"Wer bist du, wenn du deine Kraft nicht gibst, nicht geben kannst, weil sie an keinem Ort benötigt wird? Was ist, wenn du diese Kraft nicht mehr hast? Was bist du ohne Arbeit wert?"
"Atemhaut" von Iris Blauensteiner hat mich aufgewühlt.
Edins Welt gerät aus den Fugen als er seinen Arbeitsplatz
verliert. Er ist Anfang zwanzig und seit seiner Ausbildung arbeitete er bei einer Packstation. Viel…mehr"Wer bist du, wenn du deine Kraft nicht gibst, nicht geben kannst, weil sie an keinem Ort benötigt wird? Was ist, wenn du diese Kraft nicht mehr hast? Was bist du ohne Arbeit wert?"
"Atemhaut" von Iris Blauensteiner hat mich aufgewühlt.
Edins Welt gerät aus den Fugen als er seinen Arbeitsplatz verliert. Er ist Anfang zwanzig und seit seiner Ausbildung arbeitete er bei einer Packstation. Viel von seiner Identität hing davon ab, dass er sich als zuverlässiger Mitarbeiter sah, jemand auf den man sich verlassen konnte und der gebraucht wurde. All dies wird ihm von einem Tag auf den anderen genommen. Er weiß selbst, dass seine Schnelligkeit, auf die es in seinem Betrieb ankommt auf Grund körperlicher Schmerzen nachgelassen hat, aber die plötzliche Kündigung wirft ihn aus der Bahn.
Nicht nur sein eigenes Selbstwertgefühl leidet darunter, auch die Beziehung zu seiner Freundin Vanessa, mit der er in einer Einzimmerwohnung lebt, bekommt Risse. Sie wurde befördert und Edin hat Angst vor den Veränderungen, die sich dadurch in ihrer Beziehung einstellen werden, vor den Erwartungen, die er vielleicht nicht länger erfüllen kann. Das ruhige Atmen fällt ihm immer schwerer und mehr und mehr wird er zum Gefangenen seiner Gedanken. Immer mehr Wände scheinen vor ihm aufzuragen und sich auch zwischen ihn und Vanessa zu schieben, die an seiner Seite bleiben will. Er zerbricht fast unter dem Druck der Erwartungen, die er selbst und das System an ihn stellen.
Mich hat Blausteiners Sprache von der ersten Seite an eingefangen. Es gelingt ihr gleichzeitig poetisch und realistisch Edins Schicksal einzufangen, das in unserer Gesellschaft so viele ereilt. Jeder Satz trifft es genau auf den Punkt, manche davon haben mir auf Grund ihrer Schönheit Gänsehaut bereitet, und doch klingt die Erzählweise nicht gewollt oder aufgesetzt. Die Kapitalismuskritik ist nie explizit, es gibt keinen erhobenen Zeigefinger. Stattdessen sind wir in jedem Moment nah bei Edin, auch dadurch, dass der Text in der zweiten Person Singular verfasst ist..Die Ansprache mit "du" lässt uns in Edins Haut schlüpfen. Wir erleben seine Spirale aus Ängsten und Unsicherheiten, begleiten ihn auf der Suche nach seiner verlorenen inneren Ruhe. Das ist intensiv und kraftvoll, wirkt lange nach. Eine echte Entdeckung für mich.