von Albertine Sarrazin wieder zugänglich zu machen, so groß war seine Freude über die Neuübersetzung von des 60er-Jahre-Kultbuchs "Astragalus". Darin erzählt Sarrazin die Geschichte der jungen Diebin Anne, die sich bei ihrer Flucht aus dem Zuchthaus ihr Bein verletzt, sich von einem Einbrecher-Kollegen halbwegs gesund pflegen lässt, bis sie sich gezwungenermaßen humpelnd auf dem Strich durchschlagen muss, fasst der Rezensent zusammen. Breidecker weiß, dass auch Sarrazin als Jugendliche aus einer Erziehungsanstalt floh, wobei sie sich eine ähnliche Verletzung zuzog. Sie musste in Paris auf den Strich gehen und verliebte sich wie Anne in ihren Retter. Der Rezensent meint den präzisen Schilderungen der Autorin anzumerken, auf wie viele eigene Erfahrung sie zurückgreifen konnte, und er vermutet, dass sie durch die "schmerzhafte Schule erzwungener Passivität" gehen musste, um ihre Beobachtungsgabe so grandios zu entwickeln.

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"Ein Text, der sofort Herzklopfen erzeugt beim Lesen. Schon bei den ersten Sätzen ist zu spüren, wie sehr ein verzweifeltes Wesen sich hier das Herz aufreißt und wenigstens ein bisschen liebgehabt und verstanden werden möchte. Eine Kindfrau, furchtlos, von hoher Intelligenz, verwundet und berührend einsam." Annemarie Stoltenberg, NDR Kultur, 09.04.13

"Ein Buch wie einer dieser französischen Gangsterfilme - nur, dass das, was Albertine Sarrazin schreibt, keine erfundene Geschichte ist, sondern ihr Leben." Ulrich Noller, WDR Funkhaus Europa, 01.05.2013